Читать книгу Der Große Herr und die Himmlische Frau - Maggi Lidchi-Grassi - Страница 4
III
ОглавлениеEr stieg die Treppe hinauf. Der Drang, sich den Magen zu füllen, war gekommen und gegangen, und jetzt, wo er einen Karton mit Rationen in der Hand hielt, war das braune Butterbrotpapier genug, ihm den Magen umzudrehen. Vielleicht würde Walker ihm etwas zu trinken geben. Das heißt, wenn Walker nicht tot war. Er stand auf dem dunklen Treppenabsatz und schwankte. Er hatte seine eigene Uhr abgegeben und trug nun Impis. Walker hatte gesagt: “Iß.” Aber er wollte nicht essen. Er sah, wie sich vor ihm im Raum jemand bewegte. Er nahm seinen Mut zusammen und ging hinein.
Walker lag auf dem Bett, und seine Stiefel kreuzten sich über einem quastengeschmückten Kissen. Der Helm war tief über die Stirn gezogen und verschattete die Augen.
“Hallo, Kelly”, sagte er finster. “Immer noch am Leben?” John konnte nicht reden. “Das ist gut, Partner. Bleib so, wenn du kannst. Türk hat ‘s erwischt.”
“Ich weiß. Und wie?”
“Der dumme Hund rannte da entlang. Ich versuchte, ihn zu decken ...”
.““Jetzt bin ich reif für den Kognak, Wacky.” Walker langte an der Seite des Bettes hinunter und zog eine Flasche hervor, die mehr als ein Drittel voll war.
John wartete darauf, daß der Alkohol ihn von einem Gewicht befreite. Er machte ihn noch schwerer. Er leerte die Flasche. Er wollte nicht, daß man ihn beobachtete, und wandte sich von Wackys Blick ab, doch nur, um einen anderen Soldaten zu finden, der ihn finster anschaute. Ein elendes Gesicht, das in den Körper irgendeines Soldaten gesenkt war. Er starrte ihn im schwindenden Tageslicht an. Er war es selbst, John Kelly. Er wollte nicht, daß dieses Elend ihn anschaute.
“Kann ich noch etwas haben?”
“Sicher, es gibt jede Menge mehr. Nimm die Flasche auf dem Fensterbrett.” Wacky hielt ihn an der Tür an.
“Kelly?”
“Ja?”
“Es tut mir leid um Impi.” John nickte. Er ging hinunter. Er fand, daß die Küche leer stand, und kroch in den Schatten unter dem Waschbecken. Es war ein kleiner Junge gewesen, der sich das letzte Mal so unter einem Waschbecken in Brooklyn versteckt hatte, als die Dinge schlecht standen. Er leerte die Flasche. Ein Fehler, soviel zu trinken. Es verwandelte ihn in einen Stein. Sein Gesicht fühlte sich schwerer und schwerer an. Er fühlte sich, als würde sein Körper glatt durch die roten Kacheln hindurch nach unten gezogen. Aber genau als das geschah, wurde er emporgeschleudert und fand sich in der Luft schwebend. Impi stand vor ihm, ein lächelnder Impi, dessen Augen ihn voller Zärtlichkeit anblickten und dessen Mantel von kräftiger Cremefarbe und aus irgendeinem wunderbar weichen Material ihn im Wind umflatterte. Sie trieben hinauf und zwischen den Sternen umher. John fand, daß er von Impis Liebe aufgenommen wurde. Seine Lider senkten sich über lächelnden Augen. Hinter dem Stadtkind war er das gewesen. Jetzt begann er aufzusteigen. John versuchte, ihm zu folgen.
“Nein, du hast viel zu tun. Du mußt zurückgehen. Wir haben noch viel Zeit.” Sie hielten sich lange mit den Blicken umfangen, dann verschwand Impi im Nebel. Ein köstlicher Schauer aus Sonnenlicht regnete herab. Er wollte nicht zurückgehen. Er würde hierbleiben und auf Impi warten. Aber die daunenweiche Luft begann, sich zu verhärten und kälter zu werden. Eine rötliche harte Kälte überfiel ihn, während der Regen ihm die Wangen benetzte. Etwas Rötliches tanzte ihm vor den Augen. Es verwandelte sich in den Küchenboden. Tränen tropften ihm auf die Hand. Das Stampfen vorbeigehender Stiefel trommelte die verbleibende Süße aus ihm heraus. Aber die tödliche Bedrücktheit war fort. Sein Körper fühlte sich leicht.
Jetzt würde er etwas essen. Auf dem Flur traf er Blom.
“Hey, Kelly! Ich hab’ dich überall gesucht.”
“Ich war ... da drinnen.”
“Ich hab’ von Impi gehört. Tut mir leid.” Er legte einen Arm um Johns Schulter. Dieser nickte. “Was ist los?”
“Drummond sagt, was dich angeht, der Keller nebenan. Wir werden oben sein. Er will, daß du ihn heute nacht belegst.”
“Klingt ziemlich ruhig.”
“Haben ein paar Blöcke gesäubert und ein paar Krauts getötet”, sagte Blom mit seinem BBC-Akzent. “Alles läuft nach Plan – irgend jemandes Plan.”
John spürte den Drang, Blom etwas zu sagen, ihm zu sagen, daß seine Verpflichtung gegenüber Impi auf sie, auf den Rest des Trupps übergegangen war. Es war etwas, das in ihm aufwallte, aber sich nicht ausdrücken ließ. Er stand da und schwankte leicht vor Hunger und von Impis warmer Umarmung, die ihn noch immer in ihrem Bann hielt. Blom schaute ihn an, wollte etwas sagen und zügelte sich.
John setzte sich auf die unterste Treppenstufe und nahm das Päckchen aus der Tasche. Er aß alles, was eßbar war, die Bohnen, die Kekse, den Schokoladenriegel, den Käse, kaute sie abwechselnd und alle zusammen. Aus dem Raum, von dem Impi geschossen hatte, kamen Stimmen.
Als er halb mit der Mahlzeit fertig war, sagte eine von ihnen, die kultiviert klang, gedehnt: “Weißt du, Peter, das wollte ich schon immer mal tun.” Verhaltenes Lachen.
Dann eine andere: “Los, so wie jetzt wird es kein zweites Mal mehr werden.” Es waren die Offiziere.
“Du meinst, es könnte kein anderes Mal mehr geben?” fragte die erste Stimme. “Das ist wahr, und man würde nicht gerne von der Bühne abtreten, ohne seinen wichtigsten Begehren stattgegeben zu haben. Los geht’s.”
Ein schweres schabendes Geräusch. John hörte auf zu kauen. Man verschob nur die Möbel. Durch die offene Tür sah er, wie der Major ein olivgrünes Samtsofa umrückte. Er ließ es in der Mitte des Zimmers stehen und verschwand. Dann kam er zurückgerannt. Er sprang auf das Sofa und federte senkrecht nach oben, um zwei Arme des großen Kronleuchters zu ergreifen. Ein paar Augenblicke lang schwang er anmutig, und Freude erhellte sein Gesicht.
“Ja!” rief er. “Es ist besser als ...” Der Mund blieb offen. Die Augen schlossen sich fest, und er sprang. Ein ziehendes Geräusch. Dann knallte der Kronleuchter auf das Sofa, während das Glas klirrend zerbrach. Unter viel Schieben und Schlürfen:
“Peter! Peter?”
“Der vollendete Abschluß!” rief der Major glücklich. John nahm den letzten Bissen.
Es wurde jetzt dunkel, obwohl die Explosionen vom anderen Ende der Stadt her einen trüben Glanz verbreiteten. John stand an der Kellertür, unwillig, die dunkle Treppe hinabzusteigen. Wäre Impi hiergewesen, hätte man sie vielleicht zusammen gesandt, wie diesen Morgen. Zum ersten Mal, seit er Impi gesehen hatte, fühlte er sich einsam. Von unten kam ein menschliches Geräusch. Er griff nach einer Handgranate, schob die Tür leicht auf und horchte ... Ein leises Stöhnen. Er rief “Hände hoch!” und gab der Tür einen Tritt. Sie traf die Wand und schlug gegen das Gewehr zurück.
“Monsieur!” piepste eine kindliche Stimme. “C’est un soldat américain.”[8] Die Stimme hallte die Treppe herauf. Er fand sie mit der Taschenlampe.
“Komm hier herauf!” rief er und ließ die Taschenlampe die Stufen klettern. Man würde ihm keine Falle stellen. Ein kleiner engelhafter Junge mit goldenem Haar schaute ihn mit blauen Augen an, die die Dummheit der Menschen gesehen hatten. Er hielt ein weißes Tuch empor, das dunkle Flecken hatte.
“Il est blessé, Monsieur, gravement blessé.”[9] John zögerte. Das Kind konnte gut als Lockvogel für eine Falle dienen.
“Hol mich hier raus”, bettelte eine verzweifelte amerikanische Stimme. Darauf folgte ein Geräusch, als ob sich jemand übergab. Er leuchtete zum unteren Ende der Treppe, sah nichts und folgte dem Kind mit der Pistole in der Hand. Würde er jemals wieder wissen, wem er trauen konnte? Er fragte sich, ob er diese Treppe wieder heraufkommen würde.
Auf dem kalten feuchten Boden lag ein riesiger Soldat. Sein Mantel war offen und ließ einen blutdurchtränkten Pullover sehen. Ein Bauchschuß. Er mußte hier heruntergefallen oder -gekrochen sein, und nun lag er stöhnend in einer Blutlache. Er blickte John mit glasigen Augen an und wandte den Kopf nach links und rechts wie ein Uhrwerk. “Hol ... mich ... hier ... raus!” Der Junge wischte ihm Erbrochenes vom Kinn und Kragen ab. John bezwang sein Entsetzen.
“Wir holen dich hier raus”, krächzte seine Stimme. Er hockte sich nieder, und die Enden seines Mantels schleiften durch das Blut. “Du wirst im Nu hier raus sein, Kumpel. Halt durch.”
“Danke, Kumpel.” Der Verwundete ließ ein furchtbares gedehntes Stöhnen hören und sagte noch einmal: “Daaanke.”
“Ich hole eine Bahre.” Diese Worte ließen den Verwundeten verzweifelt den Kopf hin- und herwerfen. “Geh nicht ... weg”, jammerte er. “Laß mich ... nicht allein ... Mein Magen brennt. Gib mir Wasser.”
“Schau, Kumpel, du brauchst eine Bahre. Wenn ich dich zu tragen versuche, werde ich dich vielleicht noch mehr verletzen. Auf einer Bahre wirst du es gemütlich haben.” Er hielt die Feldflasche hin und hob den Kopf des Soldaten an. Nach einem kleinen Schluck sank der Kopf zurück und rollte wieder nach links und rechts. Er wischte ihm den Mund ab und rannte klappernd die Treppe hinauf. Die eisernen Echos, die die Stiefel aussandten, konnten nicht das Stöhnen und das Geräusch des Erbrechens übertönen, die in seinem Kopf hallten. “Oh mein Gott, mein Gott”, betete er. Das war mehr, als Worte sagen konnten. Jetzt verstand er. Impi hatte Glück gehabt. Er war froh für ihn. Wieder und wieder rannte er. Er hörte, wie eine Handgranate explodierte. Er war wieder im Hauptgebäude, die Treppe hinauf, und rannte unter dem hochnäsigen Seitenblick den Flur entlang in ein Zimmer voller Bücherregale ... leer ..., und in das nächste, wo Drummond, von Metter und zwei anderen Unteroffizieren umgeben, auf eine Karte zeigte. Er platzte mit seinem Bericht heraus.
“Beruhige dich, Kelly. Ich werde eine Bahre senden, sobald eine frei ist. Und jetzt geh um Gottes willen wieder da runter. Wer bewacht den Ort? Wer ist jetzt da?”
“Niemand. Der Junge.”
“Warum bist du nicht dageblieben und hast den Jungen geschickt?” John blickte betroffen. “Na gut, jetzt geh wieder zurück. Gib ihm etwas Morphium aus seiner Tasche. Weißt du, wie man Morphium gibt? Sie haben es dich gelehrt.”
“Ich weiß nicht. Ja ... Ich bin mir nicht sicher”, stotterte er.
“Doch, du erinnerst dich. Du steckst einfach die Nadel rein.” Drummond stach mit seinem metallenen Bleistift in die Luft, drehte die Handfläche leicht nach oben und preßte mit dem Daumen auf den Bleistiftgummi. “Dann schiebst du den Drücker hinunter. Und jetzt geh.”
Es war dunkler geworden. Auf was für ein unsinniges Spiel hatten sie sich alle eingelassen! Wie konnte sich irgendein vernünftiger Mensch der Gefahr aussetzen, zu enden wie der verwundete Riese im Keller? Wußte es vielleicht keiner? Ja, dachte er wieder, alles, was er gelesen hatte, ähnelte der Wirklichkeit so wenig wie ... wie der General in dem großen vergoldeten Rahmen. Und das war nur der erste Tag. Jesus, hilf uns! Der erste Tag! Und es würde noch viel schlimmer kommen. ‚Hör auf, dich zu zieren, Mann!’ sagte er sich, ‚und gehe diese Treppe hinunter.’
Ein langgezogenes schweres Stöhnen erklang, das bei seinem Versuch, den Schmerz zu besänftigen, auf unheimliche Weise musikalisch wirkte, das die Tonleiter hinauf- und hinunterstieg und sagte: Hör zu, Schmerz, ich tue mein Bestes, mein Bestes, um etwas Neues zu produzieren, das dir gefallen könnte. Willst du nicht weggehen? John eilte hinunter. Sein Herz wurde leichter. Er war nicht tot. War das etwas, worüber man froh sein konnte? Als er die letzte Stufe erreichte, schlug ihm der Gestank von Erbrochenem entgegen. Der Soldat war allein. Der Junge war fort. Das Stöhnen erhob sich zu einem hellen Wehklagen, das sich in ein unmenschliches Heulen verwandelte, so als hätte der Sergeant unter seiner Zunge einen kleinen Schlägel. John eilte, auf Blut schlitternd, zu ihm hin.
“In Ordnung, Kumpel, ich bin hier.”
“Du warst weg ... allein.” Der Mann weinte. ‚Maria, Mutter Gottes!’
“Ich war zurückgeeilt. Die Bahre kommt jetzt. Wir holen dich hier raus.” Er fummelte mit der Spritze herum. “Du wirst in einem schönen warmen Bett im Krankenhaus liegen, und eine hübsche Schwester wird dir ein Thermometer in den Mund stecken, und ich gebe dir jetzt eine Spritze.”
“Ja, ja! Gib mir ‚ne Spritze. Gib mir ‚ne Spritze, Kumpel. Gib mir ‚ne Spritze und hol mich hier ... Wasser!” Die Stimme erhob sich mit einem schrillen geistlosen Wehschrei.
“Gewiß, gewiß, und jetzt sei schön ruhig. Du wirst sehen ...” Er stach die Nadel durch den Stoff der Hose in den Oberschenkel, schob mit dem Daumen den Drücker rein und setzte sich zurück auf die Fersen.
“Gib mir ‚ne Spritze!” schrie der Sergeant.
“Ich hab’ dir gerade eine gegeben, warte, sie wird gleich anfangen zu wirken. Bald bist du im Land der Träume.” Ein paar Augenblicke lang war es still.
“Wirkt nicht, Kumpel, gib mir noch eine. Noch eine”, bettelte er winselnd und jammernd.
“Es braucht etwas Zeit. Gib ihr ein paar Minuten ...” Zerrende laute Geräusche entstiegen dem Mann. John wartete eine Ewigkeit. Schließlich war es still. Plötzlich schnarchte der Soldat wie eine verrostete Fahrradkette. Es setzte sich endlos fort und brachte einen schmerzvollen Zyklus nach dem anderen hervor.
“Gimmirne Spritze, Kumpel”, bettelte der Mann und schnarchte wieder. Langsam erstarb auch dies. Sanft und unerwartet setzte ein anderes Geräusch ein. John neigte sich vor, um das pfeifend erklingende Lied zu hören. Mit dem Tonfall eines kleinen Jungen kam die Melodie von “Morgen kommt der Weihnachtsmann”. John fuhr sich mit der Hand über Augen und Wangen, hörte sitzend dem unmusikalischen Delirium zu und wartete. Am oberen Ende der Treppe klapperte es. Er nahm das Gewehr aus dem Schoß.
“Liegt hier der Fall für die Krankenbahre?” kam eine Stimme. Ein kleines rotes Licht glühte auf und entfernte sich.
“Hier unten.” Er richtete die Taschenlampe auf die Stufen und erblickte einen Mann, der durch den Rauchwirbel seiner Zigarette hindurchspähte. Der Mann kam herunter, und seine Bahre hüpfte hinter ihm her.
“Er ist sehr groß”, flüsterte John. “Wo ist dein Kumpel?”
“Ich bin allein. Da ist niemand anders.”
“Aber dieser Junge ist schwer verwundet. Durch den Bauch. Er hat literweise Blut verloren.”
“Sie sind alle schwer verwundet. Ich habe heute nur ernste Fälle gesehen. Darum brauchen sie ja eine Bahre. Los! Hilf mir, den hier raufzukriegen. Dann tragen wir ihn nach oben.”
Ächzend, schiebend und stoßend stolperten sie die Treppe hinauf. Der Soldat schnarchte die ganze Zeit. “Wie hat er es nur geschafft, hier herunterzukommen?” Die Stimme des Bahrenträgers klang fragend und erschöpft. “War Taxifahrer. Genau das gleiche. Immer die Leute aus den verrücktesten dummen Lagen herausholen.”
Sie trugen die Bahre auf die Straße.
“Kommt jemand, dir zu helfen?”
“Ich hab’ dir doch gesagt, Kumpel, ich bin allein. Konnten nicht mehr als einen von uns entbehren.”
“Was wirst du machen? Mein Sarge hat mir gesagt, ich soll diesen Keller nicht verlassen.”
“Hilf mir nur, ihn auf die andere Seite zu tragen.” Sie überquerten die Straße.
“Du kannst nicht weiter mitkommen?”
“Besser nicht.”
“O.K. Laß ihn fallen.” John setzte sein Ende vorsichtig ab, und der Träger begann, die Bahre wie einen Kartoffelsack hinter sich herzuschleifen.
“Hey, warte mal! Das wird ihn umbringen.”
“Was soll ich tun? Ihn hierlassen? Ich glaube, er ist ohnehin erledigt. Aber ich nehme ihn mit.” Sie konnten ihn nicht wie einen großen gestrandeten Wal liegenlassen. Er war bewußtlos. Es hatte keinen Sinn, hinter seinem Rücken einen Kraut in den Keller schlüpfen zu lassen. Es könnte ein, zwei oder drei Leben mehr bedeuten. Er ging noch ein paar Schritte neben der Bahre her.
“Ich fühle mich schrecklich”, sagte er.
“Wie lange bist du schon im Einsatz, Soldat?”
“Wie lange? ... Nun, ich glaube, erst einen Tag.”
“Bist ein gutes Kind. Weißt du, du erinnerst mich an Van Johnson, den Jungen nebenan. Aber er gehört nicht in den Krieg. Er sollte am Eßtisch seines Vaters sitzen, aber da wird er nie wieder hinpassen. Schau, mein Kind, es gibt keinen Weg, sich in diesem Krieg wohlzufühlen. Also gehe in deinen Keller zurück oder helfe mir mit diesem Kerl. Entscheide dich.” John sah zu, wie die Bahre fortgeschleift wurde. Dann winkte er und ging in den Keller zurück.
Er mußte die Batterien für die Nacht sparen, und es gab mit Sicherheit keinen Weg, sich in dem dunklen Keller wohlzufühlen. Ratten kratzten am Erbrochenen und liefen über seinen Regenmantel. Kathy. Er dachte an Kathy und an die Nacht, als er sie im Park getroffen hatte. Es war die erste Nacht gewesen, die er nach seiner ersten Schiffahrt in der Kanalzone wieder in New York verbracht hatte. An einem warmen Sommerabend im Park hatte er gerade einem Freund seine Erlebnisse erzählt, als dieser ein vorbeikommendes Mädchen anhielt und sie einander vorstellte. “Das ist John, Seefahrer und Dichter. Kathy wird deine Geschichte lieben.” Der Freund stand auf und verschwand.
Sie waren allein.
“Hallo. Ich heiße Kathy.” Sie war ein scheues Mädchen in einem weißen Kleid mit schulterlangem Haar, das ein wenig nach vorn fiel wie ein Vorhang, hinter dem sie sich versteckte. Plötzlich kam sie hervor. “Der Kerl ist verrückt.” John wußte nicht, was er antworten sollte.
“Ich kenne ihn nicht sehr gut.”
“Er schien dich zu kennen.”
“Nun ja, na gut, ich habe ihn mein ganzes Leben gekannt. Aber du weißt, wie das ist.” Das klang sicher dumm genug.
“Ich vermute, so geht es einem mit den meisten Menschen, die man sein ganzes Leben lang kennt. Selbst die Eltern”, sagte sie.
“Besonders die Eltern.” Sie hatte ihm die Unsicherheit genommen und die dumme Sache, die er gesagt hatte, zurechtgerückt.
“Ja, aber reden wir nicht über Eltern. Reden wir über dich.”
“Mich? Ich bin gerade aus Panama zurückgekommen. Ich bin beim Armeetransport.”
“Magst du es?”
“Ich mag es von allen Dingen am meisten. Ich bin fürs Wasser geschaffen. Ich wünschte, ich wäre ein Delphin. Ich fürchte nur, sie werden mich ins Heer einziehen. Ich wäre gerne bei der Marine, aber nicht beim Heer.”
“Warum?”
“Auf See gibt es immer Zeiten, wo man aufs Wasser schauen kann. Es gibt zwei Dinge, die mich wirklich mich wohl fühlen lassen: Schnee und das Meer. Mit ihnen kann mein Geist Millionen Meilen weit wandern. Nichts kann ihn daran hindern. Es ist, als ob man innerlich Musik hört. Und dann gibt es immer Zeit, zu lesen und nachzudenken. Man ist nicht ständig in Eile. Aber am meisten liebe ich es, wenn mein Geist leer ist.”
“Wie kann dein Geist leer sein?”
“Nun, er ist es nicht wirklich, aber etwas anderes und Besseres ist da.”
“Was ist es? Na, mach dir keine Sorgen. Man sollte nicht gezwungen sein, es zu sagen. Ich vermute, du bist Dichter. Was liest du denn gerne?” Sie hatte nicht gelacht.
“Keats, Shelley, manchmal alles, was ich kriegen kann. Geschichte. Biographien. Meine Mutter sagt, ich wolle die ganze Bibliothek lesen. Ich mag besonders gern Gedichte, schreibe aber selber kaum welche.”
“Ich glaube, ich hätte Angst, ständig auf See zu sein. Hast du keine Angst?”
“Einmal sind wir in einen Sturm geraten.” Er hatte sich selber kaum eingestanden, wieviel Furcht er gehabt hatte – und kein Land in Sicht.
“Hattest du keine Angst?”
“Ich glaube, ich hatte solche Angst, daß ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann, wieviel Angst ich hatte. Ich war von Furcht überwältigt. Jetzt erzähle mir von dir.”
“Ich gehe noch immer zur Schule. Wenn ich sie nächstes Jahr abgeschlossen habe, möchte ich eine Ausbilding als Krankenschwester anfangen.”
“Ich glaube, ich würde das noch viel furchterregender finden, wenn Menschen sterben und all solche Sachen.”
“Nun, manche überleben”, sagte sie mit einer leichten Grimasse. “Das ist der Zweck der Angelegenheit.” Sie sagte es auf eine so einleuchtende und positive Art, so als würden jene, denen sie zu leben half, das ganze Sterben und Leiden rechtfertigen. Er spürte die Schönheit des Parks und der sanft erhellten Bäume, die dunkle Schatten auf das Gras warfen. In den Menschen, die in der warmen Abendluft umherwanderten, schimmerten unverhoffte Tugenden.
“Vermutlich”, sagte er. “Natürlich. Wenn du mich pflegen würdest, würde ich leben wollen.”
“So weit bräuchte es sicher nicht zu kommen”, sagte sie und rückte etwas von ihm ab. Er sah sich, wie er verwundet in den Hafen einlief, und wie dieses Mädchen herantrat, seine Temperatur maß und ihm den Kopfverband wechselte. Sie trug eine kleine gestärkte Mütze, und als sie sich vorneigte, fielen ihre Haare auf die Bandage.
“Woran denkst du?”
Nach einem kurzen erschrockenen Zögern sagte er rasch: “An fliegende Fische.” Und tatsächlich gab es eine Szene, die ihm immer wieder einfiel: silberne Fische, die aus dem Wasser sprangen. Es war das erste Mal gewesen, daß er sie gesehen hatte, und er erzählte ihr von dem Morgen, als die Maschine im Kanal ausgefallen war, und wie er verzaubert dagesessen und sie beobachtet hatte, wie sie ihm wie silberne Pappelblätter erschienen waren, die jemand losgeschüttelt hatte, oder wie Münzen, die durch die Luft hüpften. Schließlich erzählte er ihr von dem sterbenden Fischadler. Nichts in seinem ganzen Leben hatte ihn je so berührt, und er mußte diesem Mädchen davon berichten.
“Sei nicht traurig”, sagte sie. “Der Vogel wollte nicht in den Himmel kommen. Er versuchte nur, so weit wie möglich von den Kugeln und dem Mann wegzukommen. Was könnte ein Fischadler im Himmel wollen?” Sie hatte eine warme und beruhigende Art. Ob sie recht hatte oder nicht, sie bewirkte, daß er sich wohl fühlte. Was für eine wunderbare Krankenschwester sie sein würde! Er wollte sie zur Freundin haben.
“Können wir uns noch einmal sehen, ich meine, nach heute abend?”
“Ja, wir können uns noch einmal treffen ... wenn du es magst. Ich lebe eigentlich in Boston, aber wenn ich in New York bin, wohne ich nur ein paar Blöcke von hier bei meiner Tante und meinem Onkel. Ich komme oft hier lang.”
Am nächsten Tag hatten sie sich auf der gleichen Bank getroffen. Sie trug wieder ein weißes Kleid, doch diesmal mit einer chinesischen Halskette, die sie, zusammen mit ihrem halbabgewandten Blick, gesetzt erscheinen ließ, und ganz und gar nicht wie das Mädchen, das er am Abend zuvor gesehen hatte. Und er, der den ganzen Tag an sie gedacht hatte, war stumm vor Furcht. Die ganze Zeit hatte sie wie Psyche in der Mitte des Parks vor seinen Augen gestanden, blaß und in ein mottenartiges Gewand gekleidet.
Und nun saß dieses Mädchen in einer unendlich verwickelteren und unkontrollierbareren Parkbankwelt vor ihm, für die es keine Vorbilder und keine Bezugspunkte gab. Es war sein eigenes Buch.
“Ich habe die ganze Zeit an dich gedacht”, platzte er heraus. Seine Ohren waren so heiß, daß er rot gewesen sein muß. Es klang so banal, daß er ihr den verwirrten Blick nicht übelnehmen konnte.
Schließlich, als er schon dachte, daß es zu spät sei, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, sagte sie mit einer schwachen, unsicheren Stimme: “Was hast du gedacht?” Er konnte ihr nicht sagen, woran er gedacht hatte, und dennoch brannte er in dem Bedürfnis, ihr die Wahrheit zu sagen.
“Du erinnerst mich an eine Krankenschwester in einem Buch, das ich gelesen habe. Ich hatte sie sehr gemocht.”
“Ich bin ich.” Er fragte sich, wieviel Vorwurf in dieser Bemerkung lag, und dachte gerade, daß sie eine vernünftigere Person war als er, als sie sagte: “Ich habe auch die ganze Zeit an dich gedacht.” Er wartete, bis ihm der Sinn der Worte klar wurde.
Eine solche Freude erfüllte ihn, daß der Park in eine andere Welt ausbrach, eine Welt der Märchenreiche, in der magische Laternen schwangen.
Er war unfähig, etwas zu sagen.
“Warum hattest du diese Krankenschwester gemocht?”
“Sie war wie du.”
Er hatte gelesen, daß die größten Gefahren einen sich selbst näher brachten. Doch brachte es ihn nur einem absurden Leiden näher.
Kathy hatte gesagt: “Was ist mit jenen Menschen, die für die nächsten paar Jahre Nachttöpfe ausleeren? Wie kommen wir uns selbst näher?” Dann hatte sie sich plötzlich in seinem Arm befunden und ihm die Wange angeboten. Er hatte ihr den Rand des Mundes und das Haar geküßt, das nach Shampoo und Sauberkeit geduftet hatte. So unvergeßlich, daß er es plötzlich hier im Keller roch, wo es einen Augenblick lang die anderen Gerüche überdeckte.
Die Tür schwang auf. Er nahm das Gewehr fester in die Hand. Es klapperte auf der Treppe, und ein völlig erschöpfter Metter ließ die Taschenlampe aufleuchten. “Ist alles hier in Ordnung, Kelly?”
“Es scheint so, Sarge. Wie wär’s mit einem Kaffee?” Er grub einen Feldkocher aus seinem Rucksack hervor.
“Ganz schön einsam hier unten, was?” fragte Metter.
“Sag, Sarge, was geht vor? Wie lange bleib’ ich hier?”
Metter zögerte. “Ich kann es dir genausogut sagen. Du wirst nicht viel länger in diesem Keller bleiben. Auf einem Hügel etwa eine Meile zurück ist 374 unter Druck, da, von wo wir gestartet waren. Sie haben Verstärkung angefordert. Das sind wir.”
“Du meinst, nach all dem ziehen wir uns zurück?”
“Das ist unsere Flanke. Sie muß gedeckt werden. Würde nicht viel nützen, wenn wir ganz Kreuzbach einnähmen und es dann von da reinkriegten. Wir würden schön dumm aussehen, um nicht zu sagen tot.”
“Wir würden schön dumm aussehen, wenn wir zurückgingen, und erst recht die zerstörten Klosterbögen.”
“Es ist ein absolutes Massaker da oben.”
“Du meinst, es wird noch schlimmer werden, als was wir hinter uns haben?”
“Das ist alles nur ein Picknick gewesen. Elite-SS-Truppen greifen ihre Stellungen an und kommen direkt in ihre Schützengräben. Das Wunder ist, daß sie sich überhaupt noch verteidigen.” Eine pelzige Ratte eilte durch den Raum und verschwand in einer Ecke. John leerte den Inhalt des kleinen Kaffeepäckchens in das heiße Wasser. Die Flamme tanzte wild herum, bevor sie sank, sprang ein letztes Mal verzweifelt auf und erstarb.
John zitterte in der Dunkelheit, und der warme Becher spendete seinen Händen Trost. Warum hatte er gefragt? Plötzlich wünschte er sich, er könnte in diesem dunklen, eisigen, blutbespritzten und nach Erbrochenem riechenden aber sicheren Keller bleiben. Metters Stimme war wie die von einem, der mit den Händen rang. Er holte seinen Geist in die Gegenwart zurück. “... hat keinen Sinn ... mit der Reichweite, die diese Kanonen haben, können sie uns . mit der Reichweite, die diese Kanonen haben, können sie uns zu Staub zerschießen.”
“Jedenfalls sind wir nicht in Form, um eine Kompanie zu ersetzen, die von Pfadfindermädchen belagert wird. Gibt es irgendwelche guten Neuigkeiten?”
“Wir gehen ein paar Meilen zurück, in Richtung Coquerin, um Munition und neue Leute zu erhalten. Sie haben da oben bald keinen Proviant mehr. Wir werden Wasser und alles andere hinauftragen müssen.”
“Das ist eine gute Neuigkeit?” fragte John.
“Wenn wir die Neuen abholen, kriegen wir vielleicht ein warmes Essen und ein paar Stunden Schlaf.”
Es war zu spät für Selbstmitleid. Es war der 22. Februar. Am 26. würde er neunzehn werden, falls er dann noch lebte. Hör auf, sagte er sich. Aber was er gern tun würde, wäre, einen letzten Brief an Kathy zu schreiben und ihr zu sagen, daß sie Zartheit und Schönheit in sein Leben gebracht hatte, daß, falls es je etwas Gutes an ihm gegeben hatte, es wegen ihr gewesen war – das heißt, falls er am Leben geblieben wäre, dachte er mit verwirrten Zeitformen. Und warum hatte er nie zuvor daran gedacht, ihr das zu schreiben? Wie war es geschehen, daß er nie verstanden hatte, wie sehr er sie liebte? Warum mußte er in eine solche Situation geraten, bevor es wie die Flamme eines Feldkochers aufsprang? Und plötzlich schien es ihm auf absurde aber tröstende Weise, daß das der Grund war, warum er sich hier befand: um sein Leben zu verstehen, was Lieben bedeutete, was das gleiche war wie Geben und in ihren Augen würdig sein. Nichts konnte schiefgehen, solange er Kathy liebte. Sie gab ihm den Mut, von Metters tonlos trauriger Stimme Abstand zu nehmen. Er würde leben.