Читать книгу Keine Nachricht von Kami - Magnhild Bruheim - Страница 7

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Zu Hause bei Gunn war es schon voll. Die meisten Leute waren aus der neunten Klasse, aber auch einige aus der zehnten und ein paar aus der Oberstufe. Die Eltern waren eigentlich fertig zum Wegfahren, versicherten sich aber noch ein paar Mal, dass Gunn alle Anweisungen verstanden hatte. Sie sagte ja und jaja und musste sie fast aus der Tür schieben.

Aus fünf flachen, ungeöffneten Pappkartons auf dem Küchentisch strömte ein appetitanregender Geruch. Daneben standen mehrere große Flaschen mit Mineralwasser. Sobald die Eltern außer Sicht waren, machten sich die Jugendlichen über die Pizzen her und stellten die Musik lauter. Die Party hatte begonnen. Zwei der Jungs holten die Bierflaschen raus, die sie reingeschmuggelt hatten, ein paar andere gingen raus, um größeren Nachschub zu holen, den sie draußen vor dem Haus versteckt hatten.

Kari-Marie war schnell Gesprächsstoff, und Bente wurde gefragt: »Hast du etwas Neues gehört?« Sie war ja diejenige, die zuletzt Kontakt mit der verschwundenen Freundin gehabt hatte.

»Nein«, antwortete sie. Bente hatte keine neue SMS bekommen, doch sie hatte beschlossen, Martine im Laufe des Abends in die Sache einzuweihen. Stian war nicht da. Sie brauchte nur einige Sekunden, bis sie das festgestellt hatte.

»Die Polizei wird bestimmt den Computer von Kami und ihrer Mutter durchsuchen, um zu sehen, ob sie die letzten Tage vor ihrem Verschwinden in Kontakt mit jemand Unbekanntem gewesen ist«, sagte Benjamin. »Sie haben wohl den starken Verdacht, dass sie freiwillig verschwunden ist.«

»Es ist schon verdächtig, dass sie an der falschen Haltestelle ausgestiegen ist«, sagte ein anderer.

Bente konnte nur feststellen, dass jetzt alle wussten, was sie für sich behalten hatte, nachdem Mona von der Polizei es ihr erzählt hatte.

Jon-Arne ließ sich auf einen Stuhl neben ihr plumpsen.

»Muss krass für dich sein«, sagte er.

»Verdammt krass, um es direkt zu sagen«, antwortete sie.

»Ich habe viel an dich gedacht, seitdem es passiert ist.« Er sah sie intensiv an. »Wir können gerne darüber reden«, fügte er hinzu.

Bente fühlte sich, als ob sie mit ihren Eltern zusammensäße. Es war in Ordnung, dass Jonna an ihr interessiert war, aber er hätte es auf eine etwas spannendere Art zeigen können. Sie hatte überhaupt keine Lust, sich mit ihm zu unterhalten, weshalb sie sich nur halbherzig am Gespräch beteiligte und sich gleichzeitig im Zimmer umsah.

Plötzlich war er da. Er musste gerade gekommen sein, ohne dass sie ihn bemerkt hatte. Jetzt stand er in der Türöffnung der Küche mit einem Pizzastück in der einen Hand und einer Flasche Bier in der anderen. Bente fragte sich, wie sie ihn dazu bringen sollte, dass er auf sie aufmerksam wurde. »Ich glaub, ich will noch Pizza«, erklärte sie und stand vom Sofa auf, wo Jonnas Arm auf der Rücklehne lag.

»Hallo«, sagte sie, als sie an Stian in der Türöffnung vorbeiging.

»Ist noch Pizza da?«

Er wandte den Kopf zur Küche. »Sieht so aus«, sagte er, ohne besonderes Interesse zu zeigen.

Sie hätte gerne etwas zu ihm gesagt. Über Kami. Oder über andere Dinge, damit sie ins Gespräch kämen. Jetzt verhielt er sich so, als ob sie sich fast nicht kannten. Hatte er Angst? Gerade jetzt brauchte sie wirklich jemanden, mit dem sie reden konnte. Nicht Jonna. Stian wirkte so klug und viel erwachsener als die anderen, die sie aus der zehnten Klasse kannte.

Bente ging in die Küche. Ein Junge und ein Mädchen aus der Parallelklasse waren intensiv miteinander beschäftigt. Von den fünf großen Pizzen waren nur noch halbtrockene Außenstückchen übrig. Auch gut, denn sie hatte mehr als genug gegessen. Jetzt blieb sie stehen in der Hoffnung, dass Stian nachkommen würde. In einer ruhigen Minute könnte sie mit ihm über Kami sprechen. Sie könnten ein Eckchen für sich alleine finden, wo sie von ihren beunruhigenden Gedanken erzählen und sich von ihm trösten lassen konnte. Aber als sie zu ihm hinsah, um Augenkontakt herzustellen, stand er nicht mehr da.

Sie ging direkt durch das große Wohnzimmer ins Badezimmer. Es war warm, und feuchte Duschluft lag noch im Zimmer. Im Spiegel begegnete sie sich selbst. Mit der rechten Hand fuhr sie sich durch ihr langes, dunkles Haar. Ihre Haare waren im Moment das Einzige, womit sie soweit zufrieden war. Mit Ausnahme vielleicht vom Pony. Im letzten halben Jahr hatte sie ihn fast ganz kurz geschnitten. Jetzt fing sie an, es zu bereuen, er gab ihr ohne Zweifel ein kindlicheres Aussehen als notwenig. Das Bild von einem Model in einer Zeitschrift hatte sie darauf gebracht, welcher Typ zu ihr passen würde. Das Model war ihr nicht so unähnlich, aber der Pony reichte ihr bis zu den Wimpern. Das ließ sie etwas geheimnisvoll aussehen. Bente beschloss, ihre Augen auch etwas mehr zu schminken. Einen Blick schminken, dem sich niemand entziehen konnte, von dem man gefangen wurde. Bisher war sie damit vorsichtig gewesen, nur ein bisschen Wimperntusche. Jetzt bekam sie plötzlich Lust, mutiger zu werden. Vielleicht konnte sie hier im Bad etwas finden?

Bevor sie darüber nachdachte, was sie tat, hatte sie die kleinen Schranktüren über dem Waschbecken geöffnet. Das Regal in dem einen Schrank war mit Pflaster, Salben und Tabletten gefüllt. Aber der Schrank auf der anderen Seite enthielt das, wonach sie suchte. Unter anderem einen Kajalstift. Ohne zu zögern umrahmte sie ihre Augen. Das Resultat entsprach nicht ganz ihren Erwartungen, was sie unsicher machte. Das war nicht die alte Bente. Eher eine neue Ausgabe. Eine andere Bente. Sollte sie als solche raus zu den anderen gehen? Hatten die letzten dramatischen Tage sie reif gemacht für so eine Veränderung?

»Ja«, beschloss sie für sich und nickte dem Spiegelbild zu, bevor sie den Schlüssel umdrehte und rausging.

Der starke Blick, der die Leute gefangen halten sollte, flackerte im Zimmer herum. Das Licht war gedämpft. Einige hatten angefangen zu tanzen. Sie bemerkte, dass Stian neben Ingrid saß, und Jon-Arne war zusammen mit Gunn auf der Tanzfläche. Sie musste Martine finden. Plötzlich war es ihr sehr wichtig, sich an einen ruhigen Ort zurückzuziehen und abladen zu können, was ihr Gewissen belastete.

Bente nahm Martine mit sich in Gunns Zimmer. Es war ziemlich aufgeräumt und schön, sogar das Bett war gemacht. Abgesehen davon war es ihrem Zimmer nicht unähnlich. Bente vermutete, dass Gunn strikte Anweisungen bekommen hatte, dass das Zimmer ordentlich aussehen musste, bevor sie eine Party geben durfte. Ihre Eltern waren bestimmt genauso wie gewisse andere.

»Ist etwas passiert?«, fragte Martine gespannt, als sie sich hingesetzt hatten.

Bente machte eine Kunstpause, bevor sie mahnend sagte:

»Du musst versprechen, dass du das keiner Menschenseele erzählen wirst.«

»Ehrenwort.«

»Ich habe Nachrichten von Kamis Handy bekommen«, flüsterte sie.

»Was?!«, platzte Martine heraus, bevor sie Bente erwartungsvoll und verwirrt ansah.

»Sie hat eine SMS geschrieben, dass alles mit ihr okay ist. Doch mit strikter Anweisung, dass ich mit niemandem darüber reden darf.«

»Mit anderen Worten … sie ist also abgehauen.« Martine sah aus wie gelähmt. »Und jetzt will sie nicht, dass sie sie finden.«

»Wenn ich das wirklich wüsste. Aber das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß, ob sie selbst es war, die die SMS geschickt hat. Oder ob sie gefangen gehalten wird von Leuten, die ihr Handy benutzen.«

Martines Mund öffnete sich und saugte hörbar Luft ein. »Oh, stell dir vor … wenn sie hilflos eingesperrt ist von einem, der SMS von ihrem Handy verschickt, dass alles mit ihr in Ordnung ist.«

Sie sah verstört zu Bente. »Was machst du jetzt?«

Genau das wusste Bente auch nicht. Plötzlich fühlte sie sich verzweifelter als jemals zuvor. Martine konnte ihr ebenfalls keinen guten Rat geben.

»Es ist falsch, egal, was ich mache«, sagte Bente und hatte das Bedürfnis zu weinen. »Wenn es wirklich Kami ist, die schreibt, dann kann ich ihr ja nicht alles kaputt machen, indem ich der Polizei davon erzähle. Aber wenn Kami irgendwo gefangen gehalten wird, dann muss die Polizei davon erfahren.« Ihre Stimme erstickte, Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie konnte wegen der Schminke nicht weinen.

Martine war still. Es sah aus, als würde sie versuchen, einen guten Rat zu finden. Und das tat sie auch: »Du kannst ja nach etwas fragen, was nur Kami weiß. Etwas, was ein Unbekannter nicht erraten könnte.«

Die Idee war zwar gut, aber gerade jetzt fiel keiner von beiden eine gute Frage ein. Es durfte auch nicht zu offensichtlich nach einem Test aussehen. Sie machten ein paar Vorschläge, aber keiner war gut genug, um eine Nachricht zu versenden.

Im Wohnzimmer waren noch ein paar weitere Lampen ausgemacht worden, sodass das Tanzen im Halbdunkel vor sich ging. Bente nahm Stian und Ingrid auf der Tanzfläche wahr. Eine Perle schimmerte an Ingrids Nabel. Sie war so dünn in der Hüfthose und dem kleinen, weitausgeschnittenen Top darüber. Bente fühlte regelrecht, wie die Pizzastücke durch ihren Körper sickerten. Sie hatte niemandem erzählt, was zwischen ihr und Ingrid vor ein paar Wochen passiert war. Wenn sie daran dachte, war es ihr so peinlich, dass sie Bauchweh bekam.

»Tanzen?« Es war Jon-Arne, der dastand.

»Okay.« Bente ging ihm ohne große Begeisterung nach. Sie hatte ihr coolstes Top an, das sie Kami abgekauft hatte. Deshalb hatte sie die Jacke ausgezogen, damit die anderen es sehen konnten. Niemand hatte bisher etwas gesagt.

»Hast du darüber nachgedacht, was Kami in der SMS geschrieben hat?«

Sie schrak zusammen. »Was meinst du?«

»Hat sie dir keine Nachricht aus dem Kino geschickt?«

»Über was denn?«, fragte sie und spürte ihr Herz heftig schlagen, als er die SMS erwähnte. Sofort hatte sie geglaubt, dass er von den geheimen SMS Wind bekommen hatte.

»Über uns.«

»Ach das«, sagte sie und verstand, was er meinte. »Nach dem Abend hatte ich nichts anderes als das Verschwinden von Kami im Kopf.« Auf diese Weise umging sie seine Frage.

»Das kann ich gut verstehen«, sagte er samtweich. »Aber was glaubst du?«

»Ich kann jetzt nicht an solche Dinge denken. Sorry«, sagte sie in einem bittenden Tonfall.

»In Ordnung«, sagte er und umfasste sie, um eng mit ihr zu tanzen.

Während die Musik wechselte, zog er sie in eine Ecke, um sie zu küssen. Sie war unsicher, wie sie darauf reagieren sollte. In der Zeit, als sie zusammen waren, war es ganz selbstverständlich gewesen. Jetzt dachte sie nur an das, was ihr Ingrid nach der letzten Party gesagt hatte. Da wollte sie mit Bente knutschen. Bente fand es in Ordnung, schließlich war sie gerade mit niemandem zusammen. Sie hatten sich lange geküsst, aber danach meinte Ingrid, Bente sei nicht richtig gut gewesen.

»Soll ich dir ein paar Tricks beibringen?«, hatte Ingrid gefragt, als ob es das erste Mal gewesen wäre, dass Bente küsste. Am Tag darauf bekam sie zu Ohren, dass Ingrid rumging und erzählte, dass sie bei ihr einen Küsskurs belegt hatte. Vielleicht hatte Ingrid das ja auch Stian erzählt, an dem sie heute Abend wie eine Klette hing.

»Es klingelt an der Tür«, hörte sie jemanden sagen.

»Mach die Musik leiser«, sagte die Gastgeberin vom anderen Ende des Zimmers und ging in den Flur. Nach kurzer Zeit kam sie zurück.

»Bente! Deine Mutter ist hier und fragt nach dir«, sagte sie so laut, dass die meisten im Zimmer es hörten.

Bente riss sich von Jon-Arne los und ging in das Zimmer, in dem alle Jacken auf einem Sofa lagen. Sie musste sich so schnell wie möglich rausschleichen. Aber es war bereits zu spät. Plötzlich stand die Mutter im Wohnzimmer wie ein Eindringling. In ihrem dunkelgrünen hoffnungslosen Mantel. Sie wirkte so fehlplatziert, dass Bente Lust hatte, sich in Luft aufzulösen.

»Ich nehme an, dass die Party nicht mehr so lange gehen wird«, hörte sie die Mutter zu Gunn sagen. »Es kommen wohl bald auch andere Eltern, um ihre Kinder abzuholen«, fügte sie hinzu wie ein Prachtexemplar einer Supermami.

Bente kochte innerlich, aber sie wollte schnell raus, bevor sich die Mutter noch lächerlicher machte. Die Dunkelheit draußen nahm sie auf und versteckte sie, machte sie unsichtbar.

»Es ist erst halb elf«, sagte Bente wütend, als sie die Autotüren geschlossen hatten. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht so früh nach Hause wollte.«

»Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich dich gegen zehn Uhr holen sollte.«

»Nein, wir haben uns überhaupt nicht darauf geeinigt. Aber ich darf eh nie was dazu sagen. Ich darf überhaupt nichts in meinem Leben bestimmen.«

»Red jetzt keinen Unsinn«, sagte die Mutter resolut. »Du musst doch verstehen, dass wir Angst um dich haben.«

»Deshalb müsst ihr mein Leben aber nicht zum Gefängnis machen.«

»Jetzt wirst du ungerecht.« Die Mutter steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Dann drehte sie sich um und sah Bente mit einem forschenden Blick an. »Lass dich mal ansehen«, sagte sie und machte die Innenbeleuchtung an. »Was hast du denn mit deinen Augen gemacht?« Und dann lächelnd: »Ich dachte, ihr seid zu groß, um Karneval zu spielen.« Jetzt fing sie an zu lachen. »Entschuldigung, aber es sieht so komisch aus.« Dann drehte sie sich nach vorne um und ließ das Auto an.

Bente wollte etwas Gemeines sagen, schaffte es aber, den Mund zu halten. Es würde auf jeden Fall lange dauern, bis sie mit ihrer Mutter wieder versöhnt wäre.

Als sie nach Hause kamen, ging sie direkt in ihr Zimmer. Sie weigerte sich, mit den anderen zusammen im Wohnzimmer zu sitzen, egal, mit was sie lockten. Wenigstens den Rest des Abends wollte sie alleine bestimmen. Sie bemerkte sofort, dass eine neue SMS von Kami gekommen war.

Doch bevor sie es schaffte, die Nachricht zu lesen, war ihre Mutter an der Tür.

»Ich finde, du solltest reinkommen und mit uns anderen zusammensitzen, bevor wir uns hinlegen«, sagte sie streng.

»Das finde ich nicht«, antwortete Bente trotzig. Sie sah keinen Grund, ihren Ärger zurückzuhalten.

»Du brauchst nicht frech zu werden. Du weißt, dass wir dein Bestes wollen.« Kurz darauf fügte sie hinzu: »Übrigens das Oberteil da …« Sie nickte zu Bente, »woher hast du das? Ich habe es beim Trocknen im Bad gesehen.«

»Na und?« Bente hatte keine Lust zu erklären, dass sie es von Kami gekauft hatte, weil die Freundin Geld brauchte.

»Das ist eine teure Marke«, stellte die Mutter fest.

Bente wusste das natürlich, deshalb war es unnötig, etwas dazu zu sagen.

»Du hast normalerweise nicht so teure Markenklamotten an. Darf man fragen, was es gekostet hat?«

»Ich habe es von Kami geliehen«, sagte sie, um in Ruhe gelassen zu werden. Das war im Grunde eine Sache, die die Mutter nichts anging.

»Kommst du?«, fragte die Mutter abschließend.

»Nein.«

Ihre Mutter gab auf, und Bente konnte die Nachricht von Kami lesen.

Habe viel zu erzählen. Wenn ich dir eine E-Mail schreibe, muss ich sicher sein können, dass niemand anderes sie sieht. Kann ich das?

Bente antwortete: Wenn wir einen Zeitpunkt ausmachen, kann ich alleine am Computer sitzen. Kannst du nicht anrufen? Ich Muss mit dir sprechen. Wichtig!, schrieb sie zurück.

Kann jetzt nicht. Schick eine SMS, wenn du alleine am PC bist. Kuss KM.

Damit war der Kontakt für dieses Mal beendet. Aber Bente blieb ein paar Stunden liegen, ohne einschlafen zu können. Die Gedanken, was mit der Freundin passiert sein mochte, mischten sich mit den Eindrücken des Abends. Ihre Mutter, die bei der Party aufmarschiert war, um sie abzuholen. Stian und Ingrid. Ein missglückter Abend.

Keine Nachricht von Kami

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