Читать книгу Nachts am Teufelsberg - Maik Bischoff - Страница 6
Das Kaffeekränzchen
ОглавлениеSo langsam wurde die Zeit knapp. Ich sollte in 30 Minuten bei Rita sein und hatte noch nicht einmal eine Hose an. Zu blöd aber auch, wenn man sich durch soziale Netzwerke vom echten Leben ablenken lässt. Aber seit ich einen Computer mein Eigen nannte, meine Freunde hatten mich alten Mann dazu gedrängt, hielt ein Zeitvernichter nach dem anderen Einzug in mein Leben. Und das war aber auch immer verdammt spannend. Man schaute nur kurz bei Wikipedia nach Informationen zu einem Schauspieler und lernte nur wenige Minuten später, wie Heuschreckenmännchen den Fortpflanzungserfolg bei Heuschreckenweibchen steigern und ähnliche, enorm wichtige Dinge. Was ging es mir da früher gut, als ein Fernsehgerät und eine Mikrowelle die Krone der technischen Schöpfung unter meinen Besitztümern darstellten. Aber man muss ja mit der Zeit gehen, will mitreden können. Und eben das Fortpflanzungsverhalten der Heuschrecken kennen.
Jetzt galt es aber, etwas Eile an den Tag zu legen. Rita, eine ältere Dame, hatte mein angenehmes und ruhiges Pensionärsdasein vor gar nicht allzu langer Zeit komplett auf den Kopf gestellt. Sie hatte eine Leiche gefunden und ich lief ihr dabei während eines Spazierganges quasi direkt in die Arme. Oder genauer gesagt, sie fiel beinahe in meine, denn die Konfrontation mit dem Tod hatte sie arg mitgenommen. Zu allem Übel kannte sie den Toten und dessen Mutter, die eine gute Freundin von ihr ist. Als die Polizei den Tod dann auch noch als Selbstmord einstufte, was die Familie so überhaupt nicht glauben wollte, bat sie mich darum, in dieser Sache ein paar Ermittlungen anzustellen. Sie wusste nämlich, dass ich ein pensionierter LKA-Ermittler war, was sie zur Überzeugung brachte, dass ich schon allein deshalb mit Freuden Ja zu solch einem Angebot sagen würde. Das tat ich dann auch, allerdings ohne wirkliche Begeisterung und eher unter Zwang. Und es war vielmehr mein bester Kumpel Fabian, der uns durch unbedarfte Antworten in die Zusage lavierte. Letztlich konnte ich ihr den Wunsch auch nicht so einfach abschlagen, irgendwie habe ich ja ein Herz für nette alte Damen.
Und tatsächlich, der Tote wurde ermordet und ich konnte, zusammen mit Fabian, eben dies beweisen und darüber hinaus sogar den Mörder herausfinden und dingfest machen. Zugegeben, letzteres hat dann doch die Polizei übernommen, ohne deren Eingreifen die Sache für Fabian und mich wohl sehr unangenehm, wenn nicht sogar tödlich, ausgegangen wäre. Der Täter wollte uns nämlich tatverschleiernder Weise ins Jenseits befördern, was die Polizei dann zu unserem Glück rechtzeitig zu verhindern wusste.
Aus diesen Erlebnissen entstand nun eine sehr angenehme Freundschaft, die durch regelmäßige Kaffeekränzchen bei Rita gekennzeichnet war. Und heute war so ein kleines Kaffeekränzchen angesagt. Dabei gab es sogar etwas zu feiern, denn Rita hatte Geburtstag. Und da wollte ich natürlich keinesfalls zu spät erscheinen.
Ich schlüpfte also in meine beste Hose, suchte ein Hemd aus dem Schrank, dass mir einerseits dem Anlass entsprechend passend erschien und das andererseits sogar ein wenig gebügelt aussah. Eine passende Krawatte dazu und fertig war die Kleiderauswahl. Nachdem ich Hemd und Krawatte ordentlich gerichtet hatte, fluchte ich kurz und zog mich wieder aus. Vor dem Anziehen sollte man wenigstens geduscht sein.
Ich ging also duschen und während ich unter Schmerzen feststellen durfte, dass heißes Wasser zuweilen auch wirklich heiß ist, klingelte mein Telefon. Auch das noch. Heute war wohl einfach nicht mein Tag. Blieb nur zu hoffen, dass dies alles keine bösen Omen waren. Frisch mit heißem Wasser überbrüht hüpfte ich tropfnass in den Flur, wo mein Telefon lag. Ein Blick aufs Display zeigte mir, das Fabian am anderen Ende war.
»Katholische Hundebadeanstalt Spandau, Böhme am Apparat!«, meldete ich mich, leicht gereizt ob der Störung, während ich mich zu beeilen hatte.
»Haben wir heute wieder mal einen Clown gefrühstückt? Wo bleibst Du? Wir sitzen hier und wollen endlich den Kuchen vertilgen. Der einzige der fehlt, bist Du.«
»Nur keine übertriebene Hast, ich bin eigentlich schon so gut wie fertig. Und wenn ich nicht länger am Telefon aufgehalten werde, dann schaffe ich es auch noch. Ähh, Moment! Sagtest Du gerade, ihr sitzt schon da und wartet?«
»Ja.«, antwortete Fabian. »Wir waren ja auch alle pünktlich. Alle, bis auf einen etwas älteren Herren namens Werner Böhme. Der hat ganz offensichtlich die Zeitumstellung vergessen.«
Die Zeitumstellung. Ab heute gilt die Sommerzeit. Das hatte ich ja wieder mal ganz prächtig hinbekommen. Da sitze ich am Rechner, der schon mit einer Uhr daherkommt, schaue hin und wieder auf mein Handy, das ebenfalls die korrekte Zeit liefert, sogar in riesengroßen Lettern, und trotzdem schaffe ich es, alles zu ignorieren. Nehme die alte Wohnzimmeruhr als einzig echtes Chronometer und denke nicht mit einer Silbe an die Sommerzeit. Die ja auch reichlich in den Medien kommuniziert wurde.
»Verflixt aber auch. An die habe ich wirklich nicht gedacht. Ich sollte mir ganz dringend mal eine Funkuhr besorgen. Haltet durch, ich eile!«
»In Ordnung, wir fangen dann einfach schon mal ohne Dich an. Vielleicht heben wir Dir sogar ein Stückchen Kuchen auf. Oder einen Keks. Krümel. Beeil Dich einfach, wenn Du weißt, dass Du langsam bist!« Sprach es und legte auf.
Das waren ja feine Aussichten. Als letzter zu einer solchen Veranstaltung zu erscheinen ist überhaupt nicht mein Ding und wenn es mit reichlich Verspätung ist, dann erst recht nicht. Aber da musste ich nun durch. Im Handumdrehen war auch der Rest der Morgentoilette erledigt, ich war komplett angezogen und auf dem Weg.
Rita wohnt auf der Haveldüne, einem kleinen und feinen Wohnviertel am südlichen Rand der Spandauer Wilhelmstadt. In toller Lage, mit Blick auf die Scharfe Lanke und den Grunewald konnte man dort wunderbar entspannt in ländlicher Ruhe, jedoch mit direkter Anbindung an die Großstadt leben. Sofern man es sich leisten konnte, denn diese Wohnlage war enorm teuer. Teilweise grenzten Mieten und Grundstückspreise dort oben an Diebstahl. Ganz so, wie es inzwischen beinahe überall in Berlin war. Allerdings waren die meisten Häuser Eigenheime, bei denen sich die Mietenfrage gar nicht erst stellte, die Besitzer hatten entsprechend dicke Bankkonten und ließen das zuweilen auch gern jeden, nicht ohne eine gewisse Arroganz, wissen.
Im ziemlich krassen Gegensatz dazu stand mein Domizil inmitten der Wilhelmstadt, die mit ihren Altbauten aus dem Beginn des letzten Jahrhunderts wie eine Großstadt mit Dorfcharakter daherkam. Dorfcharakter, weil man sich hier noch kennt, weil man sich grüßt und auch mal zu einem Plausch auf dem Gehweg stehen bleibt. So etwas ist in der Anonymität der Großstadt ja eher selten und es wird, leider, auch hier immer seltener. Jede Menge Zugezogene, angelockt durch die vergleichsweise geringen Mieten, verändern eben so einiges. Ich nenne das gern Negativgentrifizierung. Während in Friedrichshain die Schwaben mit Geld einziehen, ziehen Menschen mit weniger Geld nach Spandau. Und lassen sich in meiner Nachbarschaft inmitten der schönen Wilhelmstadt nieder. Und nein, das soll sie nicht abwerten. Nicht jeder kann Unmengen Geld verdienen und der größte Teil der Zugezogenen ist schon echt nett.
Allerdings gibt es noch einen weiteren Unterschied zum Friedrichshain. Dort wird über die Schwaben und ihr Geld gern gemeckert, hier in Spandau interessiert es schlicht niemanden. Vermutlich, der Spandauer interessiert sich eben naturgemäß eher weniger für das, was um ihn herum geschieht, weil es kaum jemand bemerkt. Und weil es, wie schon gesagt, eben nette Leute sind.
Aber wie dem auch sei, es sind keine Schwaben und damit bleiben auch die Mieten bezahlbar. Und nein, ich habe nichts gegen Schwaben. Eigentlich hat kaum jemand etwas gegen Schwaben, das sind lustige Leute mit einem noch lustigeren Dialekt. Nur hat sich in Berlin der Begriff ‘Schwaben’ für all diejenigen eingebürgert, die mit jeder Menge Geld in die Kieze kommen und am Preistreiben der Vermieter Schuld sind. Und das müssen nicht einmal Leute aus Baden-Württemberg sein.
Hier in der Wilhelmstadt bleibt die Preistreiberei also noch aus. Zugegeben, in den letzten Monaten und Jahren wird es auch zunehmend schmutziger im Kiez, werden mehr und mehr Geschäfte geschlossen und öffnen dann als Wettbüro oder Friseur erneut ihre Pforten, auch wirkt alles ein wenig abgewohnt und arm. Da wäre etwas frisches Geld sicher nicht verkehrt. Eine ehemals blühende Einkaufsstraße, die Pichelsdorfer Straße, die als zentrale Nord-Süd-Tangente durch die Wilhelmstadt führt, hat kaum noch Einkaufsmöglichkeiten zu bieten und nur sehr wenige Traditionsbetriebe haben sich bis heute halten können. Auch hier müsste Geld her.
Aber wenn man die Wilhelmstadt mag, dann sieht man gern darüber hinweg. Schönheitsfehler eben, die wahrer Liebe nichts anhaben können. Über die Falten eines geliebten Menschen sieht man ja für gewöhnlich auch in aller Großzügigkeit hinweg.
Ich beeilte mich ordentlich und nach einem zwanzigminütigen Fußmarsch kam ich mit leichtem Schnaufen und etwas verschwitzt bei Ritas Haus an und klingelte. Sie öffnete mir mit einem ehrlich erfreuten Lächeln und schloss mich in die Arme.
»Herzlichen Glückwunsch!«, begrüßte ich sie.
»Ach, erinnere mich bloß nicht daran. In meinem Alter ist es keine Freude mehr, wieder ein Jahr mehr auf dem Buckel zu haben.« Mit gespielter Bescheidenheit winkte sie ab. Ich drückte ihr mit breitem Grinsen einen Strauß Blumen in die Hand.
»Aber die obligatorischen Primeln darf ich doch hier lassen, oder?«
»Sicher doch, jede Dame freut sich über Blumen und ich rede mir einfach ein, Du hättest sie mitgebracht, um mir alter Schachtel noch ein paar Avancen zu machen.« Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu, dreht sich um und verschwand im Haus. Ich folgte ihr und staunte drinnen nicht schlecht, wer sich alles an der Kaffeetafel versammelt hatte.
Neben Florian, der mich ja schon angerufen hatte, saß auch Isolde Tschirner mit am Tisch, die Mutter des besagten Mordopfers, das uns Anfang des Jahres die Mordermittlungen beschert hatte und auch Leonhard Willert, seines Zeichens Hauptkommissar und damals der nicht ermittelnde Beamte. Gerade Willerts Anwesenheit überraschte mich und diese Überraschung konnte man mir wohl vom Gesicht ablesen.
»Was denn, sind hier irgendwo Gespenster? Oder weshalb dieser entsetzte Blick?« Willert grinste und auch Fabian schien sichtlich erfreut.
»Ich hätte ja mit vielem gerechnet, aber nicht mit Ihnen. Wie kommt es denn?«
»Rita, also Frau Meyer-Welmingen war so freundlich, mich zu ihrem Geburtstag einzuladen, da wir seinerzeit durch die abschließenden Ermittlungen kaum die Gelegenheit hatten, ein paar private Worte zu wechseln. Und da ich hier meinen Meister treffen konnte, habe ich zugesagt.«
»Meister würde ich jetzt nicht sagen, es war eher jede Menge Glück dabei und vor allem die Hartnäckigkeit der hier anwesenden Damen, die zum Erfolg geführt haben.«
»Und trotzdem wäre der Fall ohne Sie nie als Mordfall entdeckt worden.«
»Auch richtig. Aber lassen wir doch das förmlich Sie. Mein Name ist Werner und der bin ich auch.« Ich hielt ihm die Hand hin und er schlug ein.
»Leonhard. Aber Leo reicht völlig.« Ich hatte das Gefühl, dass wir auf einer Wellenlänge funkten. Willert passte sozusagen in diese Welt.
Anschließend begrüßte ich noch alle weiteren Anwesenden und sorgte dann dafür, das ich meinen Anteil am Kuchen bekam. Einmal in der Woche darf man schließlich so richtig zulangen und dieses eine Mal, der sogenannte Cheat-Day, war heute angesagt. Während ich mir nun so viel Kuchen unter die Nase schob, wie es ohne allzu negativ aufzufallen möglich war, gab Fabian voller Stolz die Geschichte unserer Ermittlungen zum besten.
Vermutlich tat er das zum hundertsten Mal, ich hatte inzwischen aufgegeben mitzuzählen, aber irgendwie konnte niemand genug davon bekommen. Abgesehen von mir, ich konnte das einfach nicht mehr hören. Aber sollte er mal ruhig erzählen, solange alle anderen abgelenkt waren, machte mir niemand den Kuchen streitig und ich konnte unbeobachtet ein oder zwei Stücke mehr essen, als für meinen Gürtel gut waren.
Ein Telefonklingeln war zu hören und Rita schaute mit gespielter Verärgerung in die Runde. »Wer von euch blasphemischen Banausen hat an meiner feinen Tafel ein Handy eingeschaltet?« Niemand fühlte sich angesprochen und Fabian stritt direkt ab, der Urheber zu sein: »Ich bin es nicht, so einen langweiligen Klingelton habe ich nicht. Aber wie sieht es denn mit Werner aus, der nutzt doch bestimmt den serienmäßigen Langweilerton?« Er grinste.
Alles blickte mich an, aber ich konnte meine Unschuld beweisen, indem ich mein Handy hoch hielt und allen zeigte, dass es nicht für das Gebimmel zuständig war. Bis sich dann Rita erneut zu Wort meldete: »Asche auf mein Haupt, das ist wohl in diesem Fall mein Telefon.« Sie lief knallrot an und verließ schnell die Tafel, um im Flur in Ruhe zu telefonieren. Die ganze Episode war schnell vergessen und der Smalltalk wurde wieder aufgenommen, alles schwatzte durcheinander. Und ich kümmerte mich weiter um den Kuchen, denn auch das musste ja erledigt werden.
Während ich nun ein weiteres Stück des herrlichen Kuchens verspeiste, änderte sich Ritas Tonlage im Flur deutlich und ließ mich aufhorchen. Allerdings konnte ich nicht genau verstehen, um was es ging, denn just in diesem Moment ging auch Leos Handy los. »Sorry, aber ich habe Bereitschaft. Ich muss da rangehen.« Er verschwand ebenfalls zum Telefonieren, während Rita zurück ins Wohnzimmer kam. Sie war kreidebleich. »Werner, Fabian, ich glaube, es gibt wieder Arbeit für euch.«
Rita sah aus, als würde sie jeden Moment kollabieren, was auch Isolde bemerkt hatte, die nun eilig aufsprang und Rita energisch in einen Sessel schob.
»Warte einen Moment, ich hole Dir schnell ein Glas Wasser.«
Aber Rita wehrte ab. »Keine Sorge, ich bin schon wieder fit. Mich hat eben nur der Schreck ein wenig umgehauen.«
Bevor ich sie nun fragen konnte, was es denn nun für Arbeit gäbe, hakte auch schon Fabian ein: »Was für Arbeit gibt es denn nun für uns? Werden unsere exzellenten Ermittlerqualitäten benötigt, um zwei, drei oder gar noch mehr Mörder einzufangen?«
»Mörder nicht, aber ansonsten liegst Du schon fast richtig, mein lieber Fabian.«, entgegnete Rita. »Das am Telefon eben war Sabine Fuhrmann, eine alte Freundin von mir. Ihr Mann wurde ganz offensichtlich entführt und sie fragte mich gerade, ob ich meine beiden Ermittlerfreunde nicht darum bitten könnte, nach ihm zu suchen.«
Eine kurze und knackige Ansage und die gefiel mir ganz und gar nicht. Nicht, dass ich ihr den Gefallen nicht tun wollte oder etwa keine Zeit dafür hätte, aber die Suche nach Entführungsopfern sollte man dann doch besser der Polizei überlassen. Da zählt schließlich neben der Zeit auch die Manpower und vor allem die technische Ausstattung.
»Rita, auch wenn ich da gern helfen würde, aber die Polizei ist da ganz sicher der bessere Ansprechpartner. Die haben auch wesentlich mehr Mittel und Möglichkeiten, als ein alter Zausel wie ich. Und ist das mit der Entführung überhaupt gesichert?«
Florian hingegen schien begeistert von der Vorstellung, wieder den Hobbypolizisten geben zu dürfen. »Dein Alter mache ich locker wett. Und was soll schon passieren? Mehr als ihn nicht finden können wir auch nicht und wer weiß, ob die Polizei da überhaupt mit einer Suche beginnt. Hatten wir das nicht gerade erst mit Isoldes Sohn? Da wollte auch niemand an ein Verbrechen glauben.« Womit er natürlich Recht hatte, wenngleich so etwas echt selten vorkommt und im Falle einer möglichen Entführung eher unwahrscheinlich ist.
Aber ich hatte einen Kompromissvorschlag. »Machen wir es so: Fabian und ich gehen mal zu dieser Frau Fuhrmann und reden mit ihr. Vielleicht stellt sich ja bis dahin heraus, dass es gar keine Entführung gegeben hat und ihr Mann kommt kerngesund und freudestrahlend zur Tür hinein. Oder aber es zeigt sich, dass die Sache ganz sicher eine Nummer zu groß für uns ist und wir überlassen der Polizei das Feld.«
Rita schien damit einverstanden zu sein: »Das klingt doch gut. Und allein dass ihr kurz bei ihr vorbeischaut, wird Sabine schon um einiges beruhigen.«
Nur Fabian verzog das Gesicht. »Mensch, da haben wir die einmalige Chance hier ein weiteres Verbrechen aufzuklären und Du willst einen Rückzieher machen.«
»Mit Rückzieher hat das nichts zu tun. Letztes Mal hatten wir einfach nur jede Menge Glück. Und obendrein ist ein Entführungsfall nicht gelöst, indem man nur an ein paar Türen klopft und dann irgendwelche Fragen stellt. Hier geht es auch gegen die Uhr, denn das Opfer lebt ja für gewöhnlich noch und dabei sollte es bestenfalls auch bleiben.« Zähneknirschend gab sich Fabian geschlagen. »Na dann los, schauen wir mal, ob fünf Minuten Händchen halten ausreichend sind.«
Nun galt es, keine Zeit zu verlieren. Nur Rita tat mir etwas leid. »Rita, ich hoffe, Du bist uns nicht allzu böse, wenn wir jetzt einfach Deine nette Feier verlassen. Aber wir sollten nicht unnötig Zeit verstreichen lassen. Wo wohnt denn die Familie Fuhrmann?«
»Nun macht euch mal meinetwegen keine Sorgen, wir können das ja noch nachholen. Zu Sabine ist es übrigens nicht weit, sie wohnt ebenfalls hier oben auf der Haveldüne.« Sie schrieb die genaue Adresse auf einen Zettel und wir wollten los.
In diesem Augenblick kam Leo, den wir inzwischen vor lauter Aufregung komplett vergessen hatten, wieder ins Wohnzimmer zurück. »Tut mir leid Leute, aber ich habe ja Bereitschaft und muss jetzt leider weg. Ich hatte gerade einen Anruf, dass es wohl einen Entführungsfall gegeben hat. Das ist hier ganz in der Nähe, da muss ich jetzt hin.«
Fabian fiel ihm fast ins Wort: »Schon klar, Familie Fuhrmann. Wir wissen Bescheid, kümmern uns darum und haben den Fall schon so gut wie gelöst!«
Leo blickte ihn an und rollte mit den Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ihr? Gelöst? Ach ja? Was genau habe ich verpasst?«
Ich beschwichtigte: »Nicht gelöst, aber Rita hatte gerade einen Anruf und bat uns darum, dass wir uns um ihre Freundin, die Ehefrau des Entführungsopfers kümmern und dabei mal schauen, ob wir irgendetwas herausfinden können.«
»Also gebt ihr wieder den Detektiv?«
»Nicht unbedingt. Ich glaube kaum, dass wir da großartig etwas machen können.«
»Das sehe ich auch so. Immerhin geht es hier ja auch darum, das Opfer lebend zu finden. Und da ist die Polizei wohl doch wesentlich besser aufgestellt als zwei Privatpersonen.« Das bestätigte meine Aussage, was ich sehr erfreulich fand.
»Wie dem auch sei, lasst uns keine Zeit weiter verlieren.«, versuchte ich endlich Bewegung in die Sache zu bringen. »Fahren wir zusammen?« Leo rollte erneut mit den Augen.
»Ich fahre allein und ihr lauft. Es sind ja nur ein paar Meter und es sieht wohl ziemlich komisch aus, wenn ein leitender Ermittler vor Ort mit zwei Zivilisten im Schlepptau aufkreuzt, gelle?« Damit hatte er natürlich Recht. Bevor er dann endgültig ging, meinte er noch: «Und haltet euch zurück, solange die Kavallerie noch in rauhen Mengen vor Ort ist. Das wirft nur unnötige Fragen auf und erschwert den Kollegen die Arbeit. Am besten wartet ihr, bis ich euch grünes Licht gebe.« Ich nickte bestätigend. Fabian sah so aus, als wolle er dagegen halten, also schob ich ihn in Richtung Flur.
»Los jetzt, das Ermittler-Dream-Team Böhme und Dost hat einen neuen Fall. Der Fall Fuhrmann will gelöst werden und das tut er nicht, indem wir hier sinnlos herumstehen und Maulaffen feilhalten. Rita, ich melde mich nachher, sobald ich etwas mehr dazu sagen kann.« Die Sache mit dem Fall schien ihm zu gefallen, denn sein Gesicht hellte wieder auf und er war wie ein geölter Blitz zur Tür hinaus.
Da hatte ich mir ja etwas eingebrockt. Wie dumm nur, dass ich selbst einen ‘Fall Fuhrmann’ ins Gespräch gebracht hatte. Aus dieser Nummer kam ich jetzt wohl nicht mehr so leicht heraus. Aber wer weiß, vielleicht klärte ja Leo die Sache im Handumdrehen auf und mir blieb das ganze Theater erspart.
Noch während ich losgehen wollte kam mir Rita nach und hielt mich kurz fest. »Wenn ihr einen fahrbaren Untersatz braucht, dann gib kurz Bescheid. Dann könnt ihr meinen Wagen haben.« Ich nickte nur kurz und ging weiter.
Fabian war nicht mehr zu halten, also marschierten wir los. Auf dem Weg zum Haus der Furhmanns versuchte ich Fabian noch ein wenig zu bremsen: »Eins sollte aber klar sein, wenn wir irgendwelche Hinweise finden, müssen wir die umgehend mit der Polizei teilen. Hier geht es schließlich nicht um jemanden, der ohnehin schon hinüber ist, sondern um einen lebenden Menschen. Da sind kindische Detektivspielchen nicht unbedingt sinnvoll.«
»Kindisch?«, gab Fabian beleidigt zurück. »Nun bezeichne uns mal nicht als kindisch, immerhin haben wir schon einmal einen Mörder gefasst. Ganz allein und ohne Hilfe der Polizei.«
»Darf ich Dich daran erinnern, dass es letzten Endes die Polizei war, die uns den zu diesem Zeitpunkt schon mächtig im Dreck sitzenden Poppes gerettet hat? Ohne deren Eingreifen wären wir jetzt wohl eher bei den Engeln.«
Es kam keine Antwort, eher ein leises Grummeln. Schweigend setzten wir unseren Weg fort und ich machte auch keinen weiteren Versuch, ihn anzusprechen. Als wir uns dem Haus der Familie Fuhrmann näherten, sahen wir schon von weitem die Fahrzeuge der Polizei. Wenn der Entführer also das übliche »keine Polizei« gefordert hatte, dann sollte man jetzt hoffen, dass er das Haus nicht beobachtete.
Beobachtet wurde das Treiben aber, und zwar von einem der Nachbarn ein paar Häuser weiter. Ganz unverhohlen stand er auf der Straße und schaute mit einem kleinen Fernglas dem Treiben zu.
»Los Fabian, der Typ kann uns sicher das Eine oder Andere zur Sache sagen. Oder zumindest zur Familie Fuhrmann, denn so wie der da herumsteht und alles im Blick hat, ist der hier mit Sicherheit der Blockwart mit allumfassendem Wissen über die Nachbarschaft und allem was hier so passiert.«
Auffällig unauffällig gesellten wir uns zu ihm. »Guten Tag, was gibt es denn hier zu beobachten? Wilde Tiere?«
Er riss sein Fernglas herunter, wurde knallrot und versuchte sich zu rechtfertigen. »Ähh, ja. Also, ähh, man sieht ja nicht jeden Tag Polizei hier oben bei uns. Da wollte ich mal, also Sie wissen ja, eben mal schauen. Und so.« Er hielt uns also für Polizisten in Zivil.
»Keine Sorge, wir sind nicht von der Polizei. Wir interessieren uns selbst nur für das, was da drüben passiert ist. Wissen Sie denn etwas darüber?«
»So so, also nicht von der Polizei. Aber trotzdem neugierig. Wer seid ihr denn? Wenn ihr schon keine Bullen seid?«
»Wir sind einfach nur Bürger, die ein wenig Interesse am Geschehen hier im Kiez zeigen.« Ich zwinkerte ihm zu, um sein plötzlich kumpelhaftes Auftreten zu erwidern.
»Ja klar, Interesse am Kiezgeschehen. Und die Erde ist eine Scheibe!«, entgegnete er schon wesentlich lockerer und zunehmend entspannter. Also mal schauen, was er so alles zu verraten hat.
»Wissen Sie denn, was da drüben passiert ist?«, fragte ich ihn beiläufig mit Blick zum Ort des Geschehens. »Aber sicher doch.«, entgegnete er. »Der alte Fuhrmann ist verschwunden. Und jetzt ist von einer Entführung die Rede. Wobei das nicht weiter seltsam ist.«
»Nicht seltsam? Ist eine Entführung denn nicht immer seltsam?«
»Nicht beim Fuhrmann. Der Alte hatte nichts Besseres zu tun, als jedem zu zeigen, dass er jede Menge Asche hatte. Schaut nur mein dickes Auto hier. Hört nur, meine dicke Jacht dort. Unten in der Scharfen Lanke. Da lag das Ding. Protzige 13 Meter lang. Jeden Tag ging das so. Und seine arme Frau musste das alles ertragen. Wenn die schlau ist, dann zahlt sie nicht. Schon allein um ihn endlich los zu sein.«
»So schlimm also, aber solche Leute gibt es doch überall. Mit dem Geld kommt eben oft auch die Nase.«, versuchte ich seine Tonlage zu treffen, um vielleicht noch mehr aus ihm heraus zu bekommen. Wobei er ja ohnehin schon in Redelaune zu sein schien.
»Klar, aber der war einer der schlimmsten!« Er zeigte mit dem Daumen Richtung Fuhrmanns Haus. »Aber nicht nur sein peinliches Auftreten. Er hat auch seine Frau immer wieder betrogen. Ich hoffe nur für sie, dass sie das nicht mitbekommen hat. All die jungen Dinger, die der Fuhrmann hatte. Tses!« Jetzt wurde es wirklich interessant.
»Sie wissen aber ganz schön viel über diese Familie!«
»Aber klar doch, ich weiß hier so ziemlich alles. Nichts und niemand kommt an mir vorbei. Einer muss hier schließlich aufpassen. Für die Sicherheit im Kiez sorgen, Die Polizei tut ja nichts.«
»Ach nein?«, entgegnete ich nur kurz, da ich eher damit beschäftigt war, mir nicht mit der flachen Hand vor die Stirn zu hauen. Noch so ein Typ, der meint, dass alle untätig wären und er der einzig geeignete Kandidat ist, um die Sicherheit in Kiez, Stadt, Land, Welt und Universum sicherzustellen. Dafür waren solche Typen aber oftmals auch schier unerschöpfliche Quellen interessanter Geschichten und genau solche brauchten wir, wenn wir hier wenigstens etwas Hilfe leisten wollten. Denn noch immer war ich wild entschlossen, hier nicht schon wieder den Detektiv zu spielen. Auch wenn Fabian das schon für fest beschlossen hielt. Und genau der mischte sich jetzt auch in unser Gespräch ein.
»Was waren das denn für junge Damen, wenn man so fragen darf?« Oh man, kaum ist von jungen Frauen die Rede, spitzt er die Ohren und wird neugierig. »Waren das, ähh, käufliche Damen?«
»Junger Mann! Ich bin zwar schon fast so alt wie Methusalem, aber der Begriff ‚Nutten‘ ist mir durchaus noch geläufig. Und nein, das waren keine. Eher so der Typ ‚aufgemotzte Sekretärin‘. Mit viel in der Bluse und wenig im Kopf.«
Fabian hakte nach. »Haben Sie denn auch mal mit denen gesprochen, oder ist das nur eine Vermutung?« Er stellte die richtigen Fragen.
»Ich habe selbstverständlich mit denen gesprochen. Sofern man von ‚sprechen‘ sprechen kann. Der alte Fuhrmann musste ja, aber das sagte ich ja schon, mit allem angeben was er hatte. Und immer wenn er mir mit einem seiner Häschen über den Weg lief, stellte er sie vor und zeigte, was sie zu bieten hatte. Von den jungen Dingern kam dann aber selten ein zusammenhängender Satz. Die griffen irgendwie alle ins Leere, wenn sie sich an den Kopf fassten. Und Fuhrmann hielt jeden für blöd genug, nicht zu bemerken was er mit denen tat. Das war ja mehr als offensichtlich, das die nicht zum Tippen bei ihm waren.«
»Alter Angeber, geht fremd, jetzt entführt, soso.«, brabbelte ich, leicht abwesend, vor mich hin.
»Wie bitte?« Fabian hatte mich gehört, aber nicht verstanden.
»Nichts weiter, ich habe nur laut gedacht. Aber das Denken war noch nicht wirklich von Erfolg gekrönt.« Ich blickte wieder zum Blockwart – diesen Titel hatte ich ihm jetzt endgültig für mich verpasst. »Was gibt es denn noch interessantes zu Fuhrmann zu sagen?«
»Da muss ich dann aber gaaaaanz weit ausholen. Und das macht sich besser bei Kaffee und Keksen. Wenn ihr zwei beiden da neugierig seid, dann kommt mit rein. Dann erzähle ich euch was.«
Bis die Polizei soweit war, dass wir mit Sabine Fuhrmann reden konnte, würde noch eine ganze Menge Zeit vergehen. »Warum nicht, diese Einladung nehmen wir doch gern an!«
Fabian rollte mit den Augen und mit einem kurzen Nicken gab ich ihm zu verstehen, dass er sich zurückhalten sollte. Denn wenn man schon eine mögliche Quelle hat, dann lässt man die sprudeln. Schlimmstenfalls helfen die Geschichten nicht weiter, aber dann sieht man sie eben als Zeitvertreib an. Darüber hinaus verwirrte mich irgendetwas am Verhalten des Blockwartes, ich konnte nur noch nicht genau sagen, was es war. Aber das würde sich schon noch zeigen, erst einmal galt es, seinem Angebot zu folgen.
Der Blockwart ging zu seinem Haus, einem unscheinbaren kleinen Bungalow ohne Garage oder Carport. Der Vorgarten war akkurat gepflegt, kurz geschnittener Rasen, sauber geharkte Erde um ein paar Rosenstauden und kein trockenes Blatt oder ähnliches lag herum. Überall exakt rechte Winkel und jede Menge Symmetrie, hier konnte man also deutsche Gründlichkeit atmen. Das passte ja zu dem Eindruck, den er durch sein Auftreten vermittelte. Wir folgten ihm also ins Haus.