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Der Drachenhintern

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Zwei rote Augen starrten in meine blauen. Zwei weiße Ohren zuckten ängstlich in die Höhe. Ein rosa Schnäuzchen zitterte wählerisch, bevor es die Löwenzahnblätter anknabberte, die ich ihm reichte.

Das Schnäuzchen gehörte Schneewittchen. Im Nachbarkäfig hauste Dornröschen.

Großvater hatte mir geholfen, die Käfige zu bauen. Aber füttern mußte ich die Kaninchen selbst.

»Wer sich Tiere zulegt«, sagte er, »muß auch dafür sorgen, daß sie sich wohl fühlen.«

Ich hatte lange sparen müssen, um sie kaufen zu können. Sie hatten drei Kronen pro Stück gekostet, und das war viel Geld. Aber Kaninchenbraten war ein Festessen, und jetzt in Kriegszeiten gab es nicht viel Fleisch. Das Geld war also bestimmt nicht verloren. Ich hatte alles sorgfältig ausgerechnet. Wenn jedes Kaninchen zehn Junge bekäme, wäre ich bald reich.

Dann habe ich eine Menge Geld für den Jahrmarkt, dachte ich. Und bestimmt reicht es auch noch dafür, daß ich mir jeden Samstag einen Lutscher bei Bonbon-Stina kaufen kann. Das Wasser lief mir schon im Mund zusammen.

Natürlich beanspruchte das Füttern der Kaninchen viel Zeit. Komisch, daß ein Kaninchen den Bauch voller Jungen haben kann und trotzdem noch für so viel Futter Platz hat, dachte ich. Gras, Löwenzahn und Wasser. In rauhen Mengen. Ich seufzte und rupfte und träumte vom Jahrmarkt. Der Jahrmarkt war das größte Fest des Jahres. Ja, der Jahrmarkt war fast noch schöner als Weihnachten!

Eines Morgens hatte Schneewittchen zehn Junge bekommen. Statt zwei besaß ich nun zwölf Kaninchen! In meinem Kopf wirbelten die Zahlen nur so durcheinander, als ich auszurechnen versuchte, wieviel ich schon verdient hatte. Noch lagen die Jungen nackt und winzig in dem Nest, das Schneewittchen ihnen mit ihren weichen Haarbüscheln warm und schützend ausgepolstert hatte. Die Tage vergingen, aber Dornröschen hockte immer noch in einsamer Pracht in ihrem Käfig.

Schließlich unterzog Großvater sie einer genaueren Prüfung. »Du wirst Dornröschen umtaufen müssen«, sagte er schmunzelnd. »Prinz wäre ein passenderer Name.«

Der Prinz wurde zum Sonntagsbraten. Aber ich brachte nur Erbsen und Kartoffeln runter.

Am Montag sagte Mama: »Heute mußt du gleich nach der Schule heimkommen. Tante Beda will uns mit der kleinen Barbro besuchen.«

Ich stöhnte leise vor mich hin. Tante Beda war sehr streng. Am liebsten verdrückte ich mich, wenn sie kam. Aber Mamas Augen sprachen ihre stumme Sprache. Ich wußte, daß ich gehorchen mußte.

Schweren Herzens radelte ich zur Schule. Und noch schwereren Herzens radelte ich nach Hause.

Tante Beda hatte keine eigenen Kinder. Das war auch der Grund, warum sie so genau wußte, wie man Kinder erziehen mußte. Barbro war ihre Nichte. Sie kam aus Stockholm und sollte einige Zeit bei Tante Beda verbringen. Nun suchte Tante Beda Spielgefährten für Barbro.

Ich hatte mir ungefähr vorgestellt, wie das gräßliche Gör aussehen würde. Aber die Wirklichkeit übertraf meine schlimmsten Vorstellungen. Wie erschlagen stand ich in der Tür und staunte die Erscheinung an, ohne ein Wort herauszubringen.

Im Kino hatte ich einmal ein Mädchen gesehen, das an eine Puppe erinnerte. Das Mädchen hieß Shirley Temple und lebte in Amerika. Jetzt glaubte ich fast, dieses Mädchen wäre aus dem Film gestiegen und hätte auf unserem Sofa Platz genommen.

Barbros Kleid war aus rosa Seide und voller Spitzen und Rüschen, die blonden Korkenzieherlocken waren mit weißen Seidenschleifen geschmückt. Außerdem redete sie vornehm wie alle Leute aus Stockholm. Ich hielt den Mund und nahm mir vor, das heimlich auch zu üben.

»Nimm die kleine Barbro mit und zeig ihr den Garten«, sagte Mama. »Aber gib auf ihr schönes Kleid acht.«

Vorsichtig trippelte Barbro den Gartenweg hinunter. »In Stockholm«, sagte sie, »da gibt’s Parks. Und die sind viel größer als euer Garten.«

Ich schwieg und kletterte hoch in den Birnbaum hinauf. Dort pflückte ich eine große saftige Birne, setzte mich damit gemütlich auf einen dicken Ast und begann zu futtern.

»In Stockholm kann man viel größere Birnen kaufen«, piepste Barbro. »Ich will auch eine haben. Gib her!«

»Wer eine will, muß sie sich selbst pflücken!« brummte ich.

Barbro hievte sich vorsichtig auf den untersten Ast. Sie war noch nie auf einen Baum geklettert. Doch unten gab es keine Birnen. Die hatte ich längst abgeerntet.

»Du mußt höher rauf!«

Es gelang ihr schließlich, sich eine Birne zu angeln. Inzwischen hatte das Kleid einen Riß abbekommen, und ihr Kinn war von klebrigem Birnensaft verschmiert.

»Schmeckt gut«, sagte sie und leckte sich die Lippen. »Aber die Birnen, die man in Stockholm kaufen kann, schmecken viel besser.«

In diesem Augenblick klapperte draußen auf der Straße ein Pferdefuhrwerk vorbei.

»In Stockholm fahren wir mit der Straßenbahn«, stellte sie verächtlich fest, »und nicht mit Pferdewagen.«

Ich schwieg. Eine Straßenbahn – was war das? Die einzige Bahn, die ich kannte, war die Eisenbahn.

Bald war Barbro satt und wollte wieder runterklettern. Ich wußte nicht, was ich ihr noch zeigen sollte.

Das Haus, in dem wir wohnten, war groß und hoch. Ganz unten lagen das Postamt und die Bank. Das Postfräulein war ziemlich sauertöpfisch, also ging ich nur äußerst ungern dorthin.

In der Bank jedoch gab es einen freundlichen Bankvorsteher. Er sah aus wie ein runder männlicher Engel. Und dennoch wurde er allgemein der Drache genannt. Das kam daher, weil er einen Goldschatz hütete, den er in seiner Stahlkammer eingeschlossen hatte.

Jedesmal, wenn die Kinder ihre Sparbüchsen leerten, schenkte der Drache ihnen rotweiß gestreifte Pfefferminzbonbons. Bei diesen Gelegenheiten pflegte er sich selbst auch ein paar zu genehmigen. Dabei schmatzte er ganz unwiderstehlich. Aber richtig sicher fühlten wir uns dennoch nie. Immerhin war es ja möglich, daß er sich über uns ärgern und uns in seine unheimliche Stahlkammer einsperren konnte.

Sollte ich Barbro die Bank zeigen? Ich kletterte zurück auf den Baum und spähte durchs Fenster. Der Drache sperrte gerade die Stahlkammer ab. Um drei schloß er die Bank. Der Drache war sehr pünktlich. Mein Vater hatte schon oft seine Uhr nach ihm gestellt. Aber bevor der Drache nach Hause ging, pflegte er das Klohäuschen hinten im Garten aufzusuchen.

Es war ein schönes, großes Klohäuschen. Wir benutzten es alle. Sonst hatten wir ja keins. Im Winter war es zwar etwas zugig, aber dafür hatten wir es im Sommer um so schöner. Dann konnte man im Häuschen sitzen und dem Vogelgesang lauschen. In Stockholm sind die Klos natürlich in den Häusern, dachte ich verächtlich.

Plötzlich hatte ich eine Idee. »Wenn du ganz still bist, zeig ich dir was, das gibt’s in ganz Stockholm nicht«, flüsterte ich. »Einen echten Drachenhintern.«

Barbro sah mich mit großen Augen an.

Schweigend versteckten wir uns hinterm Klohäuschen.

»Jetzt kommt er!«

Wir hörten den Kies auf dem Gartenweg knirschen. Ein Schlüssel rasselte im Schloß. Wir warteten eine halbe Minute.

»Jetzt kannst du aufmachen!« Ich zeigte auf die Luke in der Rückwand des Klohäuschens.

Und Barbro machte auf. Dann stieß sie einen Schrei aus und ließ die Luke wieder zufallen.

Ich warf mich auf Barbro und brachte sie zum Schweigen. Aber wir mußten uns lange in der Garage verstecken, bevor wir uns wieder hervorwagen konnten.

Inzwischen sah Barbro nicht mehr wie Shirley Temple aus. Ihre Haare waren zerzaust. Ihre Augen funkelten. Sie stampfte mit dem Fuß auf und zischelte mir zu, daß sie petzen werde. Doch plötzlich verstummte sie. Sie hatte den Käfig mit Schneewittchen und den Jungen entdeckt. Kaninchen, so etwas hatte Barbro bisher noch nie gesehen. Nein, nicht einmal im Tierpark! Ich mußte ein Junges rausnehmen und ihr geben.

Sie strich ihm über den Rücken. Dann blickte sie mir in die Augen und sagte: »Das hier gehört mir!«

»Nein, nie im Leben!«

»Dann petze ich!«

Ich hatte keine Wahl.

Es wurde eine teure Angelegenheit. Wie teuer, das begriff ich erst am nächsten Morgen. Als ich runterkam, um Schneewittchen zu füttern, war der Käfig leer. Und das, obwohl der Haken ordentlich vorgelegt war.

Anfangs stand ich einfach stumm davor. Ich kapierte es nicht. Ein Fuchs? Nein, Füchse können ja keine Haken vorlegen.

Dann war es ein Dieb. Ja, klar, aber wer? Kreideweiß vor Zorn lief ich zu Tante Bedas Haus. Ich wurde erwartet. Barbro stand bereits hinterm Zaun.

»Das Kaninchen wollte eine Freundin haben«, zischte sie. »Es war ihm zu einsam im Wäscheschrank. Ich kann nichts dafür, daß die anderen rauswitschten, bevor ich die Tür wieder zumachen konnte.«

Vor meinen Augen flimmerte es. Ich zeigte auf den Telefonmast, der neben dem Zaun stand und von dicken Drahtseilen gehalten wurde, die in den Boden hineinführten.

Krampfhaft hielt ich meine Tränen zurück und fauchte: »Behalt die Kaninchen ruhig! Aber wenn du petzt, ruf ich den Teufel persönlich an. Hier auf dem Land führt die Telefonleitung nämlich direkt zu ihm runter!«

Dann rannte ich nach Hause. Eine Stunde lang weinte ich in Großvaters Armen.

»So ist es den Kaninchen wenigstens erspart geblieben, Sonntagsbraten zu werden«, sagte er und strich mir übers Haar.

Das tröstete mich ein wenig. Aber nicht ganz. Ich konnte ja nicht verraten, daß es Barbro war, über die ich mich so aufregte.

Nein, niemals würde ich von Barbro und dem Drachenhintern erzählen können ...

Purzelbaum und Liebesbrief

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