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Pfifferlinge und Liebesbriefe

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Mein rundes Hinterteil saß fest und sicher auf dem breiten Sattel vom Roten Blitz. Seit ich Fahrradbesitzerin geworden war, ging ich nur noch zu Fuß, wenn ich im Haus war. Das Fahrrad war mein bester Freund geworden. Gemeinsam entdeckten wir Pfade und Wege, wo ich bisher noch nie gewesen war.

Das Fahrrad konnte ja nichts dafür, daß es so häßlich war. Vielleicht fühlte es sich im Vergleich mit der Schwalbe genauso, wie ich mich im Vergleich mit der schönen Gun fühlte?

Gun ging in die sechste Klasse und hatte einen Busen. Das hatte sonst niemand von uns. Singen konnte sie auch. Und zwar nicht nur ganz passabel, so wie wir. Nein, wenn sie sang, klang es wie im Radio. Bei Schulfesten durfte sie immer solo singen. Wir anderen waren ungeheuer neidisch.

Gun hatte vieles, aber ein Fahrrad hatte sie nicht. Eines Samstags auf dem Heimweg von der Schule fuhr ich an ihr vorbei. Ich ließ ein schrilles Klingeln ertönen, damit sie mich hörte.

Rasch packte sie das Rad am Gepäckträger. »Weißt du, daß es dieses Jahr eine Menge Pfifferlinge gibt?« fragte sie lächelnd. »Kommst du mit zum Sammeln?«

In den Pfifferlingwald durfte ich nicht radeln, das war zu weit. Aber trotzdem ... Daß Gun ausgerechnet mich fragte! Ich nickte und fühlte, daß ich ihr bis ans Ende der Welt folgen würde.

»Gut, dann steig ab«, sagte sie und nahm die Lenkstange. »Ich fahre, und du sitzt hinten.«

Gesagt, getan. Ich saß hinten und wurde durchgerüttelt. Die Arme hatte ich fest um Gun geschlungen. Sie trat mit starken Beinen in die Pedale. Aber die Sonne schien, und es war heiß. Wir waren noch nicht weit gekommen, als sie bremste.

»Jetzt mußt du nebenher rennen«, schnaufte sie. »Hier geht’s bergauf.«

Das stimmte gar nicht. Ich wurde ihr nur zu schwer. Kaum war ich vom Gepäckträger geklettert, radelte Gun so leicht wie nichts davon.

Ich rannte aus Leibeskräften, blieb aber trotzdem hinter ihr zurück. Manchmal wartete sie irgendwo im Schatten auf mich. Das war nett von ihr.

Wir mußten über die Ebene und dann durch einen großen, dunklen Wald. Schließlich kamen wir ans Meer. Blau und glitzernd breitete es sich vor uns aus. Die Wellen schlugen mit verlockendem Glucksen an die Steine am Strand.

»Gun, warte!« schrie ich. »Wir können doch unsere Strümpfe ausziehen und ein bißchen planschen!«

Aber Gun hatte keine Zeit. Sie fuhr weiter. Ich schwieg und sehnte mich nach dem vergangenen Sommer. Rennen konnte ich zwar nicht besonders gut, aber dafür schwamm ich wie ein Fisch. Im Wasser war es nur von Vorteil, ein bißchen rundlich zu sein. Während alle dünnen Heringe schon bald blaue Lippen hatten und bibberten, konnte ich so lange schwimmen, wie ich Lust hatte.

Aber der Sommer war vorbei. Jetzt war Pilzzeit, und Gun wollte nicht planschen.

Bei Johanssons Laden hätten wir abbiegen sollen. Aber Gun bremste und schmiß den Roten Blitz gegen eine Kiefer. Dann holte sie einen Bleistift und ein Stück Papier hervor und begann zu schreiben.

Als sie fertig war, faltete sie den Brief ordentlich zusammen. »Hier hast du fünf Öre«, sagte sie. »Geh zu Johanssons rein und kauf dir eine Tüte saure Bonbons. Dann gibst du dem Jungen hinterm Ladentisch den Brief. Aber heimlich!«

Im Laden war Kundschaft, ein alter Mann und eine alte Frau, daher hatte der Junge keine Zeit für mich. Er mußte drei Salzheringe aus einem Faß angeln und eine Tüte Schnupftabak abwiegen. Das war für den Alten. Die Frau wollte Holzschuhe kaufen. Die Holzschuhe hingen an Haken an der Decke. Sie probierte sämtliche Paare durch, aber keins paßte.

Auf dem Ladentisch standen zwei Gläser voller Bonbons. Ich hatte reichlich Zeit, mir die schönsten auszusuchen. Das Fünförestück klebte in meiner verschwitzten Hand, und der Brief in meiner Tasche zerknitterte immer mehr.

Ich wählte zur Hälfte gelbe Zitronenbonbons und zur Hälfte rote mit Himbeergeschmack. Die Tüte raschelte verheißungsvoll, und das erste Bonbon schmeckte himmlisch. Es war so sauer, daß es in den Wangen kribbelte.

Hinter einem Haselbusch hockte Gun und wartete. Ihr Gesicht leuchtete blaß unter den dunklen Ponyfransen, und ihre Augen funkelten vor Eifer. »War er da?«

Ich nickte mit dem Mund voller Bonbons.

»So, verschwinde jetzt«, sagte sie. »Ich warte, bis er kommt. Er fährt mich nach Hause.«

»Aber die Pilze? Wir wollten doch ...«

»Hau ab«, sagte sie und zeigte auf den Roten Blitz. »Wir gehen ein andermal Pilze suchen. Ach, übrigens, her mit der Tüte!«

Ich schleuderte sie ihr in den Schoß. Sie hatte mich reingelegt! Tränen brannten in meinen Augen.

Enttäuscht strampelte ich heimwärts. Ich schniefte und suchte in meiner Tasche nach einem Taschentuch. Ich konnte keines finden, aber dafür lag der Brief dort! Ich hatte vergessen, ihn abzugeben.

Rache ist süß. Ich versteckte den Brief tief unter einem Busch.

Allmählich wurde es dunkel. Bestimmt war es schon spät. Die Bäume ragten schwarz in den Himmel. Jetzt rauschten sie nicht mehr so friedlich wie vorhin. Ein bedrohlicher Gesang klang aus ihren Kronen herab.

Ich fuhr so schnell ich konnte durch den Wald. Jedesmal, wenn der Rote Blitz über Steine und Wurzeln flog, krachte und schepperte es gewaltig. Zufrieden blickte ich auf mein Fahrrad runter. Unglaublich, daß es ein solches Tempo schaffte, obwohl es so alt war! Ballonreifen waren doch nicht zu verachten.

Bald übertönte das Hämmern meines Herzens den düsteren Gesang der Bäume. Meine Stirn war schweißbedeckt. Aber die Schweißtropfen trockneten im Wind und brachten erfrischende Kühle.

Bei Tageslicht war mir der Weg durch den Wald nicht besonders weit erschienen. Aber jetzt! Obwohl ich beinah voranflog, war eine Ewigkeit verstrichen, als der Rote Blitz endlich die Straße erreichte. Daheim im Dorf waren schon die Lichter an.

Plötzlich spürte ich, wie alles unter mir verschwand. Wie ein Ballon segelte ich geradewegs in die Luft hinaus. Dann wurde der Abendhimmel weiß von lauter Sternen. Sachte, sachte erloschen sie wieder, einer nach dem anderen. Alles wurde still.

Auf einmal fühlte ich, daß meine Füße im Wasser steckten. Ich saß am Rand des Straßengrabens, und meine Beine hingen im Wasser.

Vorsichtig stand ich auf. Alles schien noch ganz zu sein, aber ich fühlte mich irgendwie benommen.

Doch wo war der Rote Blitz? Blinzelnd sah ich mich in der Dunkelheit um. Dort hinten ahnte ich etwas, das an ein Fahrrad erinnerte.

Die Lenkstange war verbogen. Das Vorderrad drehte sich nicht mehr. Ich mußte mein Fahrrad tragen!

Still! Was war das? In weiter Ferne war etwas zu hören. Ein Vogel? Oder eine Flöte?

Jetzt kam es näher. Ein Schatten tauchte aus der Dunkelheit auf. Und dieser Schatten pfiff. Zuerst erschrak ich fürchterlich und wollte davonrennen. Aber der Rote Blitz? Den konnte ich doch nicht einfach im Stich lassen.

Ich hörte, daß der Schatten eine Melodie pfiff: »Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord ...«

Lasse, der Sohn des Totengräbers! Er ging in meine Klasse, war klein und mager und blieb meistens etwas für sich.

Als er das Fahrrad erblickte, hob er es auf und trat gegen das Vorderrad. Dann suchte er einen geeigneten Stein und klopfte die Lenkstange damit wieder gerade.

»Jetzt kannst du fahren«, erklärte er. »Ich sitze hinten.«

Vorsichtig radelte ich los. Es ging! Stolz wie ein Schwan segelte der Rote Blitz die Straße entlang. Ich spürte, wie etwas Neues, Unbekanntes in meinem Herzen erwachte.

Zum erstenmal in meinem Leben war ich verliebt!

Als ich abends ins Bett kroch, dachte ich an den Brief, den ich im Wald vergraben hatte. Wie dumm von mir! Ich hätte ja wenigstens reinschauen können. Gun wußte bestimmt, wie man einen richtigen Liebesbrief schrieb. Ich dagegen hatte keine Ahnung.

Leise schlüpfte ich aus dem Bett und holte ein Blatt Papier. Dann lag ich lange da und kaute am Bleistift, und schließlich schrieb ich die schönsten Worte auf, die ich kannte:

»Mit meinem Gott geh ich zur Ruh

und tu in Frieden meine Augen zu,

denn Gott vom Himmelsthrone

über mich wacht

bei Tag und Nacht,

schafft, daß ich sicher wohne.«

Purzelbaum und Liebesbrief

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