Читать книгу Die Hexenprobe - Maj Bylock - Страница 7
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ОглавлениеEin Mann kam den Pfad entlanggeritten, der vom Berg herabführte. Er hatte die weise alte Ylva besucht, die tief im Wald in einem kleinen Häuschen lebte, und befand sich jetzt auf dem Heimweg.
Zwei seiner Kühe waren verschwunden, und er hatte geglaubt, sie seien gestohlen worden. Aber nun hatte Ylva ihm gesagt, wo sie zu finden seien.
Ylva konnte fast immer sagen, wo man suchen mußte, wenn man etwas verloren hatte, und sie konnte Kranke heilen. Niemand wußte, wie sie das machte, das war ihr Geheimnis. Aber alle wußten, daß Ylva sich fast nie irrte. Viele Menschen hatten Ylvas Wissen schon erprobt, und noch mehr hatten davon gehört.
Der Mann hatte es eilig. Seine Kühe seien nicht gestohlen, hatte Ylva gesagt. Sie hätten sich verirrt und seien unterwegs zum Moor. Er mußte sich sputen! Wenn die Kühe vor ihm zum Moor kämen, könnten sie in den Morast hinabgesogen werden und ertrinken.
Plötzlich blieb das Pferd auf dem Pfad stehen. Der Mann schnalzte ungeduldig und preßte ihm die Stiefelabsätze in die Flanken. Doch das Pferd blieb beharrlich stehen, schnaubend und stampfend.
Wenn ein Pferd einfach auf dem Weg stehenblieb, konnte das daran liegen, daß ein Geist sich an seinen Halfter gehängt hatte. Ein unseliger Geist, der sich danach sehnte, in geweihter Erde begraben zu werden, und daher zum Friedhof getragen werden wollte.
Der Mann war nicht ängstlich veranlagt. Er sprang vom Pferd. Es gab ein Mittel, wie man sich von Geistern befreien konnte – man mußte zwei gekreuzte Zweige vor die Pferdehufe auf den Weg legen. Das wollte er jetzt versuchen.
Rasch streckte er die Hand nach einem Tannenzweig aus. Doch der Zweig blieb ganz. Unter den Tannen entdeckte der Mann nämlich etwas Graues.
Ein Rock! Ein gestreifter Rock und eine schmutzige Schürze. Dort lag ja ein Mensch!
Erschrocken schob der Mann die Zweige beiseite. Er sah ein mageres Mädchen mit weißem Gesicht und einem hellbraunen Zopf. Die dünnen Arme lagen am Körper entlang ausgestreckt. War sie etwa tot?
Er wagte nicht, sie zu berühren.
Doch da senkte das Pferd seinen schweren Kopf und strich ihr mit seinem weichen Maul über die Wange. Sie stieß ein Wimmern aus und rollte sich auf dem Moos zusammen. Wollte nicht aufwachen!
„Genau wie die Kinder zu Hause, wenn sie frühmorgens aus dem Bett müssen“, dachte der Mann. Hier konnte sie nicht liegenbleiben! Der Wald war voller finsterer Mächte. Und vielleicht war sie ja krank.
Eigentlich müßte er sie auf dem Pferd ins Dorf mitnehmen. Aber er hatte es eilig! Entschlossen hob er das Mädchen auf und kehrte zu Ylvas Häuschen zurück. Die Alte konnte das Kind bestimmt wieder auf die Beine bringen. Ylva nahm das Mädchen sofort in die Arme.
„So, sieh jetzt zu, daß du zum Moor reitest“, sagte sie zu dem Mann. „Du wirst noch rechtzeitig hinkommen, um deine Kühe zu retten.“
Anneli schlug die Augen auf.
Sie sah eine alte Frau mit weißen strähnigen Haaren, deren Augen wie Feuerflammen brannten. Aber es waren gütige Augen. Sie wußte, daß sie diese Augen schon einmal gesehen hatte, allerdingst wußte sie nicht, wo, und nicht, warum.
Annelis Erinnerung an Ort und Zeit war verschwunden.
Und sie war so müde.
So schrecklich müde!
Ylva trug das Mädchen auf die Schlafbank neben dem Herd. Dort durfte sie schlafen, bis sie von selbst aufwachte.
Anneli schlief lange, und Ylva ließ ihr Zeit.
Zuerst lag das Mädchen völlig unbeweglich auf der Bank, als wollte sie nie mehr aufwachen.
Dann warf sie sich hin und her und murmelte wie im Traum.
Endlich streckte sie sich, und ihre Augenlider bebten.
Sie richtete sich auf und sah sich um. Wie war es möglich, daß sie am hellichten Tag auf der Ofenbank lag und schlief! Sie mußte doch ...
Ja, was mußte sie eigentlich? Verwirrt sank sie auf die Bank zurück.
Die Alte, die am Tisch stand und Brot aufschnitt, glaubte Anneli schon einmal gesehen zu haben. Aber wann?
„Wie heißt du?“ fragte die Alte freundlich.
Anneli öffnete den Mund, um zu antworten, aber kein Wort kam über ihre Lippen.
Wie hieß sie?
Wer war sie?
Sie konnte sich an keinen Namen erinnern!
Sie sah ihre Arme, die Schürze und den Rock an, als hätte sie das alles nie zuvor gesehen.
„Komm her und iß!“ forderte Ylva sie auf und zeigte auf eine Schüssel Grütze. „Wann hast du zuletzt gegessen?“ Gegessen?
Anneli konnte sich nicht daran erinnern, etwas gegessen zu haben. Vorsichtig biß sie in das Brot. Es schmeckte gut, aber sie hatte keinen Hunger, sondern kaute vor allem deshalb daran, weil sie nicht wagte, nein zu sagen.
Die Grütze rührte sie nicht an. Sie warf einen Blick auf die Bank, wo sie geschlafen hatte. Am liebsten wäre sie wieder dorthin zurückgehuscht, um sich erneut in die Dunkelheit sinken zu lassen.
Aber Ylva hatte etwas anderes mit ihr vor. Sie half Anneli, Gesicht und Hände von Tränen und Schmutz zu säubern. Löste den langen zerzausten Zopf, der voller Tannennadeln und Moos war. Kämmte die braunen Haare aus, bis sie weich und glänzend herabfielen.
Anneli saß ganz still da. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und ließ alles einfach mit sich geschehen. Erhob sich gehorsam und streckte die Arme hoch, als die Alte ihr die abgetragene Bluse über den Kopf streifte und ihr eine saubere anzog.
Der Rock war zerrissen. Er mußte gewaschen und geflickt werden. Die alte Frau holte einen anderen Rock aus der Kleidertruhe und zog ihn an der Taille zusammen, damit er dem Mädchen paßte.
Anneli sah ihr Bild im Spiegel des Wassereimers. Sie sah ein Mädchen, daß ihr fremd war, das aber sie selbst sein mußte.
Und hinter ihrem eigenen Gesicht tauchte eine alte Frau mit weißen, strähnigen Haaren und gütigen Augen auf.
Gleich neben dem Eimer stand ein Besen. Auf dem Boden lagen die Tannennadeln, die Ylva aus Annelis Haaren gekämmt hatte. Anneli holte den Besen und begann zu fegen.
Als der Wassereimer gefüllt werden mußte, ging sie zur Quelle.
Als der Holzkorb leer war, holte sie Holz.
Anneli spülte, wickelte Wolle auf und melkte die Ziegen. Nur eines tat sie nicht – sie trat unter keinen Umständen ans Feuer. Alles, was dort erledigt werden mußte, überließ sie Ylva.