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Inseln des Lebens und des Todes

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Die Inseln der Seligen

Kibu

Hawaiki

Hufaidh


Inseln des Lebens und des Todes

WENN WIR IN DEN HIMMEL blicken, stellen wir uns Götter vor, wenn wir auf das offene Meer blicken, Inseln. Abwesenheit ist etwas Furchterregendes, und so füllen wir die Lücken mit Erfundenem. Dies bringt uns seelischen Komfort, kollidiert aber auch mit unserem Wunsch nach Gewissheit und Verstehen. Und manchmal führt uns dieser Wunsch gerade die Abwesenheit dessen vor Augen, was wir ausfüllen wollten.

Seit die Menschen Geschichten erfinden, erfinden sie auch Inseln. Von jeher begegnen wir ihnen in der Literatur wie in der Legende. Für Gesellschaften, die am Meer leben, ist der Traum von anderen Ufern der natürlichste Traum überhaupt. Polynesier, Marsch-Araber, die alten Griechen und die Kelten: Sie alle haben sich Länder jenseits ihres Horizonts vorgestellt. Sie alle erzählten Geschichten von Inseln.

Diese Orte glichen nicht der Welt des Alltags. Es waren übernatürliche Gefilde, wo die Grenze zwischen Leben und Tod verschwamm. Das Meer trennt uns von anderen Ländern, so wie uns der Tod von den Lebenden trennt. Ein Übergang ist möglich, aber nur ein einziges Mal. Inseln sind also ideale Metaphern für andere Welten und das Nachleben. Sie stehen für sich und sind doch nicht unverbunden, weit entfernt und doch greifbar. Das Meer des Todes ist übersät von imaginären Inseln.

Heutzutage versuchen wir, eine rigide Grenze zwischen Fakten und Fiktionen zu ziehen. Aber Mythos, Aberglaube und Religion waren immer schon Teil des menschlichen Lebens. Sie haben unser Denken geformt und unsere Taten gelenkt. Wie wir unser Dasein begreifen, ist untrennbar mit den Geschichten verbunden, die wir uns erzählen. Und so mögen die Inseln in diesem Kapitel vielleicht dem Bereich der Mythologie angehören, weniger real waren sie deswegen aber nicht.


DIE VORSTELLUNG von einem Paradies auf Erden ist seit langem fester Bestandteil der europäischen mythologischen Tradition. In Homers Odyssee finden wir eine der ältesten bekannten Versionen, die elysischen Gefilde, wohin die Günstlinge der Götter gelangen. Nach Proteus, dem Alten vom Meer, „verläuft das Leben der Menschen“ dort „ganz ohne Mühe; es gibt dort keinen Schneefall, wenig Sturm und nie Regen, sondern ständig schickt Stöße des schneidend wehenden Westwinds Okeanus herauf, um abzukühlen die Menschen“. Kein Totenreich also, sondern eine Alternative zu ihm.

Doch die alten Griechen kannten nicht nur eine Fassung der Geschichte, die Idee war wandelbar und facettenreich. Zu Platons Zeiten, im 4. Jh. v. Chr., stellte man sich das Elysium zumeist als Insel oder Archipel im Westlichen Ozean vor. Es war als Weiße Insel oder Insel der Seligen bekannt und galt so manchem als ein Ort, nach dem alle streben konnten.

In Platons Dialog Gorgias umreißt Sokrates seinen Glauben auf eine Art, die deutlich die christliche Religion vorwegnimmt: Nach dem Tod werden Körper und Seele getrennt, doch behält jeder den Charakter, der ihm auch als Lebendem zu eigen war. Die Dicken bleiben dick, die Narbigen narbig. Zumindest für eine gewisse Zeit. Auch liegt alles „klar zutage an der Seele, wenn sie des Körpers entledigt ist, sowohl ihre natürliche Beschaffenheit wie auch die Eigentümlichkeiten, die der Mensch durch seine jeweiligen Beschäftigungen der Seele eingepflanzt hat“. Im Gegensatz zum Körper muss sich die Seele nach dem Tod dem Richtspruch der drei Söhne des Zeus unterwerfen. Aiakos urteilt über diejenigen aus dem Westen und Rhadamanthys über die aus dem Osten, während Minos die endgültige Entscheidung trifft. Jeder, der „ein ungerechtes und gottloses Leben geführt“ hat, kommt „in die Gefängnisstätte der Buße und Strafe … die sie Tartaros nennen“, während „derjenige, der sein Leben in Gerechtigkeit und Frömmigkeit vollbracht hat, nach seinem Tode nach den Inseln der Seligen versetzt [wird] und dort in voller Glückseligkeit [wohnt], fern von allem Leid“.

Sokrates wusste, dass dies für seine Zuhörer – die Rhetoriker Gorgias, Kallikles und Polus – ein Mythos war. Aber er regte sie an, dies zu überdenken. Er selbst habe ein wohlgefälliges Leben geführt und sei „beflissen“, dem Richter seine Seele „in möglichst gesundem Zustande vorzuführen“. Ob sie dasselbe Selbstvertrauen hätten? Man müsse sich, sagte ihnen Sokrates, mehr „vor dem Unrechttun als dem Unrechtleiden“ hüten und darum bemühen, „nicht gut zu scheinen, sondern gut zu sein, im persönlichen wie im öffentlichen Verkehr“. Nur dann sei das Paradies sicher.

Auch bei den Kelten gab es frühesten Überlieferungen nach eine gelobte Insel, ja sogar mehrere, darunter Tír na nÓg, das Land der ewigen Jugend. Dorthin brannte der junge Dichter-Krieger Oisín mit Niamh durch, der Tochter eines Meeresgottes namens Manannán mac Lir. Bei seiner Rückkehr nach Connemara drei Jahre nach der Heirat stellte Oisín fest, dass ein Jahr in Tír na nÓg einem Jahrhundert in Irland entsprach. Seine Familienangehörigen waren längst nicht mehr unter den Lebenden.

Auch andere solche Gefilde konnten synonym dafür stehen. Da gab es die Insel Mag Mell, Homers Elysium ähnelnd, wo Gottheiten und auserwählte Sterbliche ohne Schmerzen oder Krankheiten lebten. Dann war da Emhain Ablach und sein walisisches Pendant Ynys Afallon, die Apfelinsel. Fruchtreichtum war für die Kelten ein wesentliches Merkmal des Orts.

Im Mittelalter erlangte die Apfelinsel als Avalon Berühmtheit. Dort wurde das Schwert Excalibur von König Artus geschmiedet und dorthin auch sollte er sich nach seiner Verwundung in der Schlacht von Camlann zurückziehen. Geradeso wie bei den frühen Griechen hatte sich der heroische Artus seinen Platz dort verdient und seine Reise dorthin war eine Alternative zum Tod. Der Legende nach würde er eines Tages aus Avalon zurückkehren, um für sein Volk zu kämpfen: eine Art keltischer Messias.

Ein Großteil der Artussage stammt von Geoffrey von Monmouth. In seiner Vita Merlini (12. Jh.) beschreibt der Geistliche Avalon mit einigem Detailreichtum:

Die Apfelinsel wird auch die „glückliche Insel“ genannt, weil sie alle Dinge aus sich selbst erzeugt … Freiwillig schenkt sie dort Korn und Wein, und in den Wäldern wachsen Apfelbäume im stets geschnittenen Grase. Aber nicht nur schlichtes Gras, sondern alles bringt der Boden in Fülle hervor, und hundert Jahre und darüber währt dort das Leben.

In der Kartografie wurden die Glücklichen Inseln mit den Kanaren assoziiert und mittelalterliche Karten kannten sie als Insula Fortunata. Aber die mythischen Ursprünge des Namens gerieten keineswegs in Vergessenheit. Obwohl die christliche Lehre darauf beharrte, dass das Paradies in einer übernatürlichen Sphäre liege, entschwand die Vorstellung von einem gelobten Land auf Erden nie aus der Vorstellungswelt der Europäer. In England war das glückselige Land von Cockaigne Gegenstand zahlreicher Erzählungen und Gedichte, in Deutschland war es das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen, und in Spanien Jauja, ein Name, der nunmehr eine kleine Stadt in Peru bezeichnet.

Als europäische Entdecker im 14. und 15. Jh. weiter in den Atlantik vordrangen, erwarteten viele, dort draußen irgendwo ein solches Idyll zu finden. Später, nach Kolumbus, schien diese Erwartung eine Zeitlang eingelöst worden zu sein und Sprache und Bildwelt, die einst mit den Inseln der Seligen verbunden waren, wurden auf den neu entdeckten Kontinent übertragen. Das gelobte Land war gefunden, wie es schien, und es trug den Namen Amerika.



NACH IHREM TOD wurden die Körper der Bewohner der in der Torres-Straße gelegenen Insel Mabuiag im Freien auf ein Podest gelegt. Klanmitglieder des Ehepartners des Verstorbenen wachten über sie, um sicherzustellen, dass der Geist (mari) den Körper auch tatsächlich verlassen hatte. Außerdem schützten sie ihn vor den hungrigen Mäulern von Echsen.

Nach fünf bis sechs Tagen wurde der Kopf in ein Termitennest gelegt oder in Wasser, um das Fleisch abzulösen. Der Rest des Leichnams blieb in Gras gehüllt auf dem Podest, bis nur noch Knochen übrig waren.

Einmal gesäubert, wurde der Schädel rot gefärbt und, mit Federn und Haaren geschmückt, in einen Korb gelegt. Die angeheirateten Verwandten des Verstorbenen, welche für diese Rituale verantwortlich waren, vollführten dann ein ausgefeiltes Zeremoniell vor der Familie des Verstorbenen. Dazu bemalten sie sich schwarz und bedeckten ihre Häupter mit Blättern, bevor sie den Schädel dem am nächsten stehenden Verwandten übergaben. Ein Trostgesang für die Trauernden wurde angestimmt:

Wenn der Wind aus Norden kommt, ist der Himmel wolkenschwarz und es gibt viel Wind und strömenden Regen, aber es dauert nicht lange und die Wolken lösen sich auf und wieder ist schönes Wetter.

Andere Inseln der westlichen Torres-Straße hatten Rituale, die sich leicht davon unterschieden. Mancherorts wurde der Körper in einem flachen Grab beigelegt oder mumifiziert, anderswo der Schädel mit Bienenwachs und Muscheln geschmückt. Auf einer Insel – Muralug – wurde von der Witwe erwartet, dass sie den Schädel ihres Ehemanns ein Jahr lang in einer Tasche bei sich trug, während andere Familienmitglieder seine Knochen als Schmuck tragen durften.

Doch ein Element hatten sie alle gemein: den Glauben an eine Insel der Geister. Diese Insel namens Kibu lag jenseits des nordwestlichen Horizonts, und sobald sie dem Körper entschlüpft war, wurde die mari von den vorherrschenden Südostwinden dorthin getragen. Bei ihrer Ankunft wurde die Seele vom Geist eines Bekannten empfangen – normalerweise dem zuletzt verstorbenen Freund –, welcher sie bis zum nächsten Neumond verbarg. Dann kam sie wieder zum Vorschein und wurde den anderen Geistern vorgestellt, von denen ein jeder sie mit einer Steinkeule auf den Kopf schlug. Diese scheinbar nicht sehr freundliche Aufnahme war im Kern ein Initiationsritus und von da an war der mari ein markai: ein richtiger Geist.

Manche glaubten, die markai würden ihre Zeit weinend in Baumwipfeln zubringen, vielleicht in Gestalt von Fledermäusen. Aber die meisten stimmten darin überein, dass sich das Leben im Jenseits nicht so sehr von dem im Diesseits unterschied und die Geister ihre menschliche Gestalt behielten. Untertags würden sie mit Speeren nach Fischen jagen und am frühen Abend womöglich am Strand tanzen. Sie konnten auch Schildkröten und Dugongs (eine mit dem Manati verwandte Seekuhart) fangen, indem sie Wasserhosen produzierten, in deren Sog die Tiere gerieten.

Aber die Geister waren nicht auf Kibu beschränkt und manchmal zogen sie sogar gegen die Lebenden in den Krieg. Die Inselbewohner riefen die markai oft an, ob jeder für sich in Form von Wahrsagerei und durch Geisterbeschwörung oder in gemeinschaftlichen Zeremonien wie dem „Totentanz“, welcher üblicherweise mehrere Monate nach dem Tod eines Menschen abgehalten wurde.

Auf Mabuiag wurden diese Zeremonien tai oder einfach markai genannt und auf der nahegelegenen unbewohnten Insel Pulu abgehalten. Oft wurden damit mehrere Todestage gleichzeitig begangen und die Einzelheiten hingen davon ab, wessen und wie vieler Personen gedacht wurde. Das Wesentliche jedoch war die Verkörperung der Toten durch die Lebenden. Die Teilnehmenden rieben ihre Leiber mit Kohle ein und schmückten sich bis zur Unkenntlichkeit mit Blättern und Federkopfschmuck. Jeder nahm dabei den Charakter einer bestimmten Person an.

Die Darsteller trugen Pfeil und Bogen oder einen Besen und tanzten und hüpften vor den Zuschauern. Die Tänze hatten etwas eigenartig slapstickartiges an sich, etwa wenn ein Darsteller sich überschlug und umkippte, während andere lautstark Blähungen hatten. Das Zeremoniell endete mit Trommelschlagen und einem großen Fest.

Während des tai imitierten und verkörperten die Vorführenden die Toten, ein Trost für die Verwandten und ein Beharren auf der Fortexistenz der Seele. Man glaubte, der Geist sei in den Tanzenden präsent und bleibe Teil der Welt. Die Kluft zwischen Leben und Nachleben glich der zwischen Inseln: real, aber nicht unüberwindlich. Wie Kibu selbst war die Geisterwelt zugänglich und verständlich. Aber diese Zugänglichkeit sollte nicht für immer bestehen.

Die Riten und Glaubensinhalte der Inselbewohner der Torres-Straße wurden von Mitgliedern der Cambridge Anthropological Expedition am Ausgang des 19. Jhs. aufgezeichnet. Aber bereits damals begann sich alles schnell zu ändern. Die Regierung war, zusammen mit Missionaren, darauf bedacht, die eingeborenen Gebräuche zu verdrängen. Man bestand auf seelisch und körperlich hygienischeren Formen der Bestattung und die traditionellen Glaubensinhalte wurden nach und nach durch christliche ersetzt.

Auch Kibu wurde natürlich ersetzt, durch einen Himmel, der ganz und gar nicht der Welt der Inselbewohner entsprach. Die Nachwelt liegt heute nicht mehr einfach hinter dem nordwestlichen Horizont, sondern himmelwärts, völlig losgelöst von Inseln und Meer. Anders als Kibu entzieht sich der Himmel der Vorstellungskraft, und die Geister der Toten sind nun endgültig verschwunden.


Von Inseln, die keiner je fand

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