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Prolog

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Wir denken selten an das,

was wir haben,

aber immer an das,

was uns fehlt.

[Arthur Schopenhauer]

Kennt ihr das, wenn ihr aufwacht und euch fragt, wann ihr das letzte Mal richtiges Glück verspürt habt? Wann ihr so richtig glücklich wart? Damit meine ich nicht Freude oder Spaß. Ich spreche von diesem Gefühl, dass ihr vor Glück kaum atmen könnt. Jenes, welches euch Tränen vergießen lässt. Glaubt ihr an das Schicksal? Also ich schon. Wieso ist das Schicksal manchmal so ungerecht? Wieso gibt es Menschen die im Lotto Millionen gewinnen, während andere Hunger und Leid ertragen müssen? Wahrscheinlich zieht man vor seiner Geburt ein Los …

Na ja und irgendwann, wenn das Schicksal wieder einmal zugeschlagen hat, kommt für jeden der Moment, in welchem man seiner Trauer freien Lauf lassen muss, oder nicht? Es gibt keine Menschen, die immer nur stark sein können - selbst der kräftigste Mann der Welt nicht. Nein, jeder kommt früher oder später an diesen Punkt, wo man schwach irgendwo landet und seiner Trauer, seinen düsteren Gedanken freien Lauf lässt. Egal warum, egal weshalb. Jeder Mensch hatte sein eigenes Schmerzempfinden. Manche konnten eine Menge leid ertragen, sei es der Verlust eines geliebten Menschen oder gar eine Misshandlung. Andere wiederum ließen sich durch Ausgrenzung, finsteren Erlebnissen oder durch das erdrückende Gefühl der Einsamkeit in die Knie zwingen. Ihr fragt euch, in welche Kategorie ich zähle? Letzteres.

Jeder bereut doch etwas. Jeder hat doch tief in seinem Herzen ein kleines schwarzes etwas, welches man immer mit sich herumträgt, aber meistens nur still in einem schlummert. Meistens jedenfalls… Bis etwas geschah, was einem den Boden unter den Füßen wegzog und man es freiließ. Dieses kleine schwarze Etwas, was sich schnell zu einem großen Loch entwickeln konnte, von dem man glaubte, es niemals schließen zu können, aber irgendwie es dann doch – jedes Mal aufs Neue, schaffte, es zurück in sein Innerstes zu drängen. Auch ich hatte diese schwachen, schwarzen Momente. Vielleicht sogar mehr, als die meisten von euch. Ich sollte mich wohl erst einmal vorstellen, bevor ich euch weiter in meine Geschichte einleite. Ich heiße Jane Roth und bin eine ganz normale 24-jährige Frau, die in der Nähe von Dresden lebt. Also, nur um das jetzt Mal klarzustellen, ich bin wirklich normal. Ich besitze keine Superkräfte, unglaubliche Aura oder wahnsinnige Schönheit. Nein, die ganz sicher nicht, aber ihr müsst verstehen, dass ich eine von euch bin und nicht die Heldin dieser Geschichte.

Meiner Geschichte.

Es gibt nur einen Helden und dieser sollte männlich sein. Aber dazu komme ich noch früh genug.

Jedenfalls bin ich und mein Leben eben ziemlich gewöhnlich. Wie jeder Durchschnittsbürger eben. Ich will jetzt auch nicht so rüber kommen, als wäre ich nicht zufrieden damit. Ich besitze zwar keine Markenklamotten oder kein teures Auto, aber das ist auch nichts, was ich wollte.

So etwas Oberflächliches brauche ich nicht.

Aber natürlich hätte ich gerne das, was Sie hat.

Sie, meine liebe und engelsgleiche Schwester Jessica. Sie ist gut aussehend, intelligent und bekommt immer das, was sie will. Im Vergleich zu ihr, bin ich das reinste Mauerblümchen, nein, die reinste Nonne. Wer hätte denn auch nicht gern ein perfektes Aussehen? Ich meine, nicht einmal ein einziger Pickel hat sich in all den Jahren in ihr Gesicht verirrt! Wie machten diese Menschen das nur? Sie hatte eine so strahlend schöne Ausstrahlung, dass wohl selbst der Spiegel an der Wand ihr jeden Tag zurief, dass sie die schönste im ganzen Land sei. Jede Bewegung von ihr erinnerte mich an eine Balletttänzerin. Anmutig, bedacht und selbstsicher.

Um für euch einen Vergleich zuziehen, ich bin da eher Goofy.

Natürlich beneidete ich sie um ihre so schönen, blauen Augen, die zwar ziemlich kühl und bösartig blicken konnten aber dennoch ihre Intelligenz unterstrichen, die sich hinter ihrer Platin blonden Mähne verbarg. Natürlich verstand ich nicht, weshalb sie so viel Make-up im Gesicht trug, obwohl sie doch so eine verflucht, natürliche Schönheit besaß, um die sie mit Sicherheit viele beneideten.

Ich verstand einfach nicht, weshalb sie sich ihre Brüste vergrößern hatte lassen müssen, obwohl ihr Körper auch schon vorher die perfekten 90-60-90 gehabt hatte. Nur, um es mal anzumerken, ich habe vielleicht gerade mal Körbchengröße A. Aber jeder war seines Glückes Schmied, nicht war?

Obwohl wir doch dieselben Gene haben mussten, besaß sie so eine zierliche und kleine Statur, während ich mit meiner breiten Schulter, meinem nicht gerade flachen Bauch und meinem üppigen Po, mehr kurven hatte, als ein Formel 1 rennen. Klar, gegen den Heißhunger auf Schokolade konnte man etwas unternehmen, aber habt ihr schon mal eine Spätschicht geschoben, ohne dabei diese miesen Fressattacken zu bekommen? Habt ihr euch schon mal den Lobgesang eurer Eltern anhören müssen, die stundenlang nichts anderes taten, als meiner Schwester in ihren kleinen – aber sicherlich zuckersüßen, Arsch zu kriechen und ihr zu sagen, wie stolz sie auf sie waren? Mein Gott, wie sollte man das anders aushalten, als nebenbei ein paar Kekse oder Kuchen zu futtern? Ich will ja nun auch nicht lügen und sagen, ich sei Fett und dumm, aber verdammt, warum war sie nur so schlank? Warum ähnelten wir uns kein bisschen? Ich bewegte mich doch viel mehr als diese Tussi, die mit ihren mega High Heels, ihren knappen Röcken und den engen Shirts zu Vorlesungen gestöckelt war. Sie, die nichts anderes konnte, als ihr Gesicht in ein Kunstwerk zu verwandeln, hatte alles bekommen, was sie schon immer gewollt hatte – egal von wem. Sie brauchte nur mit ihren unechten Wimpern zu klimpern und schon lagen ihr alle Menschen zu Füßen. Woran das wohl lag? Vielleicht sollte ich aber weiter ausholen, damit ihr mich besser verstehen könnt?

Schon als wir klein waren, hatte ich sie beneidet. Darum, dass sie die Schulschönheit gewesen war. Beliebt, gemocht und akzeptiert. Ich wurde vom ersten Moment an, der ersten Unterrichtsstunde meines Lebens schon gehasst und ausgegrenzt.

Für mich war die Schule früher ein Ort gewesen, an dem es einzig und allein um mein Überleben gegangen war. Ich hatte mich zu Hause in meinem Zimmer verkrochen und Bücher gelesen, Videospiele gespielt, nur um mich davon abzulenken, dass ich am nächsten Tag wieder dort hin musste. In diese Hölle aus Fieser und grausamer Kinder. Freunde? Zu dieser Zeit hatte ich nicht einmal die Bedeutung von Freundschaft verstehen können. Wirklich echte Freunde fand ich erst in der Berufsschule. Davor war alles nur schwarz, leer und einsam. Kennt ihr das Gefühl, dass fünfte Rad am Wagen zu sein? Aus der Not heraus akzeptiert zu werden? Gott, wie ich diese Klassenfahrten und Gruppenarbeiten gehasst hatte. Oder gar den Sportunterricht! Horror pur für einen Außenseiter wie mich. Warum diese Kinder das getan haben? Wer weiß, vielleicht saß ich einfach am falschen Ort, hinter den falschen Menschen? Vielleicht war es aber auch nur mein Schicksal gewesen. Ihr kennt doch sicherlich diese Personen, um die sich immer alle scharren? Die der Mittelpunkt jeder Schulklasse sind, weil jeder zu ihm oder ihr gehören will. Na ja, genau so jemand war Sie. Der Mittelpunkt dieser Scheiß Welt, die in genau zwei Klassen aufgeteilt war. Verlierer und Gewinner. Loser und Champions.

Glücklicherweise waren wir 4 Jahre auseinander und so hatte ich ihre Beliebtheit nicht lange ertragen müssen.

Jedenfalls, gut für mich war ihr Wunsch, eine erfolgreiche Anwältin zu werden und damit haufenweise Kohle zu verdienen. Dieser Job passte zu ihr, denn Jess hatte wahrlich eine gute Intuition. Sie besaß eine gute Menschenkenntnis und die Fähigkeit, sich jeden gefügig zu machen. Damit stand ihr eine große Karriere bevor.

Die Zeit verstrich und alles bewahrheitete sich.

Jess arbeitete an ihrem Ruf und ich schaffte irgendwie meinen Abschluss. Suchte mir eine Lehre und verdiente mein eigenes Geld. Ihr ahnt nicht, wie froh ich damals gewesen war, von diesen Menschen endlich wegzukommen. Mit der Lehre begann auch für mich ein neues Leben. Tja und danach, weitere Jahre später, wohnte ich bereits in meiner eigenen Wohnung, während meine Schwester jeden Tag mit ihrem hübschen kleinen Neuwagen durch die Stadt fuhr. Wohlgemerkt von Mami und Papi gesponsert. Als würde sich die Prinzessin mit einem gebrauchten zufriedengeben … Hätte ich noch ein Jahr länger zu Hause wohnen müssen, hätte ich mir definitiv ein Beispiel an Hannah Baker genommen. Denn tote Mädchen lügen nicht. Aber so weit war ich noch lange nicht an dem Abgrund aus Selbsthass und Selbstmitleid angekommen, dass ich mich in eine Badewanne setzen und mir die Pulsader aufritzen würde. Ansonsten könntet ihr das hier ja auch nicht lesen, nicht war? Ich schweife ab …, wo war ich? Ach ja, ich hatte endlich meine Sachen packen und aus diesem Irrenhaus ausziehen können. Es war das Erste, was ich getan hatte, nachdem ich auch die Berufsschule absolviert hatte. Weit weg von meinen blinden Eltern, weit weg von dieser Angebertussi die mich ohnehin nur beleidigte und niedermachte. Jess hat sich wirklich zu einer Furie entwickelt, wenn ich nun an früher dachte. Ich liebe meine Eltern, wie könnte ich sie auch nicht lieben? Und ich weiß, dass sie auch mich – wenn auch auf ihre Art und Weise, liebten. Vermutlich wollten sie einfach nur schon immer mein bestes, so wie es über fürsorgliche Eltern eben tun. Aber ich war eben – Gott weiß warum, nie wie meine Schwester. Ich wollte von Anfang an mein eigenes Leben. Ich wollte unabhängig sein, nichts von ihnen geschenkt und finanziert. Das, was ich von ihnen immer nur gewollt hatte, war ihre Liebe und Zuneigung. Nein! Das, was ich von ihnen am meisten hören wollte, war das sie stolz auf mich waren. Aber warum sollten sie das auch sein? Ich wollte nicht studieren, wahrscheinlich hätte ich es dank meinem IQ auch ohnehin nicht geschafft.

Vielleicht lag es auch einfach daran, dass es für mich in der Schule mehr ums Überleben gegangen war, als darum etwas zu lernen. Aber meine Schwester hatte den Weg vorgezeichnet und ich hatte ihr zu folgen. Leider tat ich dies eben nicht. Zum Unglück unserer besorgten Eltern.

Sie merken einfach nicht, wie sie von ihr tagtäglich um den Finger gewickelt werden und genau das ärgert mich, versteht ihr? Während ich mir aus dem ersparten Geld einen Gebrauchtwagen gekauft hatte, war für meine Sis klar, so etwas wäre unter ihrer Würde. Wie sähe das auch aus? Eine Jura Studentin, mit einem kleinen VW-Golf, oder einem Opel? Nein, sie mussten ihr extra einen hübschen, funkelnden Mini kaufen, der so rot war, wie ihre immerzu geschminkten Lippen. Sie braucht ständig Geld für Klamotten und Partys und ich glaube, 100 Euro im Monat wären für sie nicht mal annähernd genug. Ich verstehe ja, dass sie als Studentin noch kein Geld verdient, aber es gibt doch so viele, die sich mit Nebenjobs etwas dazu verdienen. Die nicht immer Klamotten von teuren Marken tragen mussten und damit ihren Eltern noch mehr Geld aus der Tasche zogen, als sie für das Studium ohnehin schon hinblätterten. Jeder andere würde zumindest einen Funken Dankbarkeit dafür ausdrücken, was unsere Eltern da für sie tun! Aber wahrscheinlich kannte sie nicht einmal das Wort und deren Bedeutung, ganz gleich, wie hoch ihr Intelligenzquotient auch war. Nein, sie wollte ihre Freizeit lieber dafür nutzen, sich die Nägel – oder besser gesagt Krallen, zu lackieren. Mit ihren Freunden durch die Klubs zu ziehen, Männer abzuschleppen und in ihrem Zimmer von ihnen flachgelegt zu werden wie eine billige Nutte. Und mal im Ernst, wer wünscht sich zu seinem 25 Geburtstag von seinen Eltern eine Brustvergrößerung? Wenn sie psychische Probleme damit gehabt hätte okay, aber das Einzige, was sie damit wohl wollte, war mehr Männer anzuziehen. Für ihren Job einen Vorteil zu haben. Mehr angeben zu können.

Besser zu sein.

Perfekter.

Und dafür hatten unsere Eltern fast 5000 Euro hingeblättert …

Warum sie das alles machen?

Glaubt mir, das frage ich mich schon all die Jahre, aber es ist sinnlos, dass zu verstehen. Es ärgert mich einfach, dass sie ihr das Geld hinterher schmeißen, ohne etwas dafür zu verlangen. Das sie Jess so verziehen, dass sie sich wohl schon selbst für die Königin dieser Welt hielt. Wenn ihr sie erst einmal kennenlernt, werdet ihr das besser verstehen. Ihre Art und weise lässt sich wirklich schwer in Worte fassen. Wer weiß, ansonsten war sie ja immer ihr Engel. Lieb, nett, konnte Gut mit den Augen betteln. Eine typische vorzeige Tochter eben. Sie hatte immer das aller beste Zeugnis und auch im Studium war sie unter den besten Studenten überhaupt. Vielleicht war es eben einfach nur ihr Stolz auf sie. Vielleicht wollten sie meine Schwester damit loben und weiter anspornen, ihr Bestes zu geben.

Meine Schwester hatte mir schon früh eingeredet, wie hässlich und fett ich doch war und ja, zu Grund- und Mittelschulzeiten war ich das wohl auch gewesen. Wenn man von nichts und niemanden akzeptiert wurde, war Schokolade manchmal das einzige Mittel um Trost zu finden. Ich habe ihr geglaubt, da selbst meine Schulkameraden das von mir dachten. Sie gaben mir merkwürdige Spitznamen, schlugen mich im Sommer, im Winter steckten sie mich in den Schnee. Im Unterricht bewarfen sie mich mit Gegenständen. Ich hatte schon früh einsehen müssen, dass mein Leben anders sein würde, als das von meiner Schwester, als das von so vielen Kindern dort draußen. Ich hatte früh gelernt, manches einfach zu akzeptieren.

Wie hätte ich meinen Eltern auch noch sagen können, dass ich gemobbt und ausgegrenzt wurde? Dann hätten sie sich Sorgen gemacht und wären erst recht nicht stolz auf mich gewesen, wo meine Schwester doch die beliebte Klassenkönigin gewesen war. Die, die immer Freunde mit nachhause brachte, während ich allein in meinem Zimmer saß, mit einer Packung Kinder Riegel, während eine Folge Sailor Moon über meinen damaligen Fernseher flimmerte.

Dann, mit dem Beginn des Berufslebens, der Beginn eines neuen Lebensabschnittes, hatte sich meine Welt zumindest in einen Grauton verfärbt. Ich hatte Freunde gefunden, zu denen ich hatte flüchten können, wenn es mir Zuhause wieder einmal zu viel wurde. In den Augen meiner Eltern waren sie Nerds, Loser, Außenseiter, vielleicht sogar einfach nur ein paar verrückte Idiotien. Aber sie verstanden mich, teilten meine Hobbys und Leidenschaften. Wir hatten uns damals getroffen, um einfach nur abzuhängen, Serien gesuchtet und waren auf fast jeder Nerd Convention in der Gegend gewesen. Genau deshalb war ich wohl in ihren Augen der Rebell, im Gegensatz zu meiner engelsgleichen Schwester, die für so einen Kinderkram keine Zeit in ihrem Leben hatte. Aber wer weiß, vielleicht holte ich nur meine nicht vorhandene Kindheit nach? Für meine Eltern war es einfach unvorstellbar gewesen, dass ich mir nicht auch ein paar Busenfreunde anschaffte, Pyjamapartys schmiss, mir mit ihnen ebenfalls die Nägel lackierte und über Promis tratschte, die in der Bravo abgebildet waren. Warum wir nicht wie normale Teenager in Klubs und Bars abhingen. Eben normale Dinge für unser Alter taten. Aber was war schon normal in dieser Welt? Wer legte den bitte fest, was für unser Alter schon normal gewesen war?

Wie auch immer, deshalb war Sie ihr Engel und ich das böse, versagende Gegenstück. Wahrscheinlich war das heute auch noch so. Was hatte ich schon zu bieten? Zumindest waren mir diese Freunde selbst nach der Ausbildung geblieben. Im Grunde sind es sogar mehr geworden. Ganz so einsam war ich deshalb nicht mehr. Zurück betrachtet war die Berufsschule wohl die schönste Zeit meines Lebens. Dort gab es noch so wenig Verantwortung, weniger Probleme. Ich wurde akzeptiert, gemocht und nicht beschimpft und gehasst.

Dort hatte ich Hoffnungen gehabt. Hoffnung, dass ich all das Grauen überlebt hatte und nun alles besser werden würde. Diese hatte ich zumindest ganze zwei Jahre in mir verspüren dürfen. Bis zum letzten Jahr. Bis Er aufgetaucht war …

Er, der meine Welt aufs Neue eingerissen hatte.

Wieso war nur alles so gekommen? Warum waren unsere Schicksale so Grund verschieden? Könnt ihr mir das vielleicht mal erklären? Immerhin sind wir doch von den gleichen Eltern aufgezogen worden? Sind im gleichen Umfeld aufgewachsen? Also warum dann? Als Kind hatte ich immer so sein wollen wie sie, nur um endlich akzeptiert zu werden. Um das haben zu können, was auch sie gehabt hatte. Mittlerweile war ich froh, dass es nicht so war. Dad hatte viel Geld, allerdings arbeitete er auch hart dafür und ja, natürlich hatten wir dadurch einen gewissen Standard. Aber musste man ihn deshalb gleich so ausnehmen, wie meine Schwester es tat?

Ich sah, wie wenig Geld er für sich oder Mom ausgab. Wusste durch belauschte Gespräche, dass ihr Studium sein Geld fraß. Das und wohl ihr immens hohes Taschengeld. Vielleicht hatte ich auch ausziehen wollen, um ihnen nicht länger auf der Tasche liegen zu müssen. Aber wirklich richtig vertrieben hatte mich Charlie. Charlie Benz, ihr erster Freund. Grundgütiger, wie ich diesen Muskelprotz gehasst hatte. Ihr wisst doch, wie diese Schönlinge sind. Hübsch, sich selbst überschätzend und die reinsten Flachzangen. Aber so wie meine Schwester jede Nacht das Haus zusammengeschrien hatte – und ja, ihr Zimmer lag neben meinem, musste er ja zumindest im Bett richtig was drauf gehabt haben. Dumm nur, dass sie Schluss machte, kurz, nachdem ich ausgezogen war.

Lange rede kurzer Sinn, ihr versteht jetzt, was ich meine oder, wenn ich euch sage, dass das Schicksal echt beschissen sein kann? Ich bin so vieles, was sie nicht ist, als wäre sie Yang und ich Yin. Wir waren für immer miteinander verbunden, obwohl wir doch so unterschiedlich waren. Ich war so viel Durchschnitt und sie so herausragend in allen Dingen. Egal ob beim Zeichnen, Sport, Spiele oder sonst irgendetwas. Alles, was sie anfasste, wurde perfekt, als wäre sie bei ihrer Geburt durch einen Engel gesegnet worden. Ich war da nur der Tollpatsch mit den zwei linken Händen.

Ich war eben ich. Eine brünette Frau, die nicht dumm und nicht dick war. Die in nichts wirklich gut zu sein schien. Die gern mal Dinge fallen ließ, über ihre Füße stolperte oder Sachen schnell wieder vergaß. Ich stand schon immer in ihrem Schatten und ja in manchen Momenten hasste ich es. Ich wollte ja überhaupt nicht beliebt sein. Ich wollte nicht, dass diese Aufmerksamkeit, die ihr immer zuteilwurde, plötzlich auf mich traf. Ich wollte einfach nur, dass ich aufhörte, mich mit ihr zu vergleichen. Ich wollte akzeptiert und gemocht werden. Wollte, dass dieses elende Gefühl, meine Eltern und am meisten mir selbst nicht gerecht zu werden, endlich von meinen Schultern verschwand, welches auf mir lastete und mich zunehmend zu Boden warf. Und auch, wenn ihr mir das jetzt vielleicht nicht glauben wollt, möchte ich wirklich nicht mehr mit meiner Schwester tauschen. So sehr beneidete ich sie heute längst nicht mehr. Ich war 24, sie 28. Wir waren erwachsen geworden und jeder hatte sein eigenes Leben. Ich wollte nicht mehr so sein wie sie, denn auch ich hatte Dinge, die sie wohl niemals haben würde. Ich könnte euch jetzt haufenweise Gefühle aufzählen aber sagen wir einfach mal, dass sie einen miesen Charakter hat. Sie kennt kein Dank, kein Mitgefühl. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, wie man wirklich liebt, immerhin wechselt sie die Männer, wie ihre Unterwäsche. In meinen Augen war sie ein kaltes, gefühlloses Miststück geworden. Egozentrisch, arrogant und selbstgerecht. Egal wie klug und hübsch sie auch war und egal, wie sehr das Glück auch an ihr haftete, wie an mir das Pech, niemals würde ich meinen Charakter gegen ihren Körper ersetzen wollen. Niemals mein Chaotisches, aber auch normales Vorstadtleben, mit dem ihres oberflächlichen Lebens tauschen. Niemals würde ich meine Freunde gegen ihre Schönheit eintauschen wollen.

Eigentlich schon traurig, dass man so über seine Schwester reden muss und ich hoffe wirklich, dass das bei euch nicht auch so ist. Aber ich hatte eben noch nie das Gefühl gehabt, meine Schwester zu lieben. Wir beide waren einfach zu verschieden, als das wir uns lieben konnten. Meine ganze Familie war ein einziges Desaster. Vermutlich mehr meinetwegen.

Es lag alles an mir.

Selbst an diesem einen Moment, der mich erst recht zerstörte, war ich schuld. Aber das ist etwas, worüber ich jetzt nicht reden kann, nicht jetzt, wo dieses schwarze Loch über mir lag, wie düsterer Nebel. Daran zu denken, war die eine Sache, darüber zu reden eine andere. Es machte es … irgendwie real, versteht ihr? Ihr werdet schon noch früh genug erfahren, wie dumm und naiv ich im letzten Ausbildungsjahr gewesen war.

Wie auch immer, man liegt, wie man sich bettet.

Ich war eben da.

Existierte.

Ging durch mein Leben, als wäre nichts. Aber tief in mir drin, so wie jetzt auch, war dieses kleine schwarze Loch, welches ich wieder zurückdrängen musste. Welches morgen früh, wieder in meinem Herz schlummern würde, als wäre es gar nicht da. Tief in mir drin war ich eine ziemlich kaputte Person, oder?


Nun ja, diese Geschichte wäre wohl ziemlich langweilig, wenn ich weiterhin so über sie und mich philosophieren würde. Wenn ich euch nur erzählen würde, was mit mir alles nicht stimmte. Wen sollte das auch interessieren? Aber wisst ihr, da gab es jemanden, der alles durcheinander brachte. Den Helden dieser Geschichte. Jemanden, der nicht nur mich veränderte, sondern aus meiner Existenz ein Leben machte, für welches es sich plötzlich zu kämpfen lohnte. Jemand, der nicht das war, für den ich ihn anfangs gehalten hatte.

Aber dieser Mann besaß nicht nur Einfluss auf mich.


Dieser jemand, war wohl der gefährlichste Mann, dem wir beide jemals begegnet waren.

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