Читать книгу Drachenjungfrau - Manfred Baumann - Страница 10
Kapitel 4
ОглавлениеEin junger Mann mit Drillichjacke deutete Merana an, wo er sein Auto abstellen konnte. Offenbar halfen die Kollegen von der örtlichen Feuerwehr den wenigen Polizeibeamten beim Einweisen der Fahrzeuge und bei der Kontrolle der Absperrungen. Merana stieg aus dem Wagen. Das Erste, das er wahrnahm, war ein gewaltiges Rauschen. In der Ferne leuchtete ein weißes dampfendes Band zwischen den Bäumen der steil aufragenden Anhöhe. Das musste der oberste der drei riesigen Wasserfälle sein. Die Parkplätze vor dem Eingangsbereich zu den Fällen waren voll mit Bussen. Hunderte von Leuten standen herum, Besucher, die Einlass begehrten, um das Naturschauspiel der Krimmler Fälle zu erleben. Wenn Merana sich recht an den Bericht erinnerte, den er vor Kurzem gelesen hatte, dann kamen jährlich an die 400.000 Menschen hierher. Die Krimmler Wasserfälle gehörten zu den größten Touristenattraktionen Österreichs. Und davon heute, an diesem strahlend schönen Sommertag, ausgeschlossen zu werden, behagte dem Großteil der Anwesenden überhaupt nicht. Eine rothaarige Frau an der Spitze einer Menschengruppe, die alle mit denselben Taschen und Kappen ausgestattet waren, redete erbost auf einen der Feuerwehrleute ein. Zwei Jugendliche, aus deren Ohren weiße Kabel hingen, versuchten, unter einem Absperrband durchzuschlüpfen. Sie wurden aber von einem weiteren Feuerwehrmann energisch zurückbeordert.
»Herr Kommissar Merana?«
Er wandte sich um und blickte in das Gesicht einer Frau in Polizeiuniform. Sie streckte ihm die Hand hin. »Grüß Gott. Gruppeninspektorin Ulla Heilmayer, Polizeiinspektion Krimml. Ich bringe Sie hinüber zum Tatort.« Sie wartete gar nicht Meranas Antwort ab, sondern marschierte rasch voraus. Einen derart schnellen Schritt und diese Gewandtheit in der Bewegung hätte er der Frau auf den ersten Blick gar nicht zugetraut. Ihre Figur erinnerte ihn an eine Hammerwerferin: muskulöse Arme, breiter Rücken, breite Hüften. Und gegen die Oberschenkel der voranstapfenden Frau waren seine sicher kümmerlich. Sie passierten die niedrigen Holzhäuser mit den Souvenirläden. Eine Legion pelziger Kuscheltiere, irgendeine hässliche Kreuzung aus Murmeltier und Koalabär, grinste Merana an, als er an den vollgefüllten Ständern vor den Verkaufsläden vorbeieilte. Mit jedem Schritt, den er der voraushastenden Beamtin folgte, schwoll das Rauschen an. Dann erreichten sie den Platz zwischen den Bäumen am Fuß des Falles. Merana war überwältigt von dem Bild, das sich ihm bot. Er kam sich vor, als wäre er mit einem Schlag zurückversetzt in die Entstehungszeit der Erde. Getrieben von einer gewaltigen Urkraft schoss ein riesiger Schwall schneeweiß schäumenden Wassers vorbei an majestätisch aufragenden Fichten über schwarze Felsen herab zu ihnen. Ein ewiges Donnern. Unaufhörlich, mit stetiger Wucht, als gebe es kein Gestern und Morgen, nur ein Jetzt. Doch das beeindruckende Bild wurde gestört. Signalgelbe Absperrbänder, die rund um den kleinen felsigen Platz am Fuß des Wasserfalls gespannt waren, brachten eine hässliche Note ins malerische Gesamtensemble. Dazu das grelle Orange der Overalls, in denen Menschen steckten, die mit professioneller Geschäftigkeit ihrer Arbeit nachgingen und jeden Zentimeter des steinigen Bodens inspizierten. Am meisten störte das harmonische Bild der auf den Steinen hingestreckte Körper einer jungen Frau, die am Rand der schäumenden Ache lag. Merana zögerte. Er hatte in all den Jahren, in denen er zu Orten eines gewaltsamen Todes gerufen worden war, nie die Gewohnheit abgelegt, solche Plätze ohne eine geraume Zeit des vorherigen Abwartens zu betreten. Er hatte zu viel Ehrfurcht vor der immer noch spürbaren Präsenz des Todes, zu viel Respekt vor den Hüllen aus menschlichem Fleisch, in denen Stunden oder Tage, manchmal sogar Jahre davor noch Leben gewesen war.
»Möchten Sie nicht die Leiche inspizieren, Herr Kommissar?« Die blonde Beamtin an seiner Seite hatte die Stimme erhoben, um das heftige Rauschen des Wassers zu überschreien. Merana erwiderte nichts auf die Frage der Kollegin. Er atmete zweimal tief durch und setzte sich langsam in Bewegung. Es war Zeit, die Arbeit aufzunehmen, die Distanz zu überwinden, die der Tod hinterlassen hatte. Es galt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln herauszufinden, was an diesem Ort passiert war. Wer hatte Schuld daran, dass diese junge Frau hier tot auf den kalten Steinen lag? Er näherte sich langsam der Gestalt. Die Frau hatte keine Schuhe an, das war ihm schon vorhin aufgefallen. Die zierlichen Füße waren nackt. Unterschenkel und Knie zeigten Abschürfungen. Sie trug eine Art Dirndlkleid aus dunklem Stoff. Auf der hellroten Schürze erkannte Merana ein Muster aus angedeuteten Blumen. Das Dekolleté war weit geschnitten, die Wölbung des Busens gut zu sehen. Ein Teil der langen blonden Haare bedeckte die Brust. Dennoch nahm Merana auch hier auf der Haut Striemen mit eingetrocknetem Blut wahr. Die schlimmsten Verletzungen hatte die Tote am Kopf. Mein Gott, wie jung, durchfuhr es Merana, als er ihr Gesicht sah. Keine 20 Jahre alt, vielleicht nicht einmal 16. Eine blühende Schönheit. Und nun geschunden und übel zugerichtet. Trotzdem erweckte die Tote den Eindruck, als schliefe sie nur.
»Wissen wir schon, wer sie ist?«, fragte Merana laut in die Runde.
»Ja, das ist Lena Striegler«, rief die Beamtin, die ihn hergebracht hatte. »Die große Hoffnung des Oberpinzgaus.«
Merana verstand nicht, was die Kollegin meinte.
»Hoffnung des Oberpinzgaus? Wofür?«
Anstelle der Polizistin antwortete eine Männerstimme hinter seinem Rücken:
»Für den Gewinn des Hauptpreises. Als ›Austrias Marketenderin des Jahres‹. Schauen Sie kein Fernsehen, Herr Kollege?«
Die Stimme des Mannes war dunkel und kräftig. Er hatte wenig Mühe, das Grollen des Wasserfalls zu übertönen. Merana wandte sich um. »Das ist mein Kollege, Revierinspektor Peter Ankerl.« Die Gruppeninspektorin deutete auf einen jungen Mann, der ebenfalls Polizeiuniform trug. Mitte 30, schätzte Merana, sportlich, als gesamte Erscheinung nicht unsympathisch. Auffällig war nur, dass der junge Mann eine dunkle Sonnenbrille trug, obwohl es hier am Fuß des Wasserfalls nahe den Bäumen schattig war.
»Sind Sie lichtempfindlich?«, fragte Merana und deutete auf die Brille. Der Angesprochene schüttelte den Kopf und versuchte ein Lächeln.
»Na, Peter, ist der gestrige Abend sehr lang geworden, oder machst du einfach wieder einmal auf Don Johnson?« Die Hammerwerferin in Gestalt einer Polizeibeamtin grinste Merana an. »Sie müssen wissen, Herr Kommissar, Kollege Ankerl ist ein Fan der Uralt-Serie ›Miami Vice‹.«
Ich auch, hätte Merana fast erwidert. Aber sie hatten Wichtigeres zu tun, als hier über alte Serien und das Faible für schwarze Sonnenbrillen herumzualbern.
»Was heißt ›Austrias Marketenderin des Jahres‹?«, wandte sich der Kommissar an die Gruppeninspektorin.
»Das ist eine aktuelle Castingshow. Groß aufgezogen, Co-Produktion von drei Fernsehstationen und einer internationalen Trachtenfirma. Die Firmenleitung hat gestern hier im Ort ein riesiges Fest geschmissen, Sponsorenparty mit allen Schikanen.«
»Und was hat die Tote mit all dem zu tun?«
»Die Lena war eine der heißesten Kandidatinnen für das Finale.«
Eine vertraute Gestalt näherte sich dem Kommissar, Polizeiarzt Richard Zeller, gefolgt von Thomas Brunner, dem Chef der Spurensicherung.
»Hallo, Martin, hast du es nicht geschafft, weit genug abzuhauen? Hat dich der Alte aus dem Urlaub zurückbeordert?« Die beiden Männer gaben dem Kommissar die Hand.
»Was könnt ihr mir über den Tathergang schon sagen?«
»Bis jetzt leider sehr wenig. Wir glauben nicht, dass es ein Unfall war. Die Spuren sprechen dagegen. Sie wurde wohl erschlagen oder so heftig gestoßen, dass sie sich beim Sturz schwer verletzte. Wir wissen auch noch nicht genau, wie lange sie im Wasser gelegen ist.«
Merana horchte auf. »Sie ist im Wasser gelegen?« Er schaute zur Leiche. Wie war sie ans Ufer gekommen? Und wer hatte sie gefunden? Das hatte er noch gar nicht gefragt.
»Ja, jemand hat sie aus dem Wasser gezogen und am Ufer auf die Steine gebettet«, antwortete der Chef der Spurensicherung.
»Wer?«
Ein heller Schrei, gellend, schrill, ließ die Umstehenden herumwirbeln. Ein kleines Mädchen, keine zehn Jahre alt, stolperte auf die Leiche zu. Wie war sie durch die Absperrungen gekommen? Ulla Heilmayer reagierte als Erste, lief los, um die Kleine abzufangen. Doch das Kind war schneller, ging vor der Leiche in die Knie, warf sich schreiend auf die Tote. Auch Peter Ankerl eilte über den Platz. Er versuchte, eine Frau aufzuhalten, die sich an zwei Männern in Overalls vorbeidrängte, gefolgt von einem etwa zwölfjährigen Jungen. Ankerl wollte der Frau die Hand auf die Schulter legen, doch die stieß ihn mit voller Wucht zurück. Der Polizist kam durch die Heftigkeit des Stoßes ins Taumeln. Mit starrem Blick schritt die Frau unbeirrt weiter. Der Junge blieb dicht hinter ihr.
»Gehen Sie bitte nicht weiter!«, rief Merana.
Die Frau beachtete ihn nicht, sie hatte nur Augen für die Tote und das schreiende Mädchen. Mein Gott, dachte Merana, das ist ja die Alma! Die wird doch hoffentlich nichts mit dem Geschehen hier zu tun haben. Das Bild einer Gewitternacht blitzte kurz in ihm auf. Er sah sich und Alma Thaler, eine Szene, die viele Jahre zurück lag. Eine Woge von Zorn und Scham flutete für einen Moment in ihm hoch. Er schluckte schwer und stellte sich vor die Frau.
»Geh mir aus dem Weg, Martin!« Auch wenn sie nur zischte, konnte er trotz des Lärms der Wassermassen jedes Wort verstehen. Sie hatte ihn nicht angesehen. Ihr entsetzter Blick war an ihm vorbei auf das Geschehen hinter Meranas Rücken gerichtet. Sie ging an ihm vorbei, streifte mit der Schulter hart seinen Oberarm. Er hielt sie nicht auf, wandte sich nur um und erlebte eine weitere Überraschung.
Wo war der alte Mann hergekommen? Er stand neben der Toten und dem schreienden Kind. Und als wäre das alles an Ungereimtheiten nicht schon genug, bemerkte Merana überrascht, dass der Mann einen großen schwarzen Vogel auf der Schulter trug. Der Alte ging in die Hocke und berührte die Tote. »Lassen Sie das!« Merana setzte sich in Bewegung und sah aus den Augenwinkeln, dass auch Thomas Brunner auf die Gruppe rings um die Leiche zueilte. Der Mann mit dem Raben hatte der Toten etwas in die Hand gedrückt und ihren Kopf berührt. Als Merana herankam, bemerkte er, dass der Alte dem toten Mädchen schwarze Steine in die offene Hand und auf die Stirn gelegt hatte. Er blieb abrupt stehen. Der Eindruck der dunklen Steine und das schwarze verkrustete Blut auf der bleichen Erscheinung der Toten erinnerten ihn an die vergangene Nacht. In der nächsten Sekunde wurde ihm speiübel. Die Bilder aus dem Traum schossen in seinen Kopf wie ein hochspringender Marder. Er sah zuckende weiße Hühnerleiber und dunkles spritzendes Blut. Das Würgen in seinem Hals war bedrohlich. Jetzt nur nicht kotzen, Merana, befahl er sich selbst. Das ist ein Tatort! Sein Tatort. In seiner Verantwortung! Er ging in die Knie und bemühte sich mit aller Selbstbeherrschung, die heraufdrängenden, heute Morgen viel zu hastig verschlungenen Stücke der Weißwurst wieder hinunterzuwürgen. Die Säure der Verdauungssäfte brannte in seinem Schlund wie Essig. Ihm wurde schwarz vor Augen. Aber er schaffte es, während das kleine Mädchen unaufhörlich weiter schrie, und das Wasser wie eh und je mit mächtigem Donnern herniederprasselte.