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Kapitel 1

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Jemand schreit. Laut. Die Frau am See dreht den Kopf. Mein Gott, sie hat keine Augen. Nur schwarze Leere. Die Löcher starren ihn an. Er kennt die Frau. Auch ohne Augen. Ein Fauchen mischt sich in den Schrei. Etwas Pelziges huscht an seinen Beinen vorbei. Das Gatter zum Verschlag steht weit offen. Aber er hatte die Tür doch verschlossen! Ganz sicher. Ehrlich. Der Schrei wird höher, schriller. Das ist nicht nur ein Schrei, das sind viele Schreie. Ineinander, durcheinander. Die Hühner! Sie schreien in Todesangst. Blut, überall Blut. Weiße Flecken in roten Lachen. Ein Huhn mit durchgebissenem Hals klatscht ihm gegen das Gesicht. Blut spritzt. Dunkles Blut auf weißen Federn. Dann sieht er den Marder. Das pelzige Etwas wütet unter den Hühnern. Er versucht zu schreien, aber er schafft es nicht. Nur ein Krächzen kriecht aus seinem Hals, viel zu schwach, um das Kreischen der Hühner zu übertönen. Er versucht den Marder zu vertreiben, die Raserei und das Töten zu beenden. Etwas Kaltes berührt seine Schulter. Er fährt herum. Es ist die Frau ohne Augen. Sie hat ihm eine Schlange auf die Schulter gelegt. Ekel packt ihn. Er versucht die Schlange abzuschütteln. Die Frau reißt den Mund auf. Aber das ist kein Mund mehr. Ein schwarzes Loch tut sich auf, riesig, darin ein weißer Sarg. Und Alpenveilchen. Auf dem Sarg sitzt eine andere Frau. Die kennt er auch. Das ist die Großmutter. Auch sie hat Alpenveilchen in der Hand. Er versucht einen Fuß zu heben, einen Schritt zu machen. Doch die Füße sind schwer. Er blickt nach unten. Die Füße sind übersät mit zuckenden weißen Federnleibern, Hühner mit abgebissenen Köpfen. Aus den Hälsen spritzt Blut, unaufhaltsam. Die Frau auf dem Sarg streckt die Hand aus. Er will danach greifen, verfehlt sie. Der Sarg kippt nach hinten, die Frau rutscht weg. Die Großmutter fällt! Ein neuer Schrei mischt sich in die anderen. Lauter. Greller. Das ist er. Das ist sein Schrei.

In der nächsten Sekunde ist er munter, sein Oberkörper schnellt hoch. Die linke Hand zuckt in einer wilden Bewegung, schlägt gegen das Board. Ein Klirren. Glas zersplittert am Boden.

Es dauert eine halbe Minute, bis Merana bemerkt, dass er in seinem Bett sitzt und immer noch schreit.

Aus. Die Schreie hören auf. Atmen. Tief atmen. Er hat die Augen offen. Dunkelheit ist im Raum. Alles finster. Keine zuckenden Hühnerleiber mehr, kein Blut, keine Frau ohne Augen. Das T-Shirt klebt an seinem Körper. Er ist schweißnass.

Er tastet nach dem Schalter an der Lampe. Licht flammt auf im Zimmer. Die Digitaluhr auf dem Board zeigt 03.46. Auf dem Boden entdeckt er Scherben. Er muss beim Aufwachen das Weinglas mit der Hand vom Board gefegt haben. Der Rest des Rotweins, den er gestern vor dem Einschlafen nicht mehr getrunken hat, breitet sich in einer kleinen Lache auf dem Parkettboden aus. Ein dunkler Fleck auf hellem Holz. Und schon springen ihn die Bilder aus dem Traum wieder an. Schwarzes Blut auf hellen zuckenden Hühnerleibern. Die Frau ohne Augen. Der kippende Sarg.

Mit einem Ruck schiebt er die Decke zur Seite, springt aus dem Bett, stapft im Zimmer auf und ab, drischt mit den Handflächen gegen seine Schläfen. Doch die Unruhe bleibt. Die Bilder lassen sich nicht vertreiben. Der helle Sarg, die Alpenveilchen, die ins Leere stürzende Großmutter. Sein Hals schmerzt. Die Kehle fühlt sich an wie die Haut eines Igels. Er schaut zur Uhr. 03.50. Egal. Er muss anrufen, es lässt ihm keine Ruhe. Er läuft in die Küche, reißt ein Glas vom Regal, füllt es mit Wasser und trinkt es in einem Zug aus. Er schnappt sich das Handy, wählt die Nummer der Großmutter. Es tutet einmal, dann hört er die vertraute Stimme.

»Hallo, Martin, guten Morgen.« Wärme greift nach seinem Herzen, breitet sich aus in der Brust.

»Entschuldige, Oma, ich wollte dich nicht wecken.«

»Du hast mich nicht geweckt, ich liege schon seit fast zwei Stunden wach.«

Erst jetzt fällt ihm auf, dass die Großmutter gar nicht überrascht wirkt wegen seines Anrufs.

»Ich bin aus einem ganz blöden Traum hochgeschreckt. Der hatte auch mit dir zu tun, Oma. Und da habe ich mir irgendwie Sorgen …« Plötzlich kommt er sich idiotisch vor. Ruft ein erwachsener Mann mitten in der Nacht eine alte Frau an, nur weil er schlecht geträumt hat? Lächerlich. Er hört die Großmutter atmen.

»Mach dir keine Gedanken, Martin. Mir geht es gut.«

Stille. Er weiß nicht recht, was er sagen soll. Er spürt wieder den Igel in seinem Hals.

»Möchtest du mir von dem Traum erzählen, Martin?«

Er schüttelt energisch den Kopf. »Ist nicht so wichtig, Oma, vielleicht ein anderes Mal.« Seine Stimme wird fester. Dann fällt ihm etwas ein. »Warum bist du schon seit fast zwei Stunden wach?«

Kurze Stille.

»Ich weiß es nicht, Martin. Etwas hat mich geweckt.«

Er wartet darauf, dass sie weiter redet, aber es kommt nichts. Ist da etwas, das auch die Großmutter beunruhigt?

»Was hat dich geweckt?«

Wieder dauert es, bis sie antwortet.

»Ich weiß es nicht, Martin.«

Dann hört er ein leichtes Ächzen. »Ich denke, ich stehe jetzt einfach auf und mache mir einen Tee. Senile Bettflucht ist immer eine gute Erklärung für frühes Munterwerden.«

Er muss lächeln. Vielleicht ist er selbst auch schon im besten Alter für senile Bettflucht. »Ja, Oma, mach das. Ein Tee tut dir immer gut.«

Er beendet das Gespräch. Allmählich werden seine Gedanken klarer. Heute ist Samstag. Er hat noch zehn Tage Urlaub. Das Wetter soll schön bleiben. Er würde den Tag mit einem Frühstück in der Stadt beginnen. Er kehrt zurück ins Schlafzimmer. Die Uhr zeigt 04.10. Sein Blick fällt auf den dunklen Fleck, den der Rotwein auf dem hellen Parkett zeichnet. Mit einem Schlag ist die Unruhe wieder zurück. Sie kriecht seinen Körper hoch wie die kalte Schlange aus seinem Traum.

Drachenjungfrau

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