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Einleitung

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Es war der belgische Gelehrte François Cumont, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in seinem großen zweibändigen Werk Textes et monuments figurés relatifs aux mystères de Mithra erstmals die Quellen des Mithras-Kultes vorlegte, aufgeteilt nach literarischen und epigraphischen Texten sowie den archäologischen Zeugnissen. Mit seiner umfangreichen Einleitung zu dem Quellenteil bestimmte Cumont in hohem Maße die Richtung der Forschungen über den Kult für mehr als ein halbes Jahrhundert. Sein Einfluss basierte neben der umfassenden Quellenkenntnis auf der Tatsache, dass er ein in sich geschlossenes Bild der Religion präsentierte, welches kaum Fragen offen zu lassen schien. Überdies drückte Cumonts Interpretation der Mithras-Mysterien der Folgezeit deshalb so deutlich ihren Stempel auf, weil er nach 1900 weitgehend unveränderte Fassungen seiner Einleitung als knappe Darstellungen des Kultes in französischer, englischer und deutscher Sprache publizierte;1 für viele Jahrzehnte blieb dies die einzige Darstellung ihrer Art. Man muss heute feststellen, dass die Autorität Cumonts abweichende Interpretationsansätze lange Zeit unterdrückt hat.2 Cumont vertrat mit Vehemenz die Auffassung, der Mithras-Kult sei aus iranischen Vorbildern abzuleiten; er postulierte dabei einen Dualismus zwischen den Kräften des Guten und des Bösen und entdeckte schließlich sogar eschatologische Komponenten.3 In der Annahme, die Religion bestehe essentiell in ihrer Theologie, vernachlässigte er den Kult. Die folgende Darstellung soll dazu beitragen, dieses Defizit auszugleichen. Auch wenn ich nicht allen Anregungen und Deutungen Cumonts zu folgen bereit bin, ja mir manche in die Irre zu gehen scheinen, gilt aber generell bei jeglicher Detailkritik an seiner Arbeit ein Ausspruch Friedrich Nietzsches zu bedenken: „Die Irrtümer großer Männer sind verehrungswürdig, weil sie fruchtbarer sind als die Wahrheiten der kleinen.“ Gerade den kritischen Auseinandersetzungen mit Cumont verdankt die Forschung, verdanke auch ich, viel.

Zwischen 1956 und 1960 erschien eine neue Sammlung der epigraphischen und ikonographischen Zeugnisse, deren Zahl seit Cumonts Werk erheblich zugenommen hatte: das Corpus Inscriptionum et Monumentorum Religionis Mithriacae – im folgenden CIMRM4 – von Maarten J. Vermaseren. Ihm wuchs innerhalb der Mithras-Forschung rasch eine ähnliche Rolle wie Cumont zu, ohne dass er allerdings in die gleiche doktrinäre Starre verfallen wäre. Die beiden Bände von Vermaseren stellen heute das wesentliche Material zur Verfügung; sie bilden das Standardwerk für die Zeugnisse des Mithras-Kultes. Auch Vermaseren hat dann eine Gesamtdarstellung vorgelegt, die in mehrere Sprachen übersetzt worden ist.5

Die gewaltige Arbeitsleistung Vermaserens stimulierte bald eine bemerkenswerte Intensivierung der Forschungen über Mithras. Ein vor fast 30 Jahren erschienener Überblick über die Funde sowie die Arbeiten seit Cumont führt nahezu 500 Titel auf.6 Zwei Sachverhalte vermögen diese Entwicklung der Forschung zu illustrieren. 1971 in Manchester, 1975 in Teheran und 1978 in Rom fanden internationale Kongresse statt, deren Ergebnisse man jeweils in umfangreichen Sammelbänden vorlegte.7 1976 wurde zudem eine eigene Zeitschrift für die Forschungen zum Mithras-Kult ins Leben gerufen, das Journal of Mithraic Studies, von dem bis 1980 drei Bände erschienen.8 Sowohl in den Themen der Kongressbände wie in denen der Zeitschrift dominierten zwei Fragestellungen, die meines Erachtens den Grund dafür abgeben, dass die Kongresse wie auch die Zeitschrift nicht fortgesetzt wurden. Denn einerseits verloren sich viele Einzelstudien immer wieder in den angeblich persisch-iranischen Verbindungen, welche letzten Endes nie exakt nachzuweisen waren, und andererseits wurde den Spekulationen über astrologische Implikationen viel Platz eingeräumt, ohne dass die Ansätze je hatten überzeugen können. Ähnliche Versuche finden sich auch in einem Sammelband, der die Beiträge eines ‚Mithraic Panel‘ im Rahmen des ‚Congress of the International Association for the History of Religions‘ publiziert, der 1990 in Rom stattfand.9 Es geht dabei um den Gott Mitra, der im Hinduismus eine Rolle spielt, um Mithra, für den dies im Zoroastrismus und im Manichäismus gilt, und schließlich um den im Imperium Romanum verehrten Mithras. Für mich ist dabei allerdings kaum mehr als der gemeinsame Name festzustellen.

Vor allem Roger Beck und Richard Gordon waren es, die in Porphyrius’ Schrift „Über die Nymphengrotte“ gleichsam den entscheidenden Führer zum Verständnis des Mithras-Kultes und vor allem eine Interpretationshilfe für die Mithras-Reliefs mit der Darstellung der Stiertötung sahen. In diesem Sinne resümiert R. Beck10 seine entsprechenden Theorien. Dabei geht er der immer wieder einmal diskutierten Frage nach, welche Himmelserscheinung sich in der Gestalt des Mithras auf den Mithras-Reliefs verberge. Orion11 lautete ein Vorschlag, Perseus12 ein anderer (S. 10). Zu derartigen Spekulationen wird geführt, wer in der Darstellung der Stiertötung eine Art ‚Karte‘ sieht, die den Himmel abbildet. Beck fragt, anders als seine Vorgänger, nicht wer Mithras ist, sondern wo er ist. Er gesteht dabei zu, die Stiertötungsszene sei „a star map of great complexity and subtlety“ (34), die keine einlinige Korrespondenz zwischen dem Dargestellten und den kosmischen Konstellationen zulasse. Richtig daran ist, dass, von wenigen Kernelementen abgesehen, die Interpretation der Reliefs von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, von Ort zu Ort, von Region zu Region anders ausgefallen sein dürfte; dies unterstreicht auch R. Gordon.13

„Die Mithras-Mysterien … sind aus einer militärischen Widerstandsorganisation gegen den röm(ischen) Expansionismus hervorgegangen, die von Soldaten des Mitridates Eupator (120–63 v. Chr.) ideologisch beeinflusste Seeräuber aus Kilikien vereinte.“14 Zur selben Zeit, in der Robert Turcans etwas überraschende Feststellung zu lesen war, erschien als deutsche Ausgabe die Darstellung von David Ulansey über „Die Ursprünge des Mithraskultes“.15 Dabei geht es ihm wie R. Beck um die sternenbezogene Deutung des Kultes. Für Ulansey ist ein erster entscheidender Ausgangspunkt seiner Argumentation, dass Mithras in den Darstellungen der Reliefs im Augenblick der Stiertötung das Gesicht abwende.16 Die Kopfhaltung des Gottes ist für Ulansey deshalb wichtig, weil er in dem vom ‚Opfer‘ abgewendeten Blick des Mithras eine Parallele zu Perseus sieht, der bei der Enthauptung der Gorgone Medusa aus den bekannten Gründen den Kopf von dem Objekt der Tötung abwendet. Der eigentliche Punkt in Ulanseys Argumentation stellt die Präzession dar, also die Tatsache, dass sich die Äquinoktialpunkte rückwärts durch den Zodiacus bewegen, in zwölfmal 2160 oder 25 920 Jahren. Zwischen 4000 und 2000 v. Chr. etwa fanden die Tag-und-Nacht-Gleichen in den Sternbildern Stier und Skorpion statt, seit 2000 v. Chr. in denen von Widder und Waage. Ulanseys Hypothese lautet, „dass die Stiertötungsszene tatsächlich den Himmelsäquator darstellt, doch den, wie er zur Zeit der Tag-und-Nacht-Gleichen in den Sternbildern Taurus und Scorpius aussah“ (46). Den Entdecker dieser Präzession sieht er in Hipparch. Dieser Geograph und Astronom, der in Rhodos und Alexandria lehrte, hat in der Tat die „Veränderung der Wende- und Nacht-Gleichen-Punkte“ beobachtet, wie eine gleichnamige Schrift heißt; ob er die Präzession hätte entwickeln können, sei dahingestellt,17 denn Ulanseys Hypothesengebäude ist ohnehin längst zusammengebrochen.

Anschließend beginnt innerhalb seiner Überlegungskette der eigentlich märchenhafte Teil: Hipparchos hatte die Präzession entdeckt, Poseidonios von Apameia, Stoiker und Astronom, wirkte in Rhodos, übernahm diese Erkenntnis und brachte sie nach Tarsos an die dortige Universität, wo die Stoa gelehrt wurde. Diese Stoiker schlossen aus der Kenntnis der Präzession, dass es einen Gott geben müsse, der sie bewirke, der also mächtiger sei als die Sonne oder die Planeten. Diese angebliche Schlussfolgerung der Stoiker ist völlig überflüssig, hätten sie Hipparch richtig verstanden. Selbst wenn dieser Astronom die Präzession als Bewegung entdeckt hätte, dann hätte diese Bewegung wie diejenige der Planeten schon immer existieren müssen. Es wäre eine Bewegung gewesen wie alle anderen auch, „eine Eigenbewegung … ohne Zwang und Gewalt, die sie von außen her nötigte, … in absoluter Selbstbestimmung.“18 Es hätte keines neuen Gottes bedurft, um gerade die Präzession zu bewerkstelligen. Wenn also die Stoiker nach einem Gott als Urheber der Bewegung suchten, wie Ulansey meint, muss er unterstellen, sie hätten den Astronomen nur halb gelesen. Hipparch hätte keinen Gott benötigt, wohl aber Ulansey. Wer ist dieser Gott? Da die Stoiker in Tarsos wirkten, entschieden sie sich für den Stadtgott von Tarsos: Perseus.

Nun berichtet Plutarch zum Jahre 67 v. Chr., dass kilikische Seeräuber Geheimlehren pflegten, von denen sie diejenigen des Mithras als erste eingeführt hätten. Plutarch lässt seine Piraten auf Schiffen mit vergoldeten Segeln reisen. Es waren also reiche Leute, Leute mit hohem Bildungsgrad – quasi Gasthörer der Universität von Tarsos – und besten Verbindungen zur dortigen Intelligenzia. So kam es, dass der Mithras-Kult seinen Weg in die Welt antrat. Weshalb Mithras und nicht Perseus? Wie wir wissen, ist Geheimhaltung in allen Mysterienkulten A und O, und deshalb verbargen die intellektuellen Piraten den wahren Namen des Gottes und propagierten ihn unter einem Pseudonym: Mithras. Ich muss gestehen, dass ich derartigen Überlegungen zu folgen nicht bereit bin. In einer Einschätzung stimme ich allerdings mit R. Beck überein. Er spricht von den „hard data of epigraphy and archaeological Realien“ und stellt ihnen die „supposedly softer data of iconography“ gegenüber. Ich verlasse mich lieber weitgehend auf die ‚harten Daten‘ und bekenne mich deshalb zu einem „narrow positivism“.19 Ob „star-talk“, wie es bei ihm heißt, den die Mithras-Reliefs sprechen, oder „star-map“, die sie bei Ulansey zeigen sollen – beides überzeugt mich nicht.

Wer sich die etwa 700 Mithras-Reliefs vor Augen führt, erkennt rasch, dass nur wenige Elemente sich stets wiederholen und sich längst nicht alle überall an derselben Stelle befinden. Sonne und Mond stehen rechts oder links auf dem Relief, ebenso ist es bei den Dadophoren; in einigen Reliefs steht Cautes unter der Sonne, in anderen unter dem Mond, und so fort. Ich habe ferner gegenüber allen ‚astrologischen‘ Erklärungsversuchen den Vorbehalt, dass sie mir zu kompliziert für den Kultanhänger scheinen. Wenn man sich einmal vor Augen führt, welche Mühe und Rechenkünste Speidel, Ulansey oder Beck darauf verwenden müssen, ihre Gestirnkonstellationen halbwegs mit einem Relief in Verbindung zu bringen, dann scheint mir immer deutlicher zu werden, dass dieser Weg der Interpretation längst in einer Sackgasse steckt. Die Mithras-Reliefs schildern eine Kultlegende, in der sicherlich Gestirne und Gestirnsglaube eine Rolle spielen, aber sie sind keine Straßenkarte durch die Fixsterne.

Mit dem Blick auf die Quellenlage für den Mithras-Kult hat A. D. Nock in unübertroffener Weise mit folgendem Vergleich unsere Problematik plausibel gemacht:20 Versetzen wir uns in die Lage eines Forschers, der das zeitgenössische Christentum im Europa des 20. Jahrhunderts in einer fernen Zukunft beschreiben soll. Dafür kann er auf folgende Funde zurückgreifen:

– wenige zufällig überlieferte Texte aus der jüdischen religiösen Literatur,

– Grundriss und Aufbau einiger Kirchen, die allerdings meist nur die kahlen Wände bieten,

– einige wenige Altäre und Gemälde, ferner Splitter von Glasfenstern,

– einige Listen aus Taufregistern.

Aber darüber hinaus, so ist hier hinzuzufügen, stehen diesem imaginären Forscher noch mehr fast 700 Darstellungen der Kreuzigung verschiedenster Art und Herkunft zur Verfügung, teilweise mit anderen Szenen des Leidensweges. Die Schwierigkeiten, daraus das Christentum zu beschreiben, wären groß, und unsere Schwierigkeiten, den Mithras-Kult aufgrund einer im Wortsinn trümmerhaften Überlieferung darzustellen, sind es in der Tat. Umso lohnender ist gleichwohl der Versuch, die Mithras-Mysterien in den Zusammenhang römischer Kulterfahrungen einzuordnen.

Ich möchte an dieser Stelle den von Nock gewählten Vergleich noch etwas weitertreiben. Die in der Spätantike allenthalben zu beobachtende Vorliebe für Kompendien und Listen teilte der Bischof Epiphanius von Salamis. Um 370 verfaßte er eine Enzyklopädie der aus seiner Sicht christlichen Häresien; insgesamt 60 stellte er dar. Der Kirchenvater Augustinus steigerte ein halbes Jahrhundert später die Zahl auf 88. Nun taugt selbstverständlich der Begriff Häresie nicht für den Mithras-Kult, aber in einer Hinsicht kann das christliche Beispiel weiterhelfen: Ebenso wenig wie es das Christentum gab, gab es den Mithras-Kult.

Die Basis der vorliegenden Untersuchung bilden im Wesentlichen die archäologischen Überreste der Heiligtümer und ihres Inventars, die inschriftlichen Zeugnisse sowie die Reliefs, deren Bilder sich in einem ikonographischen Rahmen hellenistisch-römischer Vorbilder bewegen. Der Kult ist an fast 500 Orten nachgewiesen. Die Überblickskarte (S. 13)soll einen ersten Eindruck des Verbreitungsgebietes vermitteln; Detailkarten einzelner Gebiete finden sich auf den Seiten 185 bis 189. Wir besitzen über 1000 Inschriften, 700 Stiertötungsreliefs, von denen allerdings nur etwa ein Drittel vollständig erhalten ist, und mehr als 500 weitere Reliefs. Diese Quellenlage erfordert es nachgerade, dass der kultische Bereich weitaus mehr Gewicht erhält als denkbare theologische Aussagen, für die entsprechende Zeugnisse von Mithras-Anhängern selbst, aber auch von anderen Autoren weitgehend fehlen. Gewiss werden wir uns nach der Beschäftigung mit diesem Mysterienkult eingestehen müssen, dass wir mehr Fragen als Antworten formulieren können. Indes, Verworrenheit darf zurückbleiben, vielleicht auch Nachdenklichkeit über das, was Menschsein einmal war.

Meine Beschäftigung mit Mithras als dem Gott eines römischen Mysterienkultes währt inzwischen – mit Unterbrechungen – mehrere Jahrzehnte. Neben der Analyse der sozialen Zusammensetzung von beinahe 550 kleiner und kleinster Kultgemeinschaften auf dem Gebiet des Imperium Romanum,21 habe ich vor nunmehr zwanzig Jahren eine Gesamtdarstellung des Mysterienkultes, seiner literarischen, epigraphischen und archäologischen Zeugnisse vorgelegt.22 Sie bildet auch die Grundlage dieses Buches, die allerdings um wichtige Neufunde und Forschungsergebnisse erheblich erweitert worden ist. Anmerkungen bieten vor allem Belege für das im Text Angegebene; sie sollen es dem interessierten Leser aber auch ermöglichen, manchen Fragen, die im Rahmen dieses Buches nicht ausführlich erörtert werden können, anhand der Hinweise auf weiterführende Literatur nachzugehen. Wenn trotz intensiver Studien manches unerklärt bleiben muss, dann ist dies gerade bei der Beschäftigung mit einem Mysterienkult beinahe selbstverständlich.


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