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3. Aus Nilis Tagebuch

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Donnerstagabend. Obwohl wir Polizisten fast täglich mit vermissten Personen zu tun haben, konnte ich mir niemals vorstellen, wie ein lebendiger Mensch so einfach verschwinden kann, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Es mutet doch wie ein Science-Fiction-Film an, in dem plötzlich vor ihm ein Ufo mitten in Niemandsland landet und er, von Aliens entführt, auf Nimmerwiedersehen im Weltall entschwindet. Aber gerade so sieht es in den drei Fällen von abgängigen Kindern aus, die wir uns jetzt vorgenommen haben. Keins von ihnen hinterließ irgendeine Fährte. Und so handelte es sich eben nur um eine kärgliche Vermutung, mit der ich unseren Boss und den Oberstaatsanwalt mühsam davon überzeugen konnte, dass es vielversprechend ist, die Fälle wieder aufzunehmen. Vorhin wurde ich von Ferdl gefragt, warum ich mich überhaupt auf so zerbrechliches Eis begebe, denn auch das akribische Studium der Fallakten hätte nichts wirklich Handfestes ergeben, was man verfolgen könne. Ich sagte ihm nur, ich hätte dafür gute Gründe. Während des Abendessens im Onkel Suhls Haus ging mir aber seine berechtigte Frage nicht aus dem Sinn, ebenso wie die von mir gegebene Antwort.

Jetzt möchte ich dir, liebes Tagebuch, meine wahren Gründe anvertrauen: Wer kann schon die seelische Beklemmung und die Hilflosigkeit einer liebenden Mutter nachvollziehen, die wohlverstandene Wut des Vaters eines plötzlich abhandengekommenen Kindes, die klaffende Sehnsucht im Gemüt der Geschwister im gemeinsamen Kinderzimmer? Mitleid ist eben nur MITgefühl; das LEID kann nur jener selbst empfinden, den es trifft und der es auch selbst ertragen muss! Ich habe kein Kind in die Welt gesetzt, vielleicht weil ich mich auch nach so vielen Jahren immer noch nach meinem kleinen Bruder Hanan-Peres sehne, der jäh aus unserer Mitte entschwand. Klingt verwunderlich, habe ich ihn doch nie gekannt, denn er wurde einige Jahre vor meiner Geburt das Opfer der mörderischen Handgranate eines hinterhältigen PLO-Attentäters.

Gerade als ich diese traurigen Zeilen tippe, wird mir klar, warum ich Polizistin geworden bin. Gemäß unserem Eid sind wir gehalten, dem Recht dieser Bundesrepublik zur Geltung zu verhelfen. Ja, ich muss zugeben, dass es auch oft gerade dieses Recht ist, das im Wege der Gerechtigkeit steht, der sie nach dem Sinn eigentlich dienen sollte. Unser Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland sind ein unglaubliches Wunderwerk, entstanden sie doch in der Nachfolge eines der barbarischsten Unrechts- und Verbrecherstaaten, die diese Welt je erlebt hat. Gerade deswegen fühle ich mich stets verpflichtet, diese dem Blut und der Verzweiflung von fast sechzig Millionen Opfern des Zweiten Weltkrieges gebührende Wiedergutmachung nach Kräften zu verteidigen. Denn schaue ich mich in unserer Geschichte um, ist diese demokratische Bundesrepublik Deutschland trotz all ihrer offensichtlichen Macken samt ihren utopischen linken und vor allem üblen rechten Randerscheinungen das beste Deutschland, das es je gab!

Klingt vielleicht allzu hochtrabend, aber wenn ich erneut diesen Satz lese, drückt er doch sinngemäß meine Gefühle durchaus zutreffend aus. So, jetzt geht’s mir besser. Gute Nacht!

Freitag. Als ich heute Morgen aufwachte und aus dem Fenster blickte, lachte mir wieder ein herrlicher Tag entgegen. Nach meiner üblichen Joggingtour in der frühen und noch frischen Luft genoss ich im Onkel Suhls Haus das gemütliche Frühstück mit Abuelita und Ima. Gegen neun Uhr kam Habiba, um wie an jedem Morgen Mutter zur Hege ihres geliebten Federviehs im Eulenhof abzuholen. Schön, dass sie jetzt einen Führerschein hat und sie daher Ima in vielen Aufgaben entlasten kann. Sie brachten mich zum Holstenhof, wo ich Ferdl aufsammelte, der nach dem gestrigen Abendbrot mit dem X3 zur dortigen Übernachtung gefahren war.

Ich bin mit der Umgebung Oldenmoors bestens vertraut, sodass wir uns gleich auf die B 431 begaben und uns auf in Richtung Glückstadt machten. Wir fuhren durch Brokdorf und kurz darauf entlang der mächtigen, weiß gleißenden Kuppel des Kernkraftwerks, das mit dem daneben befindlichen Schornstein vom Aussehen her einer Moschee ähnelt. Nachdem wir wenig später die Brücke am Störsperrwerk überquert hatten, bogen wir links ab und fuhren schließlich weiter, bis wir in Krempe, der zweitkleinsten Stadt Schleswig-Holsteins, eintrafen. Ferdl hatte die Adresse der Familie Martens in das Navi eingegeben, das uns direkt zu dem bescheidenden Einzelhaus Op de Wisch führte, aus dem die kleine Mia vor drei Jahren verschwunden war. Man hatte den Vorgarten offensichtlich längst dem Wildwuchs überlassen. Mit Beklemmung drückte ich mehrmals den Klingelknopf, aber niemand öffnete uns die Haustür. Eine junge Frau parkte ihren Kleinwagen auf der Garagenauffahrt des Nachbarhauses, und nachdem wir uns ausgewiesen hatten, erfuhren wir von dem Drama, das sich nach Mias Entführung abgespielt hatte. Im Verlauf der vielen Monate, in denen das Kind nicht aufgefunden worden war, wurde Alfred Martens Opfer seines Alkoholkonsums und daraufhin auch arbeitslos; zuletzt verbrachte man ihn in eine Entzugsklinik in der Holsteinischen Schweiz. Die verzweifelte und vergrämte Mutter verfiel zunehmend in Depression und erhängte sich vor etwa einem Jahr.

Wir bedankten uns bei der Frau und ich sah auch Ferdl seine Betroffenheit an. »A so an Schoaß aba ah!«, kommentierte er mit bitterer Stimme, als wir wieder im Auto saßen. »Hams scho recht ghabt, Frau Chefin, was Sie mir gestern auf mei blöde Frag gsagt ham!« Ich antwortete ihm, er habe sehr guten Grund gehabt, mir diese zu stellen, aber wie so oft im Leben käme wohl manch gute Absicht eben leider zu spät! Während er die nächste Adresse in das Navi eingab, murrte er leise vor sich hin, er hoffe, dass wir dort etwas Positiveres erfahren.

Nach wenigen Kilometern erreichten wir die kleine Gemeinde Elskop, die gerade etwas über einhundertsechzig Einwohner zählt. Schnell war die unscheinbare Nebenstraße Süshörn ausgemacht, die von der Dorfstraße abgeht. Besonders hart traf mich der Blick auf das farbige Schild an der Tür, auf dem die Namen der Familie Heger – Eike und Magdalene mit Pascal, Jule und Kevin – in kunterbunten Buchstaben gemalt waren. Frau Heger, eine nette und vollbusige blonde Frau, öffnete die Tür und bat uns herein, nachdem wir uns vorgestellt hatten. Ohne zu fragen, tischte sie uns zwei große Gläser ihres leckeren selbst gemachten Apfelsafts mit perlendem Mineralwasser auf. Ganz anders als die unter die Räder gekommene vorangegangene Familie hatten sie und ihr Ehemann sich gefasst und trotz des erlittenen schmerzlichen Verlustes des Erstgeborenen den Halt nicht verloren. Eike Heger ist Käsereimeister bei der Holstenmelk, Borsfleth. Kevin besucht noch die Volksschule, Juliane kommt demnächst zum Gymnasium. Mutter Magdalene betreibt einen kleinen Gemüsegarten hinter dem Haus und beliefert einen Hofladen im Ort. Sie zeigt uns Bilder aus einem Familienalbum. Der hübsche und aufgeweckt blickende Pascal wäre heute neun Jahre alt gewesen. Begeistert erzählt sie von ihrem geliebten Jungen, wie witzig und plietsch er gewesen sei, weit fortgeschritten für sein Alter. Obwohl damals noch im Vorschulalter, hätte er schon schreiben und lesen sowie ein wenig rechnen können. Offensichtlich hegte sie keinen Groll gegen die damaligen Ermittlungskollegen, attestierte ihnen hingegen, diese hätten alles Menschenmögliche getan, um Pascal wiederzufinden. Auf jeden Fall sei sie fest davon überzeugt, dass es ein Fremder gewesen sein musste, der ihren Jungen verschleppt habe. Von selbst wäre ihr Pascal niemals weggeblieben!

Ferdl bemühte sich, sie in seinem besten Hochdeutsch zu fragen, ob sie nach der langen Zeit darüber nachgedacht habe, wer das gewesen sein könne. Sie solle einfach ihren Einfällen freien Lauf lassen und keinerlei Hemmungen haben, auf irgendjemanden – egal wen – hinzudeuten. Frau Heger sah unseren Fachinspektor belustigt an und meinte, er sei doch bestimmt nicht von hier. Ferdl erzählte ihr, woher er komme und weshalb er mit uns zusammenarbeite. »Habe ich mir doch gedacht, Herr Fachinspektor!«, antwortete sie. »Wir haben einige Male am Neusiedler See Segelurlaub gemacht, Ihre Aussprache kam mir daher bekannt vor.« Ja, sehr oft habe sie sich darüber Gedanken gemacht, aber sie traue so etwas niemandem aus ihrer näheren Umgebung zu. Ich fragte daraufhin, ob es jemand gewesen sein könne, der regelmäßig in diese Gegend komme, etwa ein Markthändler, ein Postbote oder ein Logistikfahrer. Sie dachte kurz nach, aber ihr fiel niemand ein. Ich hinterließ ihr unsere Karte und bat sie, mich anzurufen, wenn ihr etwas einfalle. Sie bedankte sich herzlich dafür, dass wir erneut nach ihrem Pascal suchen wollen. Sie gehe nicht mehr davon aus, dass er noch am Leben sei, wäre aber schon sehr dankbar, ihn beerdigen und an seinem Grab trauern zu können. Habe ich mich getäuscht oder waren es tatsächlich zwei Tränen, die mein geschätzter Ferdl sich da ganz verstohlen aus den Augen wischte, während wir zum Dienstwagen zurückgingen. Ich habe allerdings meine eigene Traurigkeit nicht verborgen.

Unser drittes Ziel war nur etwas mehr als drei Kilometer vom aktuellen Standort entfernt. Allerdings war es inzwischen fast Mittag und wir empfanden es als unangebracht, um diese Zeit jemandem einen unerwarteten Besuch abzustatten. So fuhren Ferdl und ich zunächst nach Glückstadt und kehrten in das Restaurant Rigmor am Markt ein. Es ist jenes Lokal, in dem einst die junge und lebensfrohe Saadet Bassir ihre Gäste bediente. Erst fast drei Jahre nach ihrem tragischen Tod war es uns endlich gelungen, den Mann zu entlarven und vor Gericht zu bringen, der für die brutale Tötung der Kellnerin, ihres Geliebten sowie eines Mittäters verantwortlich gewesen war.13 Wegen dieser vorsätzlich und arglistig begangenen schweren Verbrechen verbüßt der ehemalige Apotheker nun diese für mindestens fünfzehn Jahre in der JVA Neumünster mit anschließend angeordneter Sicherheitsverwahrung.

Wirtin Silke Backhus erkannte mich sofort wieder und setzte sich kurz zu uns an den Tisch, während wir auf das bestellte Deich-Lammsteak mit grünen Bohnen und Bratkartoffeln warteten. Sie hat hier mittlerweile die Regie übernommen, während ihr Vater Sören seinen verdienten Ruhestand genießt. Nachdem wir ihr erzählt hatten, weshalb wir mal wieder in der Gegend recherchierten, sagte sie, sie kenne jemanden, der uns womöglich etwas mehr über die verschwundenen Kinder erzählen könne, und stellte uns die äußerst sympathische Lokalblattredakteurin Imke Lührsen vor. Wir baten die adrette Mittdreißigerin mit dem pfiffigen Ausdruck in den Augen an unseren Tisch. Sie konnte sich sehr gut an die damaligen traurigen Ereignisse erinnern. Da wir den Familienvater bei unserem ersten Besuch nicht angetroffen hatten, erfuhren wir nun von ihr, dass ebendieser Alfred Martens bis zu dessen Schließung bei einem Großverlag in Itzehoe als Drucker tätig gewesen war. Die Arbeitslosigkeit ereilte ihn wenige Monate vor dem Verschwinden der kleinen Mia, er fand aber eine neue Anstellung als Lagerist bei einer Meierei in Borsfleth. Diese war allerdings nur von kurzer Dauer, denn der Verlust seiner Tochter warf ihn vollkommen aus der Bahn. Der Selbstmord seiner Ehefrau gab ihm schließlich den Rest. Auch die Journalistin bescheinigte sämtlichen Polizeibehörden aus Glückstadt und Itzehoe, die sich damals auf die Suche nach Mia, kurz darauf nach Pascal und im vorletzten Jahr nach der achtjährigen Alina Kühl aus Herzhorn gemacht hatten, ihr Allerbestes gegeben zu haben. Buchstäblich jeden Stein hatten sie umgedreht, aber der arglistige Entführer habe sich stets derart gut getarnt, dass er bis zum heutigen Tag unbekannt geblieben sei. Gern werde sie uns nach Kräften bei der erneuten Fahndung unterstützen. Als Mutter von zwei Kindern sei sie selbst zutiefst betroffen angesichts der Traurigkeit, die solch ein Verlust für die unglücklichen Eltern bedeute. Ich bedankte mich und bat sie vorerst um äußerste Diskretion, um niemanden aufzuscheuchen. Im Gegenzug versprach ich, auf jedem Fall in der Sache den Kontakt mit ihr zu halten. Dann fragte sie mich, ob ich nicht zufällig jene Kommissarin sei, über die ihr Kollege Jan-Jürgen Ploog vom Oldenmoorer Courier schon mehrmals berichtet hätte. Ich bestätigte ihr, dass Jan-Jürgen mein Vetter sei und ich wisse, dass der Glückstädter Merkur demselben Kieler Verlag angehöre, sie solle sich aber darüber keinen Kopf machen, mit ihm hätte ich des Öfteren ebenso verfahren und es habe stets gut geklappt.

Nachdem wir mit Imke Lührsen die Handynummern ausgetauscht hatten, machten Ferdl und ich uns auf den Weg nach Herzhorn. Zuverlässig führte uns das Navi zum Heim von Jochen und Ellen Kühl am Schlotbohm. Als wir unseren X3 vor der Tür parkten, kam deren nunmehr sechzehnjähriger Sohn Thorben aus Richtung Glückstadt geradelt, wo er das Gymnasium besucht. Er berichtete uns, sein Vater sei in einer nahe gelegenen Ziegelbrennerei für den Versand verantwortlich und seine Mutter, eine gelernte Akustikerin, arbeite in einer Hörgerätefiliale am Glückstädter Markt. Thorben entpuppte sich als aufgeweckter und empathischer Teenager, der uns, nachdem er seine Mutter angerufen hatte, bis zu deren Eintreffen im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer warten ließ. Er erzählte uns, dass der Verlust Alinas vor fast zwei Jahren auch heute noch schwer auf dem Gemüt der Familie liege und alle belaste.

Frau Ellen Kühl, die wenig später eintraf, war eine kleinere, untersetzte und offensichtlich sehr warmherzige Person, augenscheinlich wegen des nagenden Kummers vorzeitig gealtert. Sie äußerte ihre Freude darüber, dass wir uns erneut dem Fall widmen wollten, war sie doch fest davon überzeugt, dass ihre Alina noch am Leben sei. Sie wisse dies mit absoluter Sicherheit, eben weil sie die Mutter des Mädchens sei und Mütter so etwas fühlen! (Wie oft haben wir das schon hören müssen – wenn es denn nur ebenso oft stimmen würde!) Dann kam die obligate Frage, ob auch ich Kinder habe. Ich verneinte, versicherte ihr aber, dass ich ihre Gefühle vollkommen nachempfinden könne, habe ich doch ebenfalls den Verlust eines kleinen Bruders erleiden müssen.

Viel Neues konnten wir nicht von ihr erfahren. Wie wir bereits aus der Akte wussten, hatte die damals nur halbtags tätige Mutter ihre Tochter gegen Mittag von der Schule abgeholt und sie auf deren Wunsch für die kurze Zeit eines raschen Einkaufs im Dorfladen am neben dem Wohnhaus gelegenen Kinderspielplatz abgesetzt. Als sie Alina etwa eine Viertelstunde später wieder abholen wollte, war sie spurlos verschwunden. Nur eine Frau mit zwei kleineren Kindern war vor Ort. Sie berichtete, bei ihrer Ankunft sei niemand da gewesen, sie hätte das Mädchen nicht gesehen. Alinas Schultasche wurde etwa eine Woche später von einem Angler aus dem Herzhorner Rhin gezogen. Polizeitaucher hatten daraufhin einige Tage lang den kleinen Nebenfluss der Elbe akribisch durchsucht, aber keine weitere Spur gefunden. Auch der Blick in das Kinderzimmer verriet uns nichts Aufregendes, nur dass dieses Mädchen offensichtlich sehr gut malen konnte. Die an der Wand befestigten Bilder zeigten für eine noch nicht ganz Achtjährige bereits ungewöhnlich gut proportionierte Gegenstände, Figuren und sogar erkennbare Gesichter. Einem Impuls folgend zückte ich mein Smartphone und fotografierte jene, die mir besonders gut gelungen erschienen. Wir hinterließen unsere Karte, damit die Familie uns jederzeit anrufen könne.

Auf dem Weg zurück nach Oldenmoor machte ich einen kleinen Umweg zum neuen Fischhändler in Glückstadt, von dem ich im Restaurant Rigmor erfahren hatte, dass er gerade frische Makrelen im Angebot habe. Vor einigen Abenden hatte ich mir von einer Fernsehsendung ein afrikanisches Rezept herausnotiert, während ein sympathischer junger Mann die leckere Speise vor der Kamera zubereitete und detailliert über die Zutaten plauderte. Beim Fischhändler wählte ich zwanzig prima aussehende Filets, da ich das Gericht unbedingt zum morgigen Mittag ausprobieren wollte. Es war bereits angebracht, unser wohlverdientes Wochenende zu genießen, als wir wieder im Onkel Suhls Haus eintrafen. Wenig später tauchten auch Waldi und Robert auf, und nachdem wir einvernehmlich strikt vereinbart hatten, heute nicht mehr über die Arbeit zu reden, erlebten wir einen entspannten und unterhaltsamen Abend im kleinen Garten hinter dem Haus. Jeder trug dazu bei, indem er lustige Anekdoten und Begebenheiten aus der Jugendzeit zu Gehör brachte. Bevor wir zu Bett gingen, bereitete ich mit Habibas Unterstützung eine Marinade zu und legte darin die Makrelenfilets über Nacht ein. Wie wonnig war es, anschließend in den verlangenden Armen meines geliebten Waldi zu kuscheln und mit ihm eine bezaubernde Liebesnacht zu erleben!

Sonnabend. Nach unserem obligaten Morningjogging und der darauffolgenden labenden Dusche genossen wir zusammen mit Ferdl und Robert das Frühstück mit den von Habiba mitgebrachten frischen Brötchen, die wir dick mit der von Abuelita in dieser Woche eingekochten leckeren Erdbeerkonfitüre bestrichen. Danach verzogen wir uns in das Arbeitszimmer im Obergeschoss zur Lagebesprechung. Zunächst erfuhren wir, wie die Vernehmung von Mihalis Marinakis verlaufen war. Nachdem dieser sich meiner Freundin Kitt anvertraut hatte, legte er in Anwesenheit der Itzehoer Kollegen sowie Staatsanwältin Frau Dr. Bach ein volles Geständnis ab, dessen Protokollabschrift uns vorlag. Wie er ausgesagt hatte, fühlte er sich so hilflos und war auch von unserer Gerichtsbarkeit derart allein gelassen und deshalb verärgert, dass er meinte, sowieso nichts mehr verlieren zu können. Er hatte diesen Verzweiflungsakt geplant, um den vermeintlichen Verursacher seiner Misere zu bestrafen, indem er dessen Sohn eine Entführung anhängen und damit die Familie in Misskredit bringen wollte. Sein achtzehnjähriger Neffe Orestis studiert an der Norddeutschen Fachschule für Gartenbau in Elmshorn und jobbt zwecks eines kleinen Zuverdiensts stundenweise in einem Internetcafé. Dieser habe ihm bei der Recherche geholfen und durch einen Zeitungsartikel in der Hamburger Mopo erfahren, dass ein gewisser HPM vor zehn Jahren von einer Auszubildenden einer Privatbank wegen sexueller Belästigung angezeigt worden sei. Kurz darauf sei die Anzeige allerdings zurückgezogen worden. Dieser HPM könne kein anderer als Harrison P. Mainforth gewesen sein, weshalb es für ihn ein gefundenes Fressen war, seinen Verderber mit einer ähnlich gelagerten Tat anzuschwärzen. Dafür ließen sie sich auf das Spoofing14-Abenteuer ein und stießen zufällig auf die naive und ahnungslose Anneke Schrader, die im Internet auf der Suche nach einer Bekanntschaft war und auf der Chat-Site namens ›boyfriend‹ surfte. Der pfiffige Orestis missbrauchte dafür die Daten und einige Fotos vom Instagram-Account von Mainforths Sohn Kenneth und setzte dessen gefaktes Profil unter dem Chatnamen ›Kenny‹ ein, um mit Anneke anzubandeln und sie schließlich bis zum Cyber-Grooming anzuködern. Marinakis konnte glaubhaft versichern, dass er niemals beabsichtigt habe, dem Mädchen irgendeinen Schaden zuzufügen oder sie gar sexuell zu nötigen. Er wollte sie lediglich drei Tage lang im Versteck festhalten und danach den Behörden gefälschte Hinweise liefern, die sowohl auf Mainforths Sohn als auch auf das Versteck des Mädchens hinwiesen.

Dass der Junge gegenwärtig in den USA studiert, konnte er nicht wissen. Ebenso konnte er nicht voraussehen, dass sich das junge Mädel vorzeitig befreien und ihn für kurze Zeit außer Gefecht setzen würde.

Übrigens hatten inzwischen auch Timo Bohn und unsere ZAC-Analytiker die Chats auf Annekes Tablet untersucht. Über IP- und MAC-Adressen konnten sie den Computer des Internetcafés ausmachen, von dem aus der falsche ›Kenny‹ mit Anneke gechattet hatte. Wir waren dem bereits geplanten Zugriff auf den Neffen nur deswegen zuvorgekommen, weil Ferdl und ich zusammen mit den Elmshorner Kollegen Mihalis Marinakis angetroffen und ihn kurzerhand festgenommen hatten. Der junge Orestis hat sich allerdings in diesem Zusammenhang ebenfalls schuldig gemacht und muss sich vor der Jugendkammer dafür verantworten. Meine Freundin Kitt erreichte erfreulicherweise beim Haftrichter die vorübergehende Freilassung des Festgenommenen bis zur Gerichtsverhandlung, da er voll geständig gewesen sei und weder Verdunklungs- noch Fluchtgefahr bestehe. Ich rief bei Kitt Harmsen in Kiel an, um mich bei ihr für ihren beherzten Einsatz zugunsten des armen Teufels zu bedanken. Sie erzählte mir, dass der ›ehrenwerte‹ Mister Mainforth die Stirn besessen habe, durch seinen Rechtsanwalt Dr. Allwardt (oh mein Gott, bitte nicht wieder dieser widerliche Rechtsverdreher!) zivile Nebenklage wegen versuchter Rufschädigung und übler Nachrede als sogenanntes Adhäsionsverfahren zu erreichen, was der Haftrichter – nach Würdigung von Kitts ausführlichen Erläuterungen über die wahren Hintergründe von Marinakis’ Verzweiflungstat – mit dem Hinweis abschmetterte, der sich verunglimpft fühlende Bänker solle sich doch lieber darüber Gedanken machen, dass er und seine Bank die eigentlichen Verursacher des gesamten Schlamassels gewesen seien. Da kann ich nur ganz laut Bravo rufen!

Schließlich berichteten Ferdl und ich von den doch etwas mageren Ergebnissen unserer Rundfrageaktion bei den betroffenen Familien. Waldi meinte dazu, er teile mein Gefühl, dass die drei Fälle einen gemeinsamen Nenner gehabt haben müssen. Wir fragten uns daraufhin allesamt, wie man aus den Fakten irgendeinen roten Faden erkennen könne. Ferdl schlug vor, sämtliche relevanten Daten, die wir gesammelt hatten, in eine Excel-Tabelle zu übertragen. Während sich die anderen daranmachten, ging ich hinunter in die Küche, um gemeinsam mit Abuelita mein Makrelengericht vorzubereiten. Zusammen mit Habibas orientalischem Gemüsereis wurde es, gelinde gesagt, ein voller Erfolg.

Nach einer Verdauungssiesta schlürften wir alle einen Becher Tee im Garten und sahen uns dabei Ferdls Excel-Tabelle an. Die räumliche Nähe der Wohnorte sowie der Zeitraum, in dem die drei Kinder als vermisst gemeldet worden waren, verblieben als auffälligste Gemeinsamkeiten. Waldi räsonierte, dass ihm bei nochmaliger Durchsicht der Akten aufgefallen sei, dass die Berichte der zuerst zuständigen Polizeidienststelle in Glückstadt eher spärlich und lückenhaft daherkamen. Nachdem ich ihn daran erinnert hatte, dass damals Ähnliches anlässlich der Ermittlungen im Fall Glückstädter Doppelmord vorgekommen sei, stimmte er zu, dass ich am Sonntagabend nicht nach Kiel zurückfahren, sondern zunächst Montag früh den Kollegen in der Königstraße von ›Lucky-Town‹ einen erneuten Besuch abstatten solle. Bevor Robert Ferdl zum Bahnhof brachte, genossen wir alle gemeinsam das Abendessen auf der Deichterrasse im Elbmarschen Hof und erlebten dabei ein wunderschönes Abendrot.

Sonntag. Morgenjogging mit Waldi und Robert in Richtung Holstenhof. Beim traditionellen Familientreffen zum ›Morgenmittag‹ bei Onkel Oliver und Tante Madde war die am nächsten Wochenende stattfindende Wattolümpiade in Brunsbüttel15 das Hauptthema. Mein jüngster Vetter und größter Fan Oskar ist aktives Mitglied im hiesigen Sportverein und soll während dieser Veranstaltung zusammen mit seinem Matschhandballteam ›Moorbutschers‹ um den Siegerpokal kämpfen. Natürlich wollen wir deswegen alle dabei sein und ihn und seine Mannschaft lautstark unterstützen. Schließlich verbrachten wir angenehme Plauderstunden im Familienkreis und ich hatte endlich genügend Zeit, all dies bei dir, liebes Tagebuch, ausführlich festzuhalten.

PS: Ich notiere dies nur noch rasch, bevor ich zu Bett gehe. Nachdem Waldi und Robert nach Kiel aufgebrochen waren, sah ich noch einmal sämtliche Akten durch. Ich druckte Ferdls Excel-Tabelle aus und kennzeichnete die übereinstimmenden Orte und Daten mit Markern unterschiedlicher Farbe. Dabei gelangte ich zunehmend zu dem Ergebnis, dass wir nach einem Täter suchen müssen, der sich zeitlich und wahrscheinlich auch beruflich im unmittelbaren Aktionsradius der Familien der Opfer bewegte. Ich bin doch sehr neugierig, ob ich morgen bei den Glückstädter Kollegen mehr darüber erfahren werde!

Nili zieht das Verbindungskabel mit der externen Festplatte vom USB-Port ihres Laptops und deponiert diese im Geheimfach des Schreibtisches neben den beiden älteren Datenablagen ihres Tagebuches. Ist doch Wahnsinn, denkt sie, als sie die drei unterschiedlichen Geräte miteinander vergleicht, wie sich im Laufe der Jahre diese Festplatten zwar in der Größe verkleinert, in ihrer Speicherkapazität jedoch um ein Vielfaches erweitert haben! Sie hatte sich heute wieder einmal ihr Tagebuch vorgenommen, um darin die letzten Ereignisse festzuhalten. Sie tut es damit ihrer Abuelita Clarissa gleich, die schon in ihrer frühen Jugend die bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut hatte und gelegentlich Tochter und Enkelin daraus vorliest. Nili erfährt dadurch immer wieder interessante Begebenheiten aus ihrer Familiengeschichte. Sie selbst hatte während ihres ersten Gymnasialjahres in Hamburg mit den Einträgen begonnen und in unregelmäßigen Abständen all jene erwähnenswerten Erlebnisse festgehalten, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg hatte sie das Tagebuchschreiben für längere Zeit unterbrochen und erst Jahre später, bereits zur Kriminaloberkommissarin befördert und nach Oldenmoor zurückgekehrt, wieder damit begonnen. Inzwischen hält sie auch ihre interessantesten Fälle fest.

Während Nili das Geheimfach abschließt, fällt ihr Blick auf den Totenschädel, der sie von der linken Schreibtischecke makaber anzugrinsen scheint. Bei dem Schädel handelt es sich um ein Relikt aus Onkel Suhls Zeiten, in deren ehemaligem Arbeitszimmer sie sich befindet. An diesem Schreibtisch saß schon vor mehr als einem Jahrhundert der neckische Alte und brachte seine pseudowissenschaftlichen Thesen zu Papier.

Als engster Freund ihrer Urgroßeltern vermachte er das Haus, das bis heute seinen Namen trägt, ihrer Abuelita Clarissa und ihrem Opa Heiko zu deren Hochzeit. Irgendwie scheint sein Geist immer noch in diesen Wänden präsent zu sein.

Ein kurzer Schauder überfällt Nili, als sie erneut auf den Schädel blickt: »Du brauchst mich gar nicht so blöd anzugrinsen!«, sagt sie laut. »Ich weiß ja, dass du nicht der Mörder bist!«

Makabrer Augustfund im Watt

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