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2. Anneke

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»Guten Morgen, meine Damen und Herren! Vielen Dank, dass Sie unserer kurzfristigen Einberufung zu dieser Lagebesprechung Folge leisten konnten.« Mit diesen Worten begrüßt der kürzlich neu ernannte zweite Staatsanwalt Doktor Paul Kramer die Anwesenden am Feldschmiedekamp in Itzehoe. »Sie müssen heute mit mir vorliebnehmen, Frau Doktor Bach lässt sich wegen eines anderen wichtigen Termins entschuldigen. Auf der Tagesordnung steht der Entführungsfall der vierzehnjährigen Anneke Schrader aus Oldenmoor, die erfreulicherweise ohne größere Blessuren aus dem Krankenhaus entlassen und wieder der Obhut ihrer Eltern übergeben werden konnte. Ich darf zunächst den zuständigen Leiter der Ermittlungsbehörde, Herrn Kriminaloberrat Stöver, bitten, uns alle eingehend über den Entführungsverlauf sowie den letzten Stand der Suche nach dem Täter zu informieren. Bezüglich der Aufnahme der Vermisstenmeldung reicht Stöver zunächst das Wort an Boie Hansen und dann weiter an seine Kriminalkommissare Dörte Westermann und Hauke Steffens, die das Opfer direkt befragen konnten und abwechselnd aus ihren Berichten referieren.

Danach spricht Kramer Nili an und fragt sie nach ihrer Einschätzung. »Ich freue mich sehr, dass wir in diesem Zusammenhang wieder einmal mit Ihrer wertvollen Unterstützung rechnen dürfen, Frau Masal. Der Herr Kriminaloberrat ließ ja verlauten, dass Ihre Sonderermittlungsabteilung wegen der Aufklärung einiger bislang leider ungeklärt gebliebener Vermisstenfälle von Kindern und Jugendlichen in unserem Landesgerichtsbezirk Pinneberg, Steinburg und Dithmarschen tätig werden will und Sie deswegen bei der Befragung der Entführten anwesend waren.«

Nili bestätigt kurz das, was Dörte und Hauke berichtet haben. »Wir haben es hier eindeutig mit der bösartigen Netzkriminalität zu tun, die als ›Cyber-Grooming‹ gekennzeichnet wird. Der Modus Operandi der hier abgelaufenen Internetanbahnung – gezielter Aufbau von arglosem Vertrauen beim potenziellen Opfer – lässt vermuten, dass diese Kontaktaufnahme mit der konkreten Absicht stattfand, ein reales Treffen zwecks sexueller Schändung anzubahnen. Obwohl Anneke Schrader bereits vierzehnjährig ist, handelt es sich um eine Straftat im Sinne von Paragraf 176, Abs. 4, Nr. 3, StGB und sollte dennoch verfolgt werden, weil der Täter es mit Sicherheit erneut versuchen wird. Anneke kann sich angeblich sehr gut an das Aussehen des Täters erinnern und bot ihre Hilfe zur Erstellung eines Phantombildes an. Auch die Überprüfung der Chats auf ihrem Computer könnte zur Identifizierung der IP-Adresse des Versenders hilfreich sein. Betreffend der weiteren Ermittlung schließe ich mich der Sachbeurteilung meines Vorgesetzten Herrn Doktor Mohr an: Die Fahndung sollte auf den Halter eines vom Opfer ziemlich gut beschriebenen Fahrzeugs sowie eventuell auch auf eine Opel-Autowerkstatt in Elmshorn ausgerichtet sein. Zudem deutet ein Indiz auf die wahrscheinliche Zugehörigkeit des Täters zum christlich-orthodoxen Glaubenskreis. Allerdings ergab sich inzwischen eine unerwartete Neuigkeit in Bezug auf die Personalien von Kennys angeblich fiktiver Familie: Es scheint, dass eine solche tatsächlich in Hamburg existent ist. Mein Team konnte inzwischen deren Daten im Netz ausfindig machen und ich denke, man sollte auch diese Personen befragen.« Nili überreicht Doktor Kramer ein Blatt mit deren Namen und Adresse.

Da offensichtlich sämtliche Anwesenden mit Nilis Vorschlag einverstanden sind, bedankt sich Doktor Kramer bei den Teilnehmern und kündigt an, seine Staatsanwaltschaft werde in der Sache Familie Mainforth die Hamburger Kollegen um Amtshilfe ersuchen. Dann beauftragt er Kriminaloberrat Stöver mit der Leitung der weiteren Ermittlungen. Dieser vergewissert sich bei Waldi Mohr der erneuten Unterstützung durch Nilis Team und betraut Boie Hansens Dienststelle mit der Begleitung Anneke Schraders samt deren Computer nach Itzehoe, damit die KTU ein Phantombild erstellen und ihren Chatverlauf auswerten kann. Ebenso will er das Elmshorner Polizeirevier bei der Suche nach dem Täter und dessen Fahrzeug einbeziehen.

*

Nili und Waldi verabschieden sich und begeben sich auf den Weg nach Kiel. Waldi will von Nili Genaueres über die anstehenden Ermittlungen erfahren.

»Ich bin hundertpro deiner Meinung, meine liebe Schnuggelfrau, dass es allerhöchste Zeit ist, dass wir uns dieser grausamen Fälle ernsthaft annehmen. Mittlerweile häufen sich die haarsträubenden Kriminalitätsfälle an Minderjährigen, die sich vorwiegend im Dunkelnetz abspielen. Ich will keineswegs die Meriten deiner beiden IT-Spezialisten schmälern, aber sie sollten dabei unbedingt auf die Unterstützung durch unsere Zentrale Ansprechstelle Cybercrime 10 im LKA zurückgreifen, denn dort haben sie es mit versierten Ansprechpartnern rund um die Internetkriminalität zu tun. Ich spreche nicht gern darüber, aber es steht zu befürchten, dass uns der liebenswerte Herr Fachinspektor Csmarits in nicht allzu langer Zeit wieder verlassen wird. Unser Chef erwähnte neulich, dass für ihn eine Beförderung ansteht. Das könnte bedeuten, dass man ihn ins Burgenland zurückbeordert. Auch Österreich rüstet im Kampf gegen Cyberkriminalität auf und braucht jede Menge Spezialisten wie Ferdl. Er hat Timo Bohn bisher prima angeleitet. Der wiederum hat sich in die Thematik zwar eingefuchst, jedoch fehlt es ihm noch an Erfahrung.« Waldi hält kurz inne, bevor er fortfährt: »Da ist noch etwas sehr Wichtiges. Ich muss euch ausdrücklich auf die persönlichen Gefahren für jeden – und dies gilt auch für unsere Beamten! – hinweisen, der sich in kinderpornografische Seiten im Internet einloggt, denn das ist strafbar. Sie oder er könnte dabei leicht in die Fänge von ZAC und Konsorten geraten, die nach solchen und anderen unlauteren Usern im Netz Ausschau halten. Einige Kollegen in anderen Bundesländern sind in arge Schwierigkeiten geraten, weil sie eigenmächtig versucht haben, diesen Tätern auf die Spur zu kommen. Unsere ZAC kooperiert eng mit speziell ausgebildeten und mit topaktueller Technik ausgestatteten Internetspezis. Darüber hinaus koordiniert die Ansprechstelle länderübergreifende Cybercrime-Ermittlungen im Falle von Angriffen gegen Unternehmen und Behörden. Darunter fallen beispielsweise Hacking, Datenklau und -veränderungen sowie digitale Erpressungen. Zudem besteht ein ständiger Kontakt mit den koordinierenden Experten im BKA und diese wiederum tauschen sich mit ebensolchen Abteilungen von Europol aus. Die Server der Missetäter befinden sich zumeist im Ausland, und an unseren Grenzen enden demnach leider auch unsere Möglichkeiten zur Strafverfolgung. Wir sollten also zwingend deren Unterstützung und Support nutzen. Um wie viele Cold Cases von misshandelten beziehungsweise vermissten Kindern handelt es sich denn?« Er sieht Nili fragend an.

»Das kann ich noch nicht genau sagen, Waldi. Tatsächlich habe ich Annekes Fall zum Anlass genommen, meinen Stapel zu durchforsten, und habe nur einen weiteren Fall gefunden. Daraufhin bat ich die Kollegen um Durchsicht ihrer Aktenberge. Ich denke, heute Mittag kann ich dir die genaue Zahl nennen. Würdest du bitte mit unserem Boss Heidenreich darüber sprechen, damit er das absegnet? Dann könnte ich auch die Itzehoer Kollegen darum bitten, Rücksprache mit dem Kreisjugendamt zu halten. Dort sind womöglich aktuelle Fälle von Kinderpornografie und Misshandlungen bekannt, die uns bisher nicht gemeldet wurden. Jedenfalls vielen Dank für die ausführliche Info über unsere ZAC. Ich werde mein Team entsprechend instruieren, damit sie vorsichtig sind. Du kennst ja Ferdl. Der würde sich vermutlich sofort mit Begeisterung ans Werk machen. Übrigens jammerschade, wenn es denn mit ihm so kommt, wie du gesagt hast. Er würde uns sehr fehlen, denn wir alle haben ihn wirklich lieb gewonnen!«

*

Es ist bereits fünfzehn Uhr an diesem Nachmittag, als sich Nili, Waldi und KOK Otmar Krey, Fachbearbeiter Kinderpornografie in der Cyberkriminalitätszentrale, im Arbeitsraum des Leiters von LKA-Abteilung 2, Kriminaloberrat Andreas Heidenreich, versammeln. Während des Mittagessens in der Kantine hat Nili ihrem Waldi die Liste der ausgewählten Cold Cases vorgelegt, die sie und ihre Mitarbeiter unter den ungelösten Fallakten gefunden hatten. Vom Kriminaloberrat zur Berichterstattung aufgefordert, trägt Nili vor: »Wir haben erst einmal fünf Fälle herausgesucht, die den Amtsbereich der Staatsanwaltschaft Itzehoe – also die Kreise Dithmarschen, Pinneberg und Steinburg – betreffen, zumal Staatsanwalt Doktor Kramer heute Vormittag unseren Dezernatsleiter Doktor Mohr ausdrücklich darum gebeten hat. Darunter sind die seit einigen Jahren als vermisst gemeldeten Pascal Heger, sechs Jahre alt, aus Elskop, Mia Martens, ebenfalls sechs, aus Krempe, und Alina Kühl, acht, aus Herzhorn. Die ersten beiden sind seit drei, die dritte seit anderthalb Jahren aus ihren Elternhäusern verschwunden. Dann haben wir noch zwei ältere Jugendliche, beide allerdings schon seit mehr als fünf Jahren vermisst: die aus Bekmünde stammende Frisörauszubildende Saskia Bürger, damals siebzehn Jahre alt, und der Bäckerlehrling Justin Graf, damals ebenfalls siebzehn, aus Brunsbüttel. In sämtlichen Fällen führten die Ermittlungen mangels relevanter Spuren in eine Sackgasse und wurden schließlich als unerledigt abgelegt.«

Abteilungsleiter Heidenreich nickt und fragt: »Ich weiß ja, liebe Frau Masal, dass Sie dank Ihrer besonders ausgeprägten Wahrnehmungsfähigkeiten bereits einige knifflige Cold Cases erfolgreich aufdecken konnten. Dennoch würde ich gern von Ihnen erfahren, was Sie zu der konkreten Annahme veranlasst, dass es Ihrem Team gelingen könnte, gerade diese älteren Fälle zu lösen. Ich meine, soweit ich das beurteilen kann, waren doch stets kompetente Sonderkommissionen mit diesen Ermittlungen beauftragt.«

»Das ist wohl richtig, Herr Kriminaloberrat. Ohne auf die weiteren Details der hier aufgeführten Fälle eingehen zu wollen, fielen uns jedoch bei näherer Akteneinsicht einige Aspekte beziehungsweise mögliche Spuren auf, die man – warum auch immer – nicht verfolgt hat. Zuallererst der geografische Aktionsradius der drei ersten Orte, der anscheinend bisher kaum beachtet wurde, liegen doch diese nur wenige Kilometer voneinander entfernt. Da diese Fälle von drei unterschiedlich zusammengestellten SOKOs bearbeitet wurden, hat man den Zusammenhang womöglich übersehen. Wir mutmaßen, dass die Taten einem Täter oder einer Gruppe von Tätern zuzuordnen sind. Zudem verfügen wir heute über weit mehr kriminaltechnische Hilfsmittel als die Kollegen vor einigen Jahren. Ich bin zudem dankbar, dass wir mit der Unterstützung eines versierten Kollegen der ZAC rechnen können, wissen wir doch, dass sich viele dieser Delikte hinter den obskuren Kulissen der illegalen Netzwerke abspielen und dort verbreiten. Es ist vor allem dieses Ass, das es auszuspielen gilt!« »Nun gut, Frau Masal, dann gehen Sie zunächst den drei erwähnten Fällen nach. Geben Sie mir bitte eine kurze Übersicht der relevanten Daten, damit ich das Plazet der Staatsanwaltschaft einholen kann. Schließlich kam von dort der damalige Beschluss, diese Akten zu schließen. Sie können aber bereits loslegen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Erfolg!«

*

»Okay, Leute«, verkündet Nili und begrüßt ihr Team mit einem kurzen Nicken, »wir haben grünes Licht von oben, zumindest was das erste traurige Trio betrifft. Seht euch diese Akten noch einmal ganz genau an, denn ich bitte jeden von euch, die Auffälligkeiten aufzulisten. Wie viel Zeit braucht ihr?«

Robert meldet sich zu Wort. »Ich denke, wir werden zumindest den morgigen Tag benötigen, um alles gewissenhaft durchzuarbeiten. Was halten Sie davon, Nili, wenn wir uns dafür in zwei Gruppen aufteilen?«

Nili nickt. »Finde ich sehr gut, Robert. Prima Ansatz! Dann tun Sie sich bitte mit Margret zusammen, und Sie, Ferdl, bilden mit Timo ein Team.« Sie blickt fragend in die Runde und vergewissert sich, dass alle einverstanden sind. »Also legen Sie los! KOR Heidenreich bat um eine zusammenhängende Auflistung der betreffenden drei Fälle, um die Genehmigung der Staatsanwaltschaft zu deren Wiederaufnahme einzuholen. Ich bitte Sie dann auch, diese morgen Herrn Doktor Mohr zu überreichen. Ich werde in der Zwischenzeit den Itzehoern im Fall Anneke Schrader unter die Arme greifen. Wir machen jetzt für heute Feierabend, damit wir morgen alle gut ausgeschlafen sind.«

*

Am nächsten Morgen läutet Nilis Telefon. Sie nimmt das Gespräch entgegen.

»Guten Tag, Frau Masal, hier spricht Frau Doktor Rafaela Hincke von der Hamburger Staatsanwaltschaft. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern?«

Nili denkt nach. Dann fällt ihr ihre Recherche über den Kokainschmuggel im Hamburger Hafen ein, die sie gemeinsam mit Kitt Harmsen unternommen hat.11 »Selbstverständlich, sehr geehrte Frau Staatsanwältin. Ich erinnere mich noch genau an unser damaliges Gespräch und Ihre freundliche Unterstützung und freue mich über den erneuten Kontakt. Könnte es sein, dass Sie mich in Verbindung mit den Ermittlungen in einer Entführungssache anrufen, in der der Name einer Hamburger Familie gefallen ist?«

»Ich bemerke mit Freude, liebe Frau Kriminalhauptkommissarin, dass der gute Ruf, der Ihnen vorauseilt, durchaus gerechtfertigt ist. Jawohl, es geht tatsächlich um die Befragung einer gewissen Familie Mainforth. Mir liegt die Aussage des Entführungsopfers vor. Die Kollegin Frau Bach aus Itzehoe bat ausdrücklich darum, Sie persönlich einzubinden. Ich möchte deshalb unsere Vorgehensweise mit Ihnen abstimmen, bevor wir in der Sache aktiv werden. Haben Sie einen Vorschlag?«

»Wenn Sie mich so fragen, Frau Doktor, denke ich, dass es eine gute Idee wäre, der Familie ohne Vorwarnung einen Besuch abzustatten und Sohn Kenny mit einer amtlichen Vorladung zur Befragung in Händen zu überraschen. Ehrlich gesagt glaube ich eher nicht, dass die Mainforths unmittelbar etwas mit der Entführung zu tun haben, andererseits werde ich das Gefühl nicht los, dass da eine Verbindung bestehen muss. Ich halte es daher für angebracht, an einem frühen Abend an deren Tür zu klingeln.«

»Ein sehr guter Vorschlag, Frau Masal! Ich kümmere mich umgehend um den Befragungsbescheid. Sie erhalten in den nächsten Stunden eine Nachricht von dem LKA-Beamten, der Sie begleiten wird. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg und noch einen schönen Tag.«

Nachdem das Telefonat beendet ist, ruft Nili KOR Stöver in Itzehoe an, um ihn ins Bild zu setzen. Wenig später empfängt sie auf ihrem neuen Smartphone ein nach Annekes Angaben gefertigtes Phantombild des Entführers. Kurz vor der Mittagspause erreicht sie die Benachrichtigung von Kriminaloberkommissar Hanno Lorenzen, dass er sie gegen fünf Uhr beim LKA in der Hamburger Polizeizentrale am Bruno-Georges-Platz erwarte. Sie informiert Waldi und er schlägt ihr vor, mit der Bahn nach Hamburg zu fahren. Er werde sie zum Bahnhof bringen und später auch wieder von dort abholen.

Im imposanten Hamburger Polizeigebäude eingetroffen, meldet sich Nili im LKA, wo sie von KOK Hanno Lorenzen empfangen wird. Ihr Begleiter entpuppt sich als ein schlanker und etwas wortkarger jüngerer, in einen seriösen Anzug und Krawatte gekleideter Kollege mit schütterem dunklem Haar – offensichtlich starker Raucher, wie Nili beim Einsteigen in seinen nach abgestandenem Tabak riechenden Dienstwagen naserümpfend bemerkt. Zu ihrem Glück dauert die gemeinsame Autofahrt bis zur Auguststraße in der Nähe der Außenalster weniger als eine halbe Stunde.

Nachdem Lorenzen am Tor der prunkvollen Villa geklingelt hat, meldet sich eine weibliche Stimme über den Lautsprecher neben der Pforte. Der Beamte hält seinen Dienstausweis in das Auge der darüber befindlichen Kamera. »Guten Tag. Wir sind vom Landeskriminalamt und würden gern Herrn Mainforth sprechen.«

Der Türsummer brummt und das Tor gleitet einen Meter seitwärts, um den Zutritt zu ermöglichen. Nili und ihr Begleiter folgen dem Aufgang bis zum Haus. Eine modisch gekleidete und gestylte blonde Frau mittleren Alters öffnet ihnen die Tür, stellt sich ihnen als Marie-Louise Weber-Mainforth vor und bittet sie herein. Sie führt die Besucher in ein mit moderner Designermöblierung eingerichtetes Wohnzimmer und zeigt auf das Ecksofa. »Nehmen Sie doch Platz!« Nachdem die beiden Beamten die ebenfalls angebotenen Getränke höflich abgelehnt haben, setzt sich die Hausherrin ihnen gegenüber auf einen zur Garnitur passenden Sessel.

»Sie wollten wohl meinen Mann sprechen«, schlussfolgert sie mit leichter Anspannung in der Stimme. »Er ist noch in der Bank und kommt vermutlich gegen achtzehn Uhr nach Hause.«

Während Nili ihren Dienstausweis zückt, um sich vorzustellen, bemerkt Lorenzen mit trockener Stimme: »Nein, Frau Mainforth, wir würden gern mit Ihrem Sohn Kenneth sprechen. Ist er im Hause?«

Die Frau lächelt, offensichtlich beruhigt.

»Da muss ich Sie leider enttäuschen. Unser Kenny befindet sich gegenwärtig in Cambridge bei Boston in den USA. Er studiert dort an der Harvard Universität und kommt erst nach dem Ende des Sommersemesters zurück. Darf ich fragen, worum es geht?«

Nili steckt ihren Dienstausweis wieder ein und holt ihr Smartphone hervor. Sie wählt die Fotodatei und wischt auf dem Display, bis sie das gesuchte Bild gefunden hat. Als sie der Frau das Foto hinhält, fragt sie: »Ist dies Ihr Sohn?«

Marie-Louise Weber-Mainforth nickt überrascht und wirkt zunehmend verunsichert. »Wo haben Sie das her? Das Foto stammt aus dem vorigen Jahr und das Auto gehört einem von Kennys Kommilitonen. Ist ihm etwas passiert? Bitte lassen Sie mich nicht so lange im Unklaren!«

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau!«, interveniert Nili. »Es ist nichts Schlimmes geschehen, jedenfalls nichts, was Ihren Sohn persönlich betrifft. Nur eben, dass sein Name in Verbindung mit einem Fall in Erscheinung getreten ist, den wir gerade bearbeiten. Wenn Sie nichts dagegen haben …« Nili hält inne, denn in diesem Augenblick fährt eine wuchtige Mercedes Benz Limousine auf die Auffahrt. Durch die großen Fenster des Salons sehen sie, wie der Fahrer aussteigt und die hintere Tür offen hält.

»Entschuldigen Sie bitte, da kommt mein Mann!«, krächzt die Hausherrin erleichtert. Sie springt auf und eilt zum Eingang.

Nili greift zu einer der auf dem Couchtisch liegenden Zeitschriften und blättert darin. Von der ersten Innenseite der ›Maribelle‹ lächelt ihr das Bild der Hausherrin und Redakteurin über ihrem Leitartikel entgegen, in dem sie sich – sinnigerweise – über die arg zunehmenden Fälle von sexueller Kindesmisshandlung auslässt.

Es dauert einige Minuten, bis das Ehepaar das Wohnzimmer betritt. Der Gatte, ein vierzigjähriger Glatzkopf in einem für einen Bänker üblichen Nadelstreifenanzug, tritt auf sie zu und mustert sie aus stahlgrauen Augen. »Guten Tag, ich bin Harrison Mainforth«, äußert er mit kalter Stimme und leichtem amerikanischem Akzent und setzt sich kurzerhand auf den zweiten Sessel, ohne den Besuchern die Hand zu reichen. »Was wollen Sie von meinem Sohn? Verfügen Sie überhaupt über so einen amtlichen Wisch, der Sie berechtigt, unseren Kenny zu befragen?«

»Guten Tag, Herr Mainforth«, antwortet Hanno Lorenzen im gleichen kodderigen Ton. »Frau Kriminalhauptkommissarin Masal und ich sind vom LKA und wollten eigentlich Ihren Sohn Kenneth H. Mainforth in einer Entführungssache als Zeuge befragen. Selbstverständlich haben wir die entsprechende Vorladung der Hamburger Staatsanwaltschaft vorliegen, die uns dazu berechtigt. Da wir allerdings soeben von Ihrer Frau erfahren haben, dass sich Ihr Sohn zurzeit in den USA aufhält, hat sich die Angelegenheit zunächst erledigt. Wir dürfen uns dann verabschieden!« Er steht ruckartig auf und sieht Nili mit einem zwinkernden Augenaufschlag an. Dann setzt er mit Blick auf die Mainforths hinzu: »Danke, bemühen Sie sich nicht, wir finden allein hinaus.«

»Bitte noch einen Augenblick, Herr Kommissar!« Die Hausherrin erhebt sich mit einem wütenden Seitenblick auf den Ehemann. »Bitte entschuldigen Sie seine unfreundliche Art und haben Sie die Güte, wenigstens mir zu sagen, woher Sie das Bild unseres Jungen haben und wer denn entführt worden ist.«

Nili tut so, als sei auch sie über Lorenzens ungestümes Agieren verärgert. Kurzerhand packt sie den Kollegen am Ärmel seines Sakkos und zieht ihn zurück auf das Sofa. »Es geht um die Entführung dieses vierzehnjährigen Mädchens«, sagt sie und zeigt Marie-Louise Weber-Mainforth Annekes Bild auf ihrem Handy. »Offensichtlich konnte sich der Entführer Ihre persönlichen Daten verschaffen und hat diese als Tarnung für sein Vorhaben genutzt.« Sie umreißt in wenigen Sätzen, was dem Mädchen widerfahren ist. Dann wischt sie erneut auf dem Display ihres iPhones und zeigt dem Ehepaar das Phantombild des Entführers. »Kennen Sie diesen Mann? Wir vermuten, dass er derjenige gewesen sein könnte, der sämtliche Bilder, die Kenny und Sie betreffen, dazu benutzte, das Entführungsopfer zu ködern.«

Während seine Frau umgehend verneint, sieht sich Harrison Mainforth das Bild genauer an. »Irgendwie kommt mir der Kerl bekannt vor«, sinniert er nach einer Weile, »aber ich kann sein Gesicht nicht einordnen.«

»Denken Sie bitte in Ruhe nach, Mister Mainforth«, sagt Lorenzen, nunmehr mit versöhnlicher Stimme. »Könnte es jemand sein, der Ihnen persönlich etwas anhängen möchte?«

»Mein Kollege will damit andeuten, dass es sich auch um jemanden aus Ihrem beruflichen Wirkungskreis handeln könnte«, legt Nili nach. »Wir haben dazu einen vielleicht nützlichen Hinweis, denn wir vermuten, dass es sich um einen Mitbürger mit slawischem oder griechischem Migrationshintergrund handelt.«

Der Bänker nickt und sieht sich das Foto ein weiteres Mal an. »Jetzt, wo Sie es erwähnen, Frau Kommissarin …« Seine Stimme klingt inzwischen verbindlicher. »Mmh, ich glaube, es war doch dieser Mann, ein Grieche. Ja, der könnte es gewesen sein! Ich erinnere mich leider nicht mehr an seinen Namen; ein ehemaliger Kunde unserer Bank. Er war der vormalige Besitzer des Restaurants ›Pharos‹ im Schanzenviertel, der damals – übrigens gegen meinen ausdrücklichen Rat, alles auf eine Karte zu setzen – darauf bestand, seine gesamten Ersparnisse in Lehman-Fonds anzulegen. Bei deren Pleite im Jahr 2008 verlor er alles und musste bald darauf Konkurs anmelden. Er wollte mich dafür belangen und behauptete, es sei meine Schuld gewesen – ich hätte ihn falsch beraten. Er verklagte schließlich die Bank und erlitt vor Gericht eine Niederlage, zumal wir eindeutig belegen konnten, dass wir ihn ausdrücklich auf das Risiko aufmerksam gemacht hatten. Schlimme Sache, aber es ging damals vielen anderen Anlegern genauso.«

Nili setzt ihr bestes Lächeln auf und legt ihre Karte auf den Tisch. »Das könnte passen. Danke, Herr Mainforth! Vielleicht versucht er jetzt, sich auf diese miese Art bei Ihnen zu rächen. Wir gehen der Sache nach und wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie gleich morgen in Ihren Unterlagen nachsehen und uns anschließend Namen und Anschrift des Mannes zumailen könnten!«

Nachdem der Bänker ihnen dies zugesagt hat, tippt Nili Lorenzen von der Seite an: »Ich glaube, wir können uns jetzt verabschieden, Herr Kollege!«

*

Als sie in Lorenzens Wagen eingestiegen sind und dieser sich in Bewegung setzt, bedankt sich Nili: »Das haben Sie gut gemacht. Mit Ihrer Vorgehensweise haben Sie den Kotzbrocken erheblich schockiert. Der affige Kerl scheint es nicht gewohnt zu sein, dass ihm jemand Paroli bietet.« Zum ersten Mal, seit sie sich getroffen haben, schmunzelt sie Lorenzen an.

»Kompliment retour, Frau Kriminalhauptkommissarin! Sie haben ebenfalls prima reagiert, indem Sie mich aufs Sofa zurückgezogen haben. So konnten wir am Ende doch noch Wesentliches in Erfahrung bringen.«

»›Böser Cop – guter Cop‹ funktioniert letztendlich immer noch am besten«, gibt Nili lächelnd zurück. »Und ja, mit dem, was wir erfahren konnten, kommen wir mit Sicherheit weiter.«

Bevor sie sich am Hamburger Hauptbahnhof voneinander verabschieden, sagt Lorenzen: »Bitte grüßen Sie meine ehemalige Partnerin, die Kollegin Förster, von mir. Sie ist doch bei Ihnen gelandet? Wie geht es ihrer Mutter?«

Nili spürt sofort, dass die beiden Kollegen über das Berufliche hinaus gut miteinander bekannt gewesen sein müssen. Deshalb berichtet sie ihm in ein paar Sätzen von ihrer Mitarbeiterin und deren MS-kranker Mutter, die seit einigen Wochen im Pflegeheim betreut wird. Zum Abschluss reicht sie ihm ihre Karte mit der Telefonnummer ihres Büros. »Hier können Sie sie jederzeit erreichen, wenn Sie mögen. Machen Sie es gut und nochmals herzlichen Dank für Ihre Unterstützung. Tschüss!«

Während sie am Hamburger Hauptbahnhof auf den nächsten DB-Regio-Zug nach Kiel wartet, setzt Nili eine SMS an Waldi ab, um ihm ihre Ankunftszeit mitzuteilen. Als der RE 70 etwas mehr als eine Stunde später im Kieler Hauptbahnhof einfährt, kommt er ihr am Bahnsteig mit der freudigen Ankündigung entgegen: »Ich habe fürs Abendessen einen Tisch bei unserem Griechen um die Ecke reserviert und auch gleich deine Teamkollegen dazu eingeladen. Wie ich deiner Nachricht entnommen habe, hast du wohl einige Neuigkeiten mitgebracht, und die sollten wir am besten gleich mit ihnen teilen!«

»Danke, Liebster, das finde ich prima! Aber bitte lass uns erst noch kurz zu mir nach Hause fahren. Ich muss unbedingt vorher duschen und diese nach Rauch stinkende Kleidung loswerden.« Während der Fahrt erzählt sie nur kurz von ihrer Begegnung mit Lorenzen. »Weitere Einzelheiten später bei Georgios! Haben dir die Kollegen die Kurzauskunft für Heidenreich übergeben?« Waldi bejaht und bestätigt, diese auch sofort ihrem Vorgesetzten persönlich überreicht zu haben.

*

Als Nili und Waldi kurz nach acht Uhr die Taverna Syrtaki betreten, sitzen bereits die Mitarbeiter des Teams an den leckeren Vorspeisen, die man hier für gewöhnlich den Stammgästen auftischt: das selbst gebackene knusprige Knobibrot, Maritas spezielles Tsatsiki, schwarze Kalamata-Oliven und die leckeren Dolmades – mit Reis gefüllte Röllchen im vergorenen Weinblättermantel. Heute werden sie ausnahmsweise von Marita begrüßt, weil Georgios wegen einer schmerzhaften Zahnbehandlung früher nach Hause gegangen ist.

»Wenn ihr damit einverstanden seid, würde ich euch heute eine neue Kreation anbieten, die Georgios und ich gemeinsam sozusagen ›verbrochen‹ haben: Auf der Insel Rhodos ist es eine althergebrachte Tradition, die Fastenzeit am Ostersonntag mit dem im Tontopf gegarten Rekiki, ein Milchzickleinbraten auf Reis, zu beenden. Ziegenfleisch ist hierzulande eher nicht so beliebt und auch nicht leicht zu bekommen, deswegen haben wir es versuchsweise durch einen Krustenbraten vom Schweinebauch ersetzt. So ein Topf reicht für sechs bis acht Portionen und ich dachte mir …« Allgemeines Nicken und lautes Klatschen unterbricht ihre Rede. Sie nickt und lächelt. »Der Topf hat bereits vier Stunden im Backrohr verbracht und ist in wenigen Minuten servierfertig. Was wollt ihr dazu trinken? Den üblichen roten Kamaro, Nili?« Alle bis auf Ferdl sind einverstanden: »Und wans für mi a kalts alkoholfreis Bia hättn, Frau Wirtin, wär a i recht happy!«, äußert er. »Zu so an Schweinernes passts eh besser und i muss euch ja a no z’hausführen!«

Während sie das Gericht mit allgemeiner Zustimmung genießen, berichtet Nili über die Neuigkeiten, die sich beim Besuch der Mainforths ergeben haben. Natürlich sorgt Ferdls sprichwörtlicher Appetit auch diesmal für die vollständige Entleerung des Tontopfinhalts.

Bevor sie sich verabschieden, übermittelt Nili, als sie und Margrit noch kurz zur Toilette gehen, Hanno Lorenzens Grüße. »Ich denke, er wird Sie bald anrufen, ich habe ihm unsere Karte gegeben.«

Margrit nickt mit einem Hauch von Traurigkeit im Blick: »Wir hatten uns sehr gern, er war ein prima und sehr verlässlicher Partner, aber irgendwie … Und dann war Schluss, denn ich musste ja wegen Mutter nach Kiel.«

»Hamburg ist nicht aus der Welt, Margrit, und wenn Sie möchten, dann wissen Sie ja, wo Sie ihn erreichen, nicht wahr?«

*

Am nächsten Vormittag tippt Nili gerade den Bericht ihres gestrigen Besuchs, als folgende Mail auf ihrem PC eintrifft:

Sehr geehrte Frau Kriminalhauptkommissarin,

wie gestern von Ihnen erwünscht, erhalten Sie nachstehend den gesuchten Namen: Herr Mihalis Marinakis – Ex-Besitzer des Restaurants ›Pharos‹ im Hamburger-Schanzenviertel. Damalige Anschrift: Steinstraße 4–6. Für Ihre weitere Info über neue Ermittlungsergebnisse den offensichtlichen Missbrauch unserer Daten betreffend danke ich bestens im Voraus. Mit freundlichen Grüßen, H. P. Mainforth.

Sie ruft sofort bei der Staatsanwaltschaft an und erreicht Doktor Uwe Pepperkorn. Nachdem sie ihm den Sachverhalt geschildert hat, bittet sie um Ausstellung eines Haftbefehls gegen den dringend Verdächtigen wegen Fluchtgefahr. Er verspricht ihr, dies umgehend in die Wege zu leiten.

Als alle von der Mittagspause zurück sind, fragt Nili in den Raum: »Haben sich inzwischen die Elmshorner Kollegen gemeldet?« Allgemeines Kopfschütteln. »Okay, dann frage ich mal dort nach. Robert, erinnern Sie sich vielleicht noch an den Namen der netten Reviervorsteherin in der Moltkestraße?«

Robert denkt kurz nach. »Leider nicht, Nili, tut mir leid!«

Ferdl ist rasch zur Stelle und deutet auf seinen Bildschirm. »Polizeihauptmeisterin Inge Mühldorf, hab i ausm Register!«

Nili lächelt. »Na denn rufen Sie die Dame gleich mal an und fragen Sie, ob sie und ihre Kollegen bei der Suche nach unserem Griechen schon etwas erreicht haben. Sollte bisher kein Ergebnis vorliegen, geben Sie ihr bitte den Namen dieses Mannes durch: Mihalis Marinakis. Vielleicht finden sie ihn damit eher.«

Wenig später meldet sich der Fachinspektor wieder: »Hallo, Kollegen, mal herhören! I stell Sie laut, Frau Mühldorf, könntens bitschön ois wiederholn, da hörn glei oi mit, okay?«

»Moin, Kollegen! Nett, mal wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Frau Masal! Trifft sich gut, denn wir waren gerade dabei, einen Bericht zu schreiben, als Ihr Anruf kam. Es gibt hier am Rande der Stadt tatsächlich eine freie Tankstelle mit Autowerkstatt, und zwar am Grenzweg in Klein Nordende. Der Betreiber ist ein gewisser Aristides Marinakis. Wir haben allerdings bisher nichts weiter unternommen.«

»Gute Arbeit, Kollegen«, lobt Nili, »vielen Dank! Warten Sie bitte auf uns, wir kommen noch heute zu Ihnen, dann können wir besprechen, wie wir es am besten angehen lassen. Tschüss, bis später!« Sie wendet sich an ihr Team: »Übrigens, wie weit sind Sie mit den drei Fallanalysen?«

Margrit hebt bedauernd die Schultern. »Wir sind noch nicht ganz fertig, Nili, sorry!«

»Mir zwoa san scho fast durch, ned wahr, Timo? Aba ois zamaschreibn müsst ma scho no!«

«Okay, Timo, übernehmen Sie bitte diese schriftliche Arbeit? Und Ferdl, ich würde Sie dann bitten, mich nach Elmshorn zu begleiten!« Sie deutet auf den vom Amtsgericht unterschriebenen Haftbefehl, den Hausbote Hugo Treumann soeben hereingebracht hat. Dann geht sie zum Waffenschrank und schnallt sich das Holster mit ihrer Dienstpistole um.

*

Der Streifenwagen mit den beiden Elmshorner Polizisten an Bord hält an der Zapfsäulenreihe an. Kurz danach folgen Nili und Ferdl im X3. Sie steigen aus und begrüßen sich; Nili kennt die beiden Beamten von einem früheren Einsatz 12 und stellt ihnen Ferdl vor. Anschließend begleitet Polizeimeisterin Lotte Hansen Nili in den Laden, während Ferdl und POM Thor Heymann zur Rückseite des Gebäudes gehen, wo sich die Werkstatt befindet. Vor deren Einfahrt parkt ein etwas ramponierter weißer Opel Transporter, im Inneren schraubt eine in einen Blaumann gehüllte Figur am Ölfilter des auf der hochgefahrenen Hebebühne stehenden VW Golf. Ferdl erkennt in ihm den Mann von dem Fahndungsfoto. Dieser hat ihr Herankommen nicht bemerkt »Des is unser Kasperl, packman?«, murmelt Ferdl dem Kollegen ins Ohr.

Polizeiobermeister Heymann nickt kurz und betritt die Werkstatt, die rechte Hand auf dem Griff seiner Dienstwaffe.

»Mihalis Marinakis? Polizei! Wir haben hier einen Haftbefehl gegen Sie. Sie sind vorübergehend festgenommen wegen des dringenden Verdachts, eine Minderjährige entführt zu haben. Bitte legen Sie das Werkzeug aus der Hand und kommen Sie mit erhobenen Armen zu uns!«

Mit überraschter Miene wendet sich Marinakis ihnen zu. Er zuckt kurz mit den Schultern und lässt den Maulschlüssel fallen. Dann kommt er der Aufforderung nach und tritt den Beamten widerstandslos entgegen. Ferdl legt ihm Handschellen an und sagt: »Gemma, Burschi, das wär’s dann für di gwesn!« Er führt den Festgenommenen zu ihrem Dienstwagen.

Im selben Moment treten Nili und Lotte Hansen aus dem Laden.

»Prima, dass Sie ihn gefasst haben!«, sagt die Polizeiobermeisterin.

Nili ergänzt: »Er ist der Bruder des Tankstelleninhabers und ist bei diesem nach seinem Konkurs untergekommen. Der arme Kerl hat alles verloren. Bis auf die nackte Haut haben die Bänker ihn gerupft!«

»Hättns bittschön die Nummer der SpuSi, Frau Chefin?« Schmunzelnd deutet Ferdl in Richtung der Werkstatt: »Sei oide Kraxn steht da vor der Garaschn!«

Nili ruft selbst an und bittet schließlich die beiden Kollegen, die Überführung des Transporters zur Itzehoer KTU durch einen lokalen Abschleppdienst in die Wege zu leiten, denn die dortige SpuSi befinde sich gerade in einem Großeinsatz.

*

Als sie später auf dem Weg nach Itzehoe sind, versucht Ferdl mit dem neben ihm im Wagenfond sitzenden Festgenommenen ins Gespräch zu kommen. Marinakis wiederholt allerdings stets nur das Wort »Anwalt«.

Nili interveniert: »Lassen Sie’s gut sein, Ferdl. Der Mann hat zwar schwere Schuld auf sich geladen, aber irgendwie kann ich ihn sogar verstehen. Bedauerlicherweise hat er sich dabei an einem vollkommen unschuldigen Mädel vergriffen. Das war eine üble Tat, für die er büßen muss. Andererseits sitzt er tief in der Scheiße und der Mitschuldige an seiner Misere sonnt sich in Saus und Braus. Sie hätten den Kotzbrocken erleben sollen!« Dann richtet sie sich an den Festgenommenen: »Hören Sie, Herr Marinakis: Ich kann Ihnen eine sehr gute Anwältin besorgen, die mit Sicherheit dazu beitragen wird, dass Ihre Bestrafung so mild wie möglich ausfällt. Sie könnte Ihnen vielleicht sogar dabei helfen, etwas von Ihrem verlorenen Geld zurückzubekommen. Sind Sie einverstanden?«

Marinakis dankt ihr mit Tränen in den Augen. »Das Ganze tut mir ja so leid, Frau Kommissarin! Ich wollte dem Mädchen nichts Böses tun, bitte glauben Sie mir!«

Über die Sprechanlage des Dienstwagens lässt sich Nili mit ihrer Freundin Kitt Harmsen verbinden. Sie erklärt ihr kurz den Sachverhalt. Kitt verspricht, die Akte anzufordern und sich am nächsten Morgen mit dem Festgenommenen zu treffen.

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Große Genugtuung ist auf ihren Gesichtern abzulesen, als sie Mihalis Marinakis im Büro des Leiters der Bezirkskriminalinspektion persönlich abliefern. Kriminaloberrat Stöver ist hocherfreut, dass Nili und Ferdl ihnen die Arbeit abgenommen haben, seine beiden Kommissare Westermann und Steffens hätten doch gerade alle Hände voll mit einem in letzter Nacht entdeckten Tötungsfall zu tun: Ein Familienvater habe seine beiden Kinder und die von ihm getrennte Ehefrau erstochen und sich danach selbst gerichtet.

»Das war äußerst flotte und sehr gute Arbeit, Frau Masal! Ihnen und Ihrem Team herzlichen Dank!«, lobt Staatsanwältin Doktor Bach, die ein ausnahmsweise gut gelaunter ›Hein Gröhl‹ herbeigebeten hat. Da Marinakis auch ihr gegenüber bis zur Ankunft seiner Rechtsanwältin schweigen möchte, übergibt sie ihm eine schriftliche Rechtsbelehrung und lässt ihn bis zu deren Eintreffen in eine Zelle abführen. Morgen soll er dann einem Ermittlungsrichter vorgeführt werden. Dann fragt die Staatsanwältin: »Sind Sie inzwischen mit den anderen Fällen weitergekommen, Frau Masal? Doktor Kramer berichtete mir bereits, dass Sie einige Cold Cases von vermissten Minderjährigen aus unserem Gerichtsbereich wieder aufnehmen wollten.«

»Insoweit ja, als wir uns gegenwärtig der intensiven Aktenstudie widmen, um daraus weitere Aktionen ableiten zu können. Zudem läuft unser Antrag beim Oberstaatsanwalt, um die Genehmigung zur Wiedereröffnung der Akten zu erhalten. Wir halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden.«

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Es ist schon etwas spät an diesem Donnerstagnachmittag, als Nili und Ferdl das Polizeihochhaus in der Großen Paaschburg verlassen. Nili verspürt überhaupt keine Lust, jetzt im Hauptverkehr nach Kiel zurückzufahren. Nachdem sie in den Dienstwagen eingestiegen sind, hat sie eine Idee. »Haben Sie an diesem Wochenende etwas Besonderes vor, Ferdl?«

»Na, i ned, Frau Chefin, warum?«

»Mein Vorschlag wäre, es hier auf dem Lande zu verbringen? Wir würden jetzt nach Oldenmoor fahren. Bestimmt können Sie wieder bei Onkel Oliver und Tante Madde auf dem Holstenhof übernachten. Morgen Vormittag unternehmen wir dann eine kleine Pirschfahrt zu den drei Orten, von denen die Kinder verschwunden sind. Wie ich Sie kenne, haben Sie längst die Fallakten auf Ihrem heiligen Notebook gespeichert. Was halten Sie davon?«

»I bin dabei, Frau Chefin! Ist mir immer wieder ein Pläsier, bei Ihrer lieben Familie zu Gast zu sein.«

Nili öffnet die Fahrertür, steigt aus, geht um den Wagen herum und öffnet die Beifahrertür: »Fahren Sie bitte? Ich muss alle anrufen, um sie vorzuwarnen.«

Makabrer Augustfund im Watt

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