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4. Heiße Fracht

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Die DFDS-Fähre Victoria Seaways aus Klaipéda in Litauen legt pünktlich um zweiundzwanzig Uhr am Ostuferhafen in Kiel an. Einige der sechshundert Passagiere gehen zu Fuß von Bord, die anderen steigen in ihre Autos und rollen hintereinander über die ausgefahrene Heckrampe vom Fährschiff. Auch zahlreiche Lkws verlassen einer nach dem anderen das Lastwagendeck. Der in der Ukraine gebürtige Alexej Melnik lenkt den noch taufrischen, erst vor einem halben Jahr mit Kieler Kennzeichen zugelassenen DAF XF Sattelschlepper vorsichtig über die Rampe hinüber auf das Festland. Er befürchtet mögliche Unbequemlichkeiten, als er die beiden mit knallgelben Sicherheitswesten ausgerüsteten Zöllner etwa fünfhundert Meter weiter vorn erspäht, die mit ihren Stopp-Kellen in Händen die an ihnen vorbeifahrenden Lastzüge mit Argusaugen begutachten. Er hat das Glück, dass der unmittelbar vor ihm fahrende russische Lkw von den beiden Beamten angehalten und auf eine Nebenspur umdirigiert wird. Nur einen kurzen Blick wirft einer der Zöllner auf das Kennzeichen seines Vierzigtonners und der Beamte winkt ihm zu, er dürfe weiterfahren. Den Kollegen hinter ihm trifft allerdings weniger Wohlergehen, denn auch er wird zur Kontrolle an die Seite gewinkt.

Nachdem er das Hafengelände verlassen hat, greift Alexej zu einem Handtuch hinter dem Fahrersitz und wischt sich damit den Schweiß von Stirn und Hals. „Satana, Teufel noch mal, das hätte schiefgehen können!“ Zum vierten Mal fährt er schon auf dieser Route, vollgeladen mit Industriepaletten „made in Lituania“. Bei jeder seiner drei vormaligen Fuhren – da hatte er allerdings nur diese Paletten geladen – wurde er von den Zöllnern angehalten und überprüft. Entlang der Fördestraße fährt er mit äußerster Vorsicht auf der Route, die ihm das GPS vorgibt, in Richtung Schilksee. Jetzt nur nicht irgendwie auffallen!

Dann hat Alexej endlich sein Ziel erreicht, fährt auf die Grundstückauffahrt und über den Vorhof auf das geräumige Lagerhaus im Hintergrund zu. Lautlos öffnet sich das Tor vor ihm und schließt sich ebenso geräuschlos, nachdem es der Lastzug passiert hat.

„Pryvit, Alexej!“, wird er freudig von seinem Landsmann begrüßt, als er aus der Kabine steigt. „Alles gut?“

„Vse, khoroshe, Wlado! Hatte dieses Mal verdammtes Glück beim Zoll, konnte sogar ohne Kontrolle durchfahren.“

„Wie viele sind’s heute?“

„Vier.“

„Da wollen wir doch mal sehen. Sind sie in der Mitte?“

Alexej nickt, geht auf die Seite des Anhängers und löst dort die Spanngurte der Plane.

Wlado fährt mit einem Elektro-Gabelstapler heran und beginnt, die Stapel mit Industriepaletten zu entladen. Dann kommt ein zwischen den Paletten geschickt getarntes Gehäuse zum Vorschein, das äußerlich fast nicht von den anderen Paletten zu unterscheiden ist. Alexej und Wlado setzen Balaklavas auf. Nur ihre Augen sind noch hinter den Sturmmasken sichtbar. Wlado hebt sehr vorsichtig das Gehäuse von der Ladefläche und deponiert es auf dem Boden. Dann erlöschen die Hallenlichter und Alexej schiebt den Verschlussriegel beiseite und leuchtet mit seiner Taschenlampe in das Verlies. „Khoroshe, meine Damen, bitte aussteigen!“

Nachdem die vier Teenies eine nach der anderen mühsam aus ihrem Käfig herausgestolpert sind, müssen sie sich erst einmal wieder an die aufrechte Gangart gewöhnen, denn sie haben die letzten beiden Tage im Liegen oder im Sitzen verbracht. „Also jetzt los, Abmarsch ins Bad zum Duschen und auf die Toilette. Dort findet ihr auch frische Wäsche zum Umkleiden.“

Während die Mädchen sich waschen und umziehen, lädt Wlado die Paletten zurück auf die Ladefläche. Dann fährt er den Käfig in eine Ecke des Lagerraums und holt von dort weitere Paletten, um die in der Ladung entstandene Lücke zu schließen.

Ein Motorengeräusch nähert sich der Einfahrt, Wlado blickt auf den Monitor. „Ach, da ist sie schon!“ Er drückt auf einen Knopf, das Tor öffnet sich und schließt sich automatisch, nachdem der schwarze Kastenwagen in die Halle gefahren ist. Eine schlanke weibliche Figur steigt aus. Sie ist in einen Monteuranzug gekleidet und hat ihren Kopf ebenfalls mit einer Sturmhaube vermummt. Wlado hebt grüßend den Arm und zeigt dann in Richtung des Badezimmers. Zu Alexej gewandt sagt er: „Dobre, Alexej. Du fährst jetzt weiter nach Gütersloh zum Abladen. Der Chef ruft dort morgen an und sagt dir, wie es weitergeht. Gute Fahrt! Do powachennya!“

„Auf Wiedersehen“, grüßt Alexej aus dem heruntergelassenen Seitenfenster seines DAF zurück. Dann manövriert er diesen langsam rückwärts hinaus auf den Vorhof, wendet und verlässt das Grundstück.

Etwa eine halbe Stunde später verlässt auch der schwarze Ford Transit das Lagerhaus. Auf der B 76 fährt er über Eckernförde nach Rendsburg und dann auf der A 7 weiter nach Flensburg.

Alina, Olga, Jana und Jelena sitzen eng gedrängt nebeneinander auf einer Viererbank auf der Ladefläche des Transporters und sind mit Handschellen aneinandergefesselt. Alle sind auffallend hübsch und haben wohlgeformte Körper. Alina ist noch nicht ganz sechzehn, Jana und Olga sind es bereits. Jelena ist mit siebzehn die Älteste. Arglistige Schlepper haben sie mit dem Versprechen auf gut bezahlte Arbeitsplätze in deutschen Hotels und Restaurants aus ihren armseligen Dörfern in der Ostukraine gelockt. Eine fesch aussehende Frau hat sie dann in einer schmucken Limousine bei ihren Familien abgeholt und ihnen sogar einige Tausend Hrywja in die Hand gedrückt, um, wie sie vorgab, deren Abschiedsschmerz etwas zu mildern. Den Text der „Quittung“, die man ihnen hierfür zur Unterschrift vorlegte, haben sie nicht verstanden oder konnten ihn sowieso nicht lesen. Darin hatten die Eltern ihren minderjährigen Töchtern unwissentlich die Zustimmung für deren Ausübung von „Haushaltsdiensten jeglicher Art“ im Ausland erteilt. Die naiven Mädchen wurden, nichts Böses ahnend, aus ihren Heimatorten über viele Hundert Kilometer zunächst nach Vilnius gebracht, wo sie zum ersten Mal aufeinandertrafen. Dort wohnten sie in einem alten, aber geräumigen und nett möblierten Haus. In einem Frisörsalon verpasste man ihnen modische Haarschnitte und in dessen Kosmetikabteilung brachte man ihnen zudem bei, sich vorteilig zu schminken und attraktiv zurechtzumachen. Während ihres vierzehntätigen Aufenthaltes bekamen sie nicht nur einige modische Dessous und Kleider geschenkt, sondern absolvierten tagtäglich vier anstrengende Stunden deutschen Sprachunterricht. Am Ende der Ausbildung fuhr die bislang immer noch fröhliche Gruppe zusammen mit ihrer Ausbilderin Natalja nach Klaipéda, wo sie in einem Hotel übernachteten. Man bat sie um ihre Reisepässe, denn man wolle für sie im Deutschen Konsulat Visum und Arbeitserlaubnis einholen. Die Pässe haben sie bisher nicht zurückbekommen. In deren Getränken verabreichte man ihnen beim Abendessen eine größere Dosis K. O.-Tropfen. Groß waren der Horror und ihre Verzweiflung, als sie einige Stunden später aufwachten und sich in dem hölzernen Käfig wiederfanden. Während sie hilflos gewesen waren, hatte man ihnen dickere Trainingsanzüge und Mützen angezogen und sie dann in Wolldecken eingehüllt. Nur alle zwei Stunden leuchtete von oben eine schwache Birne für etwa fünf Minuten auf sie herab. In einem Regal erspähten sie dann ein paar Plastikflaschen mit Mineralwasser und einige in Folientüten gehüllte belegte Brote. In der Ecke befand sich eine Chemietoilette für die Notdurft, darüber surrte leise ein Klimagerät. Dann war wieder totale Finsternis. Die zwanzigstündige Reise über die aufgewühlte Ostsee war Jana und Olga nicht gut bekommen, sie hatten sich mehrmals übergeben. Alle leiden auch jetzt noch unter üblen Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen – die Nachwirkungen der Bewusstsein beraubenden Substanz.

Der schwarze Transporter fährt vorsichtig durch die enge Durchfahrt auf einen Hinterhof in der Voigtstraße, manövriert dann rückwärts in eine Doppel-Tiefgarage, deren Tür sich nach der Einfahrt sofort wieder herabsenkt. Als sich die Hecktür zum Laderaum öffnet, kommen zwei Frauen, eine jüngere und eine etwas reifere, und befreien die vier immer noch verwirrten Mädchen von ihren Fesseln.

„Hallo, ich bin Natasha und das ist Tatjana. Willkommen in Flensburg!“, sagt die in einem kirschroten, sehr eng anliegenden Hosenanzug gekleidete und sehr attraktive Frau auf Russisch.

Dann helfen sie den Mädchen aus dem Wagen und lenken sie durch die rückwärtige Ausgangstür zur Treppe, über die sie in das Obergeschoss gelangen. Man führt sie in einen größeren Schlafsaal, in dem sechs Betten aufgestellt sind. Zwei davon sind offensichtlich schon belegt, allerdings liegt zurzeit niemand darin.

„Habt ihr Hunger, wollt ihr etwas essen oder trinken?“

Die vier Neuankömmlinge schütteln die Köpfe.

„Mineralwasser steht dort im Kühlschrank. Dann legt euch hin und schlaft euch erst einmal ordentlich aus. Dort drüben ist das Badezimmer. Morgen früh sprechen wir weiter. Spokoynoy nochi und angenehme Träume!“ Natasha und Tatjana verlassen den Raum und schließen die Tür.

Alina folgt ihnen mit dem Blick und bemerkt, dass diese keine Klinke auf der Innenseite hat. „Wir sind hier gefangen!“ Um ihre Aussage zu bestätigen, hören sie das Geräusch eines Riegels, der zugeschoben wird. Alina wirft sich auf eines der Betten, vergräbt das Gesicht in dem darauf befindlichen Kissen und weint bitterlich.

*

Der Erlass des liberalisierten Prostitutionsgesetzes durch den Deutschen Bundestag im Jahr 2002 bescherte der Liebesdienerinnen-Branche – ganz entgegen der ursprünglichen Erwartung der Gesetzgeber – fröhlichen „Freudenhaus-Wildwuchs“ und in dessen Folge eine erhebliche Zunahme des Menschenhandels in den verschiedenen deutschen Bundesländern. Hatten unsere Legislatoren mit der Gesetzesnovelle in bester Absicht geglaubt, den schnöden Betreibern des organisierten Sexgewerbes ein Hindernis in den Weg gelegt zu haben, geschah in der Tat das krasse Gegenteil. Nicht zuletzt im Bundesland Schleswig-Holstein floriert seitdem das älteste Gewerbe der Welt auf höchstem Niveau, wenn man dabei überhaupt von „Niveau“ sprechen darf. Begünstigt durch die Grenznähe zu Dänemark – wo dessen Ausübung im Gegensatz zu den restlichen skandinavischen Ländern zwar erlaubt ist – sowie den kurzweiligen Fährenverkehr aus Schweden und Norwegen [Länder, in denen die Prostitution gesetzlich strengsten untersagt bleibt und seit 1999 sogar nur die Freier bestraft und vom Fiskus zur Kasse gebeten werden oder etwa ins Gefängnis müssen], geht es hier im Lande in Sachen käufliche Liebe ziemlich locker zu. In den meisten größeren Städten sowie rings um die Fähr-Anlandungshäfen wachsen Bordelle, Laufhäuser und Straßenstriche rasant. Erst sehr zögerlich bemerkt man in der Bundes- und den Landeshauptstädten, was da so alles vorgeht, und die ersten Kritiker melden sich zurück. Wegen des bestehenden föderativen Gesetzeswirrwarrs zwischen Bund und Ländern, wobei in einigen der Letzteren inzwischen Politiker verschiedener Couleur laut um eine Konzessionspflicht von Erotik-Etablissements hin und her ringen sowie Menschen- und FrauenrechtlerInnen die Würde der im Gewerbe tätigen Sexarbeiterinnen einfordern, hat es bislang – abgesehen von den üblichen und hohlen politischen Willenserklärungen – keine konkreten gesetzlichen Konsequenzen gegeben. Alle Landeskriminalämter beklagen angesichts der zunehmenden Gewalttaten jener kriminellen Schlepperbanden, die laufend für den Bordell-Nachschub sorgen, das Fehlen gesetzlicher Befugnisse, um diese Umtriebe unter Kontrolle zu halten. Sie schätzen, dass 95 Prozent dieser Frauen entweder durch falsche Versprechungen angelockt oder mittels Erpressung, Misshandlung und Gewalt zur Ausübung der Liebesdienste gezwungen werden.

*

Ein blassblauer Neonschein umrahmt die verdunkelten Fensternischen an der Fassade sowie an der dezenten „Moonshine Club“-Leuchtschrift über der massiven Eichentür des Nachtlokals. Es ist ein rundum schick renoviertes Alt-Backsteingebäude, das sich deutlich von den restlichen maroden und vernachlässigten Häusern in dieser Altstadtgasse Flensburgs abhebt. Drückt der Besucher den neben dem Eingang angebrachten goldenen Klingelknopf, unter dem eine übersichtliche Plakette anmahnt, dass hier der Zutritt „Ausschließlich für Clubmitglieder“ gestattet sei, erforscht ihn zunächst das inquisitorische Auge einer ferngesteuerten Kamera. Dann meldet sich eine melodische weibliche Stimme, die den Gast um sein geheimes Passwort bittet. Bevorzugte Mitglieder besitzen allerdings hierfür eine Chipkarte, die sie in einen Schlitz einfügen. Erst danach öffnet sich ihnen lautlos die Tür, die sich nach deren Eintritt sofort wieder schließt. Ein roter Läufer führt den Stammgast zwangsweise durch einen Scan-Detektor, denn man wünscht hier keineswegs den Zutritt etwa bewaffneter Besucher. Fällt die Durchleuchtung zur vollen Zufriedenheit des unsichtbar gebliebenen Aufsehers aus, begrüßt den Gast, selbstverständlich mit seinem Namen, eine auffallend hübsche junge Frau in kurzer Dienstmädchenkleidung und nimmt ihm die Garderobe ab. Sie öffnet die Zugangstür zum Salon und geleitet ihn weiter zur Empfangsdame. Natasha, in ihrem aparten, hauteng anliegenden roten Hosenanzug, der die vollbusige Silhouette vorteilhaft betont, begrüßt den Gast. „Guten Abend, Herr Doktor Allwardt. Nett, dass Sie uns wieder einmal beehren.“

„Ich habe heute eigentlich eine Verabredung mit Ihrem Herrn Tiedemann“, erwidert der etwas kahle, endsechzigjährige Anwalt, der, offensichtlich etwas nervös geworden, seine vergoldete Brille auf der knolligen Nase zurechtrückt und überrascht ist, als Natasha ihn zu einem der Tische im nur mäßig beleuchteten Lokal führt. Auf diesem wie auch auf allen weiteren Tischen lauert eine Flasche kostbaren Champagners im Eiskübel auf den Besucher.

„Ich weiß, Herr Doktor. Der Chef rief vor fünf Minuten an und informierte mich darüber. Er bittet Sie um Entschuldigung, er werde sich um etwa eine halbe Stunde verspäten, und instruierte mich, Ihnen diese Wartezeit so kurzweilig wie möglich zu versüßen. Darf ich Ihnen Champagner servieren lassen?“

„Nein, danke, sehr lieb gemeint, Frau Natasha, aber ich muss noch fahren. Lieber einen schönen starken Mokka und ein Mineralwasser, wenn es sein darf.“ Jan Allwardt schaut sich im Salon um. Rund die Hälfte der Tische ist mit Pärchen besetzt, an einigen sitzen sogar mehrere Damen zwischen den Herren. Leise und gediegene Musik untermalt die typische Szenerie dieses einschlägigen Amüsierlokals der gehobenen Klasse. Zwei Paare bewegen sich eng umschlungen auf der Tanzfläche zum Rhythmus der Melodie.

„Hallo, guten Abend! Ich heiße Svetlana und bringe Ihnen den Kaffee“, sagt die auffällig junge und gut aussehende weibliche Erscheinung, die sich weit zu dem Anwalt hinüberbeugt, sodass er gezwungenermaßen ihren wohlgeformten Busen im großzügig dekolletierten goldenen Lamee-Kleid bewundert.

„Danke, sehr freundlich“, stammelt der Rechtsanwalt, durch diesen tiefen Einblick etwas verunsichert.

„Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?“, fragt Svetlana und nutzt die Situation rasch aus, indem sie neben ihm auf dem engen Sofa Platz nimmt. Dann legt sie lässig eine Hand zwischen seine Hosenbeine, die andere um seinen Kopf und dreht diesen langsam zu sich herum. Mit einem tiefen Blick in seine Augen schnurrt sie wie ein Kätzchen in ihrem russisch gefärbten Akzent: „Lädst du mich zu einem Schampanski ein?“

Dr. Jan Allwardt ist von Haus aus das, was man hierzulande einen „droegen Knaken“ – einen „trockenen Knochen“ – bezeichnet, folglich ziemlich humorlos und rigide. Schon seit vielen Jahren betreut er juristisch seinen fast gleichaltrigen Mandanten Jochen Tiedemann Senior und amtiert zugleich als Justiziar für dessen Unternehmensgruppe, die Jochen Tiedemann Holding GmbH und Co. KG. Aus der anfänglichen kleinen Spedition, mit der der Unternehmensgründer, der Vater des jetzigen Seniors, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem ausrangierten US-Army-Truck seine Firma aus den Kriegsruinen emporbrachte, ist inzwischen ein beachtliches Konglomerat aus sowohl eigenen als auch Beteiligungen an weiteren Firmen entwachsen, das selbst der Justiziar nicht mehr gänzlich übersehen kann, da zudem einige davon vom benachbartem europäischen Ausland aus operieren.

Die von ihm als enthemmt empfundenen Annäherungsversuche dieses äußerst verführerisch wirkenden weiblichen Wesens – wie er die gegenwärtige Situation mit seinem kühlen Juristenverstand analysiert – bringen ihn in eine bizarre Zwickmühle. Einerseits regen sich in ihm die erstaunlicherweise durch das von Svetlana entfachte Feuer entzündeten Reste seiner Libido, die er seit dem Tode seiner Ehefrau von fünf Jahren als gleichzeitig mit dieser für beerdigt geglaubt hat, andererseits aber betrachtet er seine jetzige Anwesenheit aus doch sehr ernstem Anlass – eine berufliche Aufgabe also, die man doch keinesfalls mit etwaigen Amüsements vermengen dürfe.

Gerade als er angestrengt überlegt, wie er den verlockenden Avancen seiner neben ihm sitzenden Circe begegnen soll, kommt ihm die rettende Angel in Gestalt des Etablissement-Inhabers, Jochen Tiedemann Junior, zu Hilfe. „Ist schon gut, Svetlana, du kannst gehen, ich übernehme unseren Gast.“

Wortlos erhebt sich die Angesprochene, allerdings mit deutlich verkniffener Miene.

„Und lass mir bitte meinen Bourbon on the Rocks herbringen, ja? Danke dir. Guten Abend, sehr geehrter Herr Doktor“, wendet er sich anschließend dem Besucher zu, reicht ihm die Hand und setzt sich ihm gegenüber in einen Sessel.

„Guten Abend, lieber Jochen. Da habt ihr mich ja mit einer verführerischen Schlange bedacht. Die wäre sicher eine Sünde wert“, entfährt es dem aus der Puste gekommenen Rechtsanwalt.

„Hierzu fällt mir ein alter Witz ein, geschätzter Herr Doktor: Wenn Adam und Eva im Paradies Chinesen gewesen wären, was wäre passiert, als die Schlange sie mit dem verbotenen Apfel in Versuchung bringen wollte?“

Dr. Allwardt ist ratlos. „Tut mir leid, da muss ich passen.“

„Ganz einfach, Herr Doktor: Die Chinesen hätten den Apfel verschmäht und dafür die Schlange verspeist!“ Jochen Tiedemann Junior grinst. „Aber nun im Ernst: Was verschafft mir die Ehre?“

Rasch verschwindet der Anflug eines Lächelns aus Allwardts Gesicht, das er sich nur höflichkeitshalber abgetrotzt hat. „Tja, ich bat um diese Unterredung auf Bitten deines Vaters, mein Junge. Er ist ziemlich besorgt und hat mich deshalb angewiesen, dieses Gespräch mit dir zu führen. Dabei erwähnte er – allerdings nur oberflächlich – den anscheinenden Versuch eines angestellten Sachbearbeiters eurer Steuerberatungskanzlei, die Tiedemann Holding etwas tiefer auszukundschaften, als es für einen solch beauftragen redlichen Dienstleister gang und gäbe ist. Unter uns gesagt, Jochen, finde ich allerdings die Tatsache äußerst unangenehm, dass besagter übereifriger Angestellter der Kanzlei Westphal inzwischen anscheinend von der Erdoberfläche verschwunden ist, was viel Staub aufgewirbelt hat, weil die Polizei jetzt nach dem Vermissten fahndet. Wenn du erlaubst, habe ich hierzu zwei Fragen: Erstens: Wie seid ihr überhaupt auf den Verdacht gegen diesen – wie heißt er noch mal, hm?“, er nimmt einen Zettel aus der Jackentasche und liest aus diesem vor: „Thomas Greve, gekommen? Und zweitens: Hast du oder hat einer deiner Leute eventuell etwas mit seinem plötzlichen Verschwinden zu tun?“

Jochen Tiedemann nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas Bourbon, das sein Barkeeper inzwischen an den Tisch gebracht hat. „Nun, sehr geehrter Herr Doktor, zunächst teilen Sie bitte meinem Vater mit, er brauche sich bitte keine Sorgen mehr wegen des Ausspionierungsversuchs dieses Herrn Greve zu machen. Diese Angelegenheit habe ich inzwischen persönlich und einvernehmlich mit diesem Herrn geklärt. Ja, auch ich habe danach aus den Medien etwas von seinem Verschwinden erfahren, versichere Ihnen allerdings, dass weder ich noch einer ‚meiner Leute‘ – wie soeben von Ihnen angedeutet – irgendetwas hiermit zu tun haben. Und wie wir ihm auf die Schliche gekommen sind? Nun ja, es war einer unserer Informanten, der uns darüber in Kenntnis setzte. Sie begreifen doch, Verehrter, in der heutigen Geschäftswelt ist das Wissen über so viel wie möglich ein unentbehrliches Werkzeug zum Erfolg.“

Dr. Allwardt trinkt einen Schluck von seinem Mokka, der allerdings inzwischen kalt und bitter geworden ist. Mit angewidertem Gesichtsausdruck schickt er einen Schluck Wasser hinterher.

„Darf ich Ihnen noch einen Kaffee bringen lassen, Herr Doktor?“

„Nein, mein lieber Jochen, nicht nötig. Also kann ich demnach den Herrn Papa in dieser Angelegenheit beruhigen, ja?“

„Durchaus, Herr Doktor.“

„Nun gut. Aber ich habe noch eine eigene Bemerkung auf dem Herzen, Jochen. Wenn ich mich hier umschaue – und du weißt ja, dass ich dieses Lokal gelegentlich besuche –, konnte ich allerdings bemerken, dass mir deine Animierdamen doch sehr jung – fast wollte ich sagen zu jung – erscheinen. Bist du auch sicher, dass hier keine minderjährigen Damen am Werk sind? Ich müsste dich ernsthaft warnen, wenn dies der Fall sein sollte. Mach dich nicht unglücklich, die heutige Justiz versteht keinen Spaß, und du weißt ja, der uns besonders wohlgesinnte Richter, Herr Doktor Habekost, steht kurz vor dem Ruhestand. Niemand weiß, wer sein Nachfolger wird. Und mit unserem Oberstaatsanwalt Harmsen ist sowieso nicht zu scherzen, denn er ist ein unbestechlicher Beamter. Also hüte dich vor unvorsichtigen Machenschaften und vor allem unterbinde das Dealen im Lokal. Ich habe soeben bemerkt, dass an einem der Tische – dort am Fenster, sieh dich bitte jetzt nicht um – der blonde Mann die anderen Gäste mit Pillen versorgt und ihnen mit Engelsmiene das Geld abgenommen hat. Das darfst du hier nicht dulden!“

Wortlos steht Jochen Tiedemann auf, dreht sich um und geht direkt auf besagten blonden Mann zu. „Sehr geschätzter Herr Baader, darf ich Sie um ein kurzes Gespräch bitten? Seien Sie so nett und begleiten mich in mein Büro.“ Im Vorbeigehen instruiert er leise den Mann an der Bar. Kurz darauf geht dieser an den Tisch der verbliebenen Gäste, legt den beiden Herren die Rechnung vor und beordert ihre drei weiblichen Begleiterinnen zurück an den Tresen. Als die beiden Männer, offensichtlich überrascht und verärgert, protestieren wollen, packt der kräftige Angestellte den einen etwas unsanft am Arm, reißt ihn vom Sessel hoch und flüstert ihm sehr leise ins Ohr. Wortlos erhebt sich der andere, legt das geforderte Geld auf den Tisch und geht, gefolgt von seinem Begleiter, den der Barmann inzwischen losgelassen hat, in Richtung Ausgangstür.

Kurz bevor sie den Salon verlassen, ersucht sie Natasha: „Geben Sie mir Ihre Clubchipkarten, ab sofort haben Sie Lokalverbot.“ Dann verlassen sie gemeinsam den Salon.

Wenig später folgt ihnen mit hochrotem Kopf Herr Baader, der sich ein blutgetränktes Taschentuch vor die Nase hält.

Der verunsicherte Dr. Allwardt hat das Geschehen beobachtet, das sich in weniger als fünf Minuten vor seinen Augen abgespielt hat. Nun weiß er nicht, ob er auf Jochens Rückkehr warten soll, weil dieser ihm eine Antwort schuldig geblieben ist, oder ob er sich besser verabschiedet.

Kurze Zeit darauf kommt Svetlana an seinen Tisch. „Herr Doktor, der Chef bittet Sie in sein Büro. Wollen Sie mir bitte folgen?“

Dr. Allwardt erhebt sich und folgt wortlos den unter dem eng anliegenden Kleid verführerisch wippenden Gesäßhälften, die vor seinen Augen zu schweben scheinen. Jedoch anstatt in das versprochene Büro zu gehen, öffnet Svetlana die Tür zu ihrem Liebesnest, zieht den verdatterten Rechtsanwalt mit hinein und verschließt die Tür.

Jochen Tiedemann Junior sitzt an seinem Büroschreibtisch. Er ist ein stämmiger Mann Anfang dreißig mit mittlerer Statur. Sein kahl rasierter Schädel und die dünnen Lippen verleihen ihm einen gewissen harten und leicht finsteren Ausdruck, der wohl seinen wahren Charakterzügen entspricht, auch wenn er – wie gerade beim Gespräch mit dem Rechtsanwalt – bei solchen Gelegenheiten stets bemüht ist, sich eher jovial und freundlich zu zeigen. Darüber kann auch sein tadellos sitzender Maßanzug samt Seidenschal um den Hals im aufgeknöpften rosa Signum-Hemd nicht hinwegtäuschen.

Er reibt sich die rechte mit der linken Hand, verspürt er doch noch eine leichte Nachwirkung des Faustschlags, den er kurz zuvor seinem Gast, Olaf Baader, verpasst hat, nachdem er diesen wegen des Drogenhandels zur Rede gestellt und anschließend hinausgeschmissen hatte. Dann greift er zum Telefonhörer. „Bobby, sag bitte Natasha, sie möchte zu mir kommen, sobald sie frei ist. Danke!“

Kurz darauf betritt Natasha das Büro.

„Bitte setz dich. Wir müssen reden.“ Er macht eine Pause, dann leert er sein Glas Bourbon in einem Zug. „Ich glaube, wir bekommen ein Problem“, meint er anschließend.

„Und das wäre?“, will Natasha wissen. Sie geht um den Schreibtisch herum und setzt sich auf Jochens Schoß.

Gerade als sie ihren Arm um seine Schulter legen will, kontert Jochen schroff: „Lass das bitte, Natasha, die Sache ist zu ernst und mir ist gerade nicht nach Vögeln zumute!“

Ohne sich ihre Kränkung anmerken zu lassen, erhebt sich die Frau, wendet sich von ihm ab und setzt sich auf den Sessel. Stumm wartet sie ab, bis Jochen das Wort ergreift.

„Ich sagte, wir haben ein Problem, Natasha. Die Mädchen, die man uns herüberschickt, werden immer jünger und sie sehen auch ihrem Alter entsprechend aus. Wie alt sind die vier, die heute gekommen sind?“

„Eine ist siebzehn, zwei sind sechzehn und eine kurz davor!“

„Siehst du, gerade das meine ich! Ja, ja, ich weiß schon, was du sagen willst, es ist gerade dies, was unsere feinen Gäste begehren – junges Fleisch! Und es bringt uns sogar Prämienerlöse, auch das ist wahr. Aber es wird immer riskanter, ein solches Personal vorzuhalten, die Kontrollen werden häufiger und leider auch gründlicher. Zwei unserer Nachbarläden hat die Polente in diesem Monat schon erstürmt: Einer davon wurde sofort geschlossen und den Sigi haben sie sogar eingelocht!“

„Der hat wohl nicht ausreichend geschmiert, da hat er jetzt den Schaden!“, meint Natasha kühl.

„Irgendwann wird uns das auch nicht mehr helfen, mein Schatz. Unser Rechtsanwalt hat mich soeben deutlich gewarnt. Die Tiedemann Gruppe kann sich ein solches Risiko gegenwärtig überhaupt nicht leisten, da steht noch viel Ernsteres auf dem Spiel.“

„Ja, Jochen, ich hörte, dass dein Rechtsverdreher Thomas Greves Namen erwähnt hat. Meinst du das?“

„Unter anderem auch das.“ Jochen Tiedemann Junior nickt. „Ich denke, wir müssen vorerst den Nachschub aus Klaipéda stoppen, das Ganze wird mir im Moment zu heiß.“ Es folgt eine längere Stille. Dann fährt er fort: „Hör zu, Natasha, ich möchte, dass du dich gleich morgen früh nach Vilnius aufmachst und Natalja Wankowa kontaktierst. Das geht nicht von hier aus übers Handy, es muss persönlich sein! Sie soll die bereits erfolgten Anbahnungen absagen oder sie zumindest um, sagen wir, ein halbes Jahr verschieben. Falls nötig, zahle ihr den Ausfall, ich gebe dir ein paar Tausender Bargeld mit.“ Während er sich über den im Fußboden unter dem schweren Perserteppich verborgenen Safe beugt und diesem mehrere Bündel Euroscheine entnimmt, spricht er weiter: „Ich kümmere mich inzwischen darum, dass unsere Spedition dort vorerst ausschließlich Paletten lädt und hertransportiert. Und noch etwas: Tatjana muss sich besonders um die Neuen kümmern, damit kein Ungemach passiert. Ich denke, wir sollten sie vorerst irgendwo anders unterbringen, zum Beispiel auf Ivo Jankowicz’ Bauernhof bei Rendsburg. Bei ihm wären sie zurzeit sicher aufgehoben – soll ja auch nicht zu seinem Schaden sein. Ich rufe ihn gleich an. Wenn er zusagt, müssten die vier Mädels noch heute, spätestens aber morgen, möglichst in der Nacht hinüberbefördert werden. Darum soll sich Tatjana mit Hilfe von Alexej und Wlado kümmern. Sobald die Mädels dort sind, könnte Harro hinfahren und sich mal wieder um das Zureiten den jungen Stuten kümmern.“ Er übergibt Natasha das Geld. „Sei mir nicht böse, Liebes, und verzeih das von vorhin. Ich verspreche dir, ich mach’s wieder gut, sobald du zurück bist. Gute Reise und viel Erfolg!“ Zum Abschied küsst er sie leicht auf die Lippen.

Im Januar trug Natasha Rot

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