Читать книгу Im Januar trug Natasha Rot - Manfred Eisner - Страница 9
3. Wirtschaftsintermezzo
ОглавлениеNili nimmt sich mal wieder ihr Tagebuch vor, denn sie hat einiges nachzuholen. Nachdem Oma Clarissa schon seit ihrer frühen Jugend die für sie bedeutenden und intimsten Gedanken ihren Tagebüchern anvertraut und gelegentlich Tochter und Enkelin daraus vorgelesen hatte – Nili hatte daraus so viele interessante Begebenheiten aus der Familiengeschichte, aber auch von den ereignisreichen Tagen der Flucht aus Nazi-Deutschland und aus dem bolivianischen Exil der Großeltern, ihrer Mutter Lissy und Onkel Oliver erfahren –, regte sie dies ungemein an, selbst diesem Beispiel Folge zu leisten. So hatte sie seit ihrem ersten Jahr am Hamburger Gymnasium damit begonnen und in unregelmäßigen Abständen immer dann jene erwähnenswerten Erlebnisse festgehalten, die ihr bedeutend erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und vor allem wegen eines damals unglücklich verlaufenen und für sie schmerzhaft beendeten Liebesverhältnisses hatte sie das Tagebuchschreiben für längere Zeit unterbrochen. Als sie einige Jahre später zur Kriminaloberkommissarin befördert worden und dann auch nach Oldenmoor zurückgekommen war, nahm sie sich fest vor, dieses wieder mit größerer Regelmäßigkeit aufzunehmen. Seitdem hält sie vor allem jene interessantesten Fälle schriftlich fest, mit denen sie in Berührung kommt. Allerdings nicht mehr handschriftlich, sondern sie tippt ihre Aufzeichnungen jetzt auf dem Laptop und speichert sie gesondert auf einer eigens dafür bestimmten und zur sicheren Aufbewahrung getrennten Festplatte.
Frag ich mich ehrlich, liebes Tagebuch, ob ich glücklich bin, muss ich die Antwort in zwei Hälften teilen. Zunächst die schöne Hälfte, die persönliche. Ja, ich bin überglücklich! Dass Waldi und ich endlich zueinandergefunden haben, ist ein wunderbares Erlebnis! Wir verstehen uns einmalig gut, unsere Treffen sind herrlich harmonisch und amüsant. Unser Intimleben ist einfach himmlisch, auch in dieser Hinsicht ist unsere Beziehung ein Volltreffer! Es ist wunderschön, gelegentlich in der Früh aufzuwachen, den Geliebten neben sich zu fühlen und ihn anzusehen, während er noch im Schlaf versunken ist. Ich glaube auch oft zu erahnen, von welchen Erlebnissen er gerade träumt; das in seinem Gesicht angedeutete Lächeln sagt mir, es sind schöne Szenen, die sich da in seinem Gehirn abspielen. Wenn ich mich dann bei ihm unter seiner Decke einkuschele, dauert es nicht lange, bis seine starken Arme sehnsüchtig nach meinem Körper tasten und seine gierigen, heißen Lippen meine Brüste liebkosen. Er vermag es, mich im Nu zu erregen und es dauert nicht lange, bis wir beide, wunderbar gleichzeitig, beim explosionsartigen Höhepunkt angelangt sind (schäm dich, Nili, wie kannst du überhaupt so etwas schreiben!). Waldi hat mich für meine bisherige und ziemlich lang andauernde sexuelle Enthaltsamkeit großzügig entschädigt! Kurzum, wir sind sehr glücklich miteinander! Allerdings schleicht sich bei mir im Hintergrund immer die böse Angst um den Geliebten ein! Aber es ist bei Waldi sicherlich genauso, wenn er an mich denkt. Wir haben eben beide einen – wie heißt es so schön in der Amtssprache? – mit erhöhtem Risiko behafteten Beruf. Und mit diesem Stichwort komme ich zur zweiten Hälfte, der weniger zufriedenstellenden. Meine Versetzung zum Dezernat 22 – Wirtschafts-, Korruptions- und Umweltkriminalität – kam für mich aus heiterem Himmel und ohne jegliche Vorwarnung und ich nehme dies meinem vormaligen Chef wirklich ein wenig übel! Nun, ich habe Verständnis für den Engpass, die Aktendeckel der unerledigten Fälle türmen sich auf dem Schreibtisch meiner neuen Kollegin KOK Engel meterhoch – ist nicht übertrieben! Dennoch, ich habe mich bei dem früheren Aufgabenbereich im Dezernat 21 – Organisierte und Drogenkriminalität – eher besser aufgehoben gefühlt und hatte mich zudem bereits gut in der Materie eingearbeitet. Waldis Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar erfreute mich riesig, die war schön längst fällig. Dass Waldi aber jetzt noch zusätzlich sozusagen mein Vorgesetzter wurde, war natürlich ebenfalls nicht vorauszusehen (man stelle sich das nur einmal vor: Unzucht mit Abhängigen! Pfui Deibel!). Nein, im Ernst, in dieser Beziehung macht es für mich allerdings meine Versetzung erträglicher. Nur ein Einwand, Euer Ehren: Von Wirtschaft habe ich wirklich null Ahnung! Also, Nili, was soll’s! Ran an die neue Aufgabe!
„Moin, Anne!“ Nili hängt ihren mit Fell gefütterten Regenmantel und die nass gewordene wollene Pudelmütze in den Kleiderschrank. „Ein scheußliches, nasskaltes Wetter ist dies!“ Sie holt ihren Becher mit der Aufschrift ‚Mi querido tinto‘ (Mein geliebter Schwarzer), den sie von Leutnant Sandra García in Kolumbien zum Abschied geschenkt bekommen hat, aus ihrer Plastiksteige und geht an die Kaffeemaschine. „Darf ich?“
„Nur zu, Nili, jede von uns kauft abwechselnd ein Pfund Darboven’s Classic, in Ordnung?“
„Aber natürlich.“ Nili nickt. „Ich bin einverstanden, der schmeckt wirklich gut.“
„Und ist obendrein noch magenfreundlich!“
„Was soll ich tun, Anne? Um die Wahrheit zu sagen, ich habe von dem hier“, sie zeigt auf den Aktenstapel, „überhaupt keine Ahnung.“
„Das hatte als Anfänger hier auch so gut wie niemand, Nili. Macht dir keinen Kopf. Schnapp dir einfach die oberste Akte und fang an zu lesen. Darin steht so manches, und wenn du nicht weiterkommst, frag einfach. Dann sehen wir gemeinsam rein, okay?“
Nili folgt Annes Ratschlag. Der erste Fall befasst sich mit einer Reihe von zuletzt Geschädigten des infamen „Enkeltricks“. Das Schema ist immer das gleiche: Die meist alleinstehenden Senioren erhalten einen Anruf von einer Person, die sich ihnen als ihr Enkel oder ihre Enkelin ausgibt. Den Namen erfahren die Gangster meistens vom Geschädigten selbst, der so in etwa fragt: „Bist du das, …?“, worauf der Anrufer dies nur bejahen muss und über den Namen im Bilde ist. Ahnungslos werden die alten Menschen manches Mal um ihr gesamtes Sparvermögen betrogen, wenn sie, nachdem sie von der Notlage oder der einmaligen Kaufgelegenheit des Verwandten erfahren haben, zur Bank gehen, das benötigte Geld abheben und dies dann aufgrund verschiedener Tricks oder sogar durch gewaltsamen Raub an die Verbrecher verlieren. Trotz wiederholter Warnungen der Polizei, des Fernsehens und in Zeitungen fallen immer wieder hilflose alte Menschen den in der Türkei, Rumänien oder Bulgarien beheimateten Banden zum Opfer. Die Geldabholer – angeblich ist der betreffende „Enkel“ beziehungsweise die „Enkelin“ in diesem Moment ernsthaft verhindert – schnappen sich die Beute und verschwinden spurlos jenseits unserer Grenzen. Zu fassen, wenn überhaupt, sind lediglich die Handlanger, die nur in den seltensten Fällen irgendwelche nützlichen Angaben zur Verfolgung der Übeltäter in ihren Heimatländern preisgeben.
Nachdem Nili das Dossier durchgelesen hat, fragt sie: „Also, Anne, was mache ich jetzt mit dieser Enkeltrick-Akte? Ist doch ziemlich hoffnungslos, das Ganze. Und ich glaube kaum, dass wir hier etwas Wirksames unternehmen können, oder?“
Anne reicht ihr ein Formblatt über den Tisch. „Hast recht, Nili. Bitte Aktenzeichen, die Schadensummen, sofern sie erfasst wurden, und die Anzahl der Fälle hier eintragen. Das Blatt voran ablegen. Aktendeckel in die Post zur Auswertungsstelle.“
„Und was wird aus den armen Opfern?“
„Die schauen traurig in den Mond, was sonst?“
Und so geht es in etwa weiter, ein Aktenzeichen nach dem anderen. Allesamt Fälle von Betrug, versuchter Geldwäsche, Übervorteilung, Unterschlagung, veruntreuten Geldsummen, Abzocke und so weiter.
Dann läutet das Telefon. Anne nimmt das Gespräch entgegen. „Für dich!“, sagt sie dann und schwenkt den Apparat zu Nili hinüber.
„Hi, Nili, hier ist Kriminaloberkommissarin Hink von der Blumenstraße, erinnerst du dich noch an mich?“
„Natürlich, Steffi, wie geht es dir? Was kann ich für dich tun?“
„Hättest du ein wenig Zeit, um kurz zu uns rüberzukommen? Es geht um den Einbruch bei Thomas Greve in der Hofstraße. Wir haben von KOK Lattermann von eurer abendlichen Exkursion erfahren. Sicher kannst du uns ein wenig weiterhelfen.“
„Natürlich gern, wenn ich hier mal kurz wegdarf?“ Sie richtet einen fragenden Blick an die Kollegin.
Anne Engel schaut auf ihre Uhr. „Ist sowieso kurz vor Feierabend, mach einfach Schluss für heute.“
„Okay, bin in einer halben Stunde bei euch, in Ordnung?“
„Prima! Danke, Nili, bis gleich!“
Steffi und Sascha erwarten sie am Eingang der Kieler Bezirkskriminaldirektion. „Trinken wir einen Kaffee?“, fragt Steffi. Sie gehen die wenigen Schritte bis zum Café Resonanz in der Mittelstraße. „Wie ich schon am Telefon sagte, wurden wir von den Kollegen vom Einbruch bei Thomas Greve in der Hofstraße eingehend informiert. Lattermann bemerkte, dass du Greve aus der Schulzeit kanntest?“
„Ja, in der Tat.“ Während sie ihren Cappuccino schlürfen, erzählt Nili, dass sie gestern mit ihrer Freundin Melanie Westphal – die sie ja vom Mordfall des Bruders auch kennen und bei der sie im Hause wohnt – zu Abend gegessen hat und diese das Verschwinden ihres Angestellten erwähnte. Sie rief dann bei Thomas’ Eltern in Sankt Margarethen an, aber diese wussten ebenso wenig über den Verbleib des Sohnes. Darauf beschlossen sie, ganz spontan mal in dessen Wohnung nachzusehen, und stellten dabei den Einbruch fest. Sie alarmierten dann sofort die Polizei.
Steffi lächelt. „Okay, so weit die offizielle Version. Und was war da noch? Wir wissen, Melanie und du wart in Begleitung von Waldi Mohr dort, stimmt’s? Er war es immerhin, der bei Lattermann anrief und den Einbruch meldete.“
Nili fühlt die starke Hitze, die an ihren Ohren emporsteigt. Nur gut, dass sie die Wollmütze darüber aufhat. „Na ja, stimmt, hatte ich das nicht bereits erwähnt? Habt ihr übrigens schon eine Spur von Thomas?“
„Leider nein, deswegen führen wir ja dieses Gespräch.“
Nili überlegt einen Moment, greift in ihre Manteltasche und holt die in Klopapier eingewickelte Haarbürste hervor. „Hier, vielleicht hilft euch das weiter. Fragt mich bitte nicht, warum ich sie an mich genommen habe, es war eine automatische Eingebung, aber ich musste auf die Toilette, und als ich da saß, fiel mein Blick auf diese Bürste. Vielleicht könnt ihr mit der DNA etwas anfangen.“
Sascha fixiert Nili. „Danke, könnte uns vielleicht weiterhelfen. Hast du noch etwas für uns?“
Nili überlegt rasch, wie weit sie ihre Kollegen einweihen darf. „Mm, ja. Jetzt, wo du fragst, Sascha. Vor etwa zwei Wochen rief mich Thomas auf meinem Handy an. Er meinte, er habe da etwas Sonderbares bei einem der Kanzleimandanten entdeckt und wolle sich mit mir, allerdings wegen der ihm gebotenen Schweigepflicht nur ganz inoffiziell, beraten. Ich war damals sehr beschäftigt, also vereinbarten wir, dass er mich Anfang Januar nochmals anrufen würde, was allerdings bis heute nicht geschehen ist.“
„Ist das alles?“
„Ich wüsste wirklich nicht, was da noch sein könnte“, schwindelt sich Nili haarscharf davon.
*
Äußerst gespannt sitzen Heinz Westphal, Ehefrau Antje und Tochter Melanie in ihrem Wohnzimmer vor dem Bildschirm von Melanies Laptop. Diese hat bisher vergebens versucht, den Zugangscode zu den gespeicherten Dateien auf der CD-ROM herauszufinden, die Thomas Greve so sorgfältig in seiner Wohnung kaschiert hatte. „Verflixt! Welches Passwort hätte er denn noch verwenden können?“ Sie haben schon alle möglichen ohne Erfolg eingegeben.
„Lass uns eine Pause machen, Melanie, es hat ja so keinen Zweck!“, räsoniert Antje.
„Ich glaube, deine Mutter hat recht. Am besten, jeder zieht sich jetzt in sein Stübchen zurück und notiert weitere Vorschläge, die ihm durch den Kopf gehen. Dann kommen wir später wieder zusammen und versuchen es noch mal.“
„Hallo, Melanie, was gibt’s? Ich bin gerade beim Haarewaschen, ruf dich gleich zurück! Oder besser noch, komm doch zu mir rauf, wenn du zu Hause bist!“
Einige Minuten danach klopft es an der Tür und Nili öffnet, während sie sich noch die Haare mit einem Handtuch trocknet. „Ich muss unbedingt zum Frisör, diese Mähne macht mich noch verrückt! Wenn Waldi doch nicht so sehr an meinen langen Haaren hängen würde, ich hätte lieber wieder einen kurzen Bubischnitt!“
„Jetzt, in diesem kalten Winter? Eine Kurzhaarfrisur war doch eher für Südamerika angebracht!“
„Hast recht, Melanie. Also, was hast du für mich?“
Wortlos öffnet Melanie den Deckel ihres mitgebrachten Laptops und zeigt auf das Startmenü mit dem Titelbild der Beatles-CD. In dessen Mitte befindet sich der leere Rahmen, in den das geheime Codewort einzutippen ist, mit dem man den Zugriff auf die Dateien erhält. „Was hast du denn schon alles versucht?“
„Hier ist die Liste!“ Nili schaut auf die etwa fünfundzwanzig Passwörter, mit denen sie es vergeblich versucht haben. „Mm, ‚Thomasgreve‘ hattest du schon. Versuchs mal mit den Namen der Eltern – ‚Magnusgreve‘, ‚Geschegreve‘ – oder der Schwester – ‚Swantjegreve‘.“
Wieder kein Erfolg.
„‚Tierarztgreve‘?“
Ihnen wird der Zugriff verweigert.
Nili geht selbst an die Tastatur und tippt nach weiteren fünf oder sechs Missgriffen „dr.swantje.greve“ ein. Es ertönt die bekannte Beatles-Melodie „Help!“ und dabei öffnet sich das Menü mit fünf Datei-Icons.
„Mensch, Nili, das war mal wieder spitze! Wie bist du darauf gekommen?“
Nili erzählt von dem ehemaligen Familiendrama der Greves, dass Thomas sein Veterinärmedizinstudium hinwarf, um auf BWL umzusatteln, und dass dann seine Schwester für ihn eingesprungen war.
Auch nachdem die Westphals gemeinsam die von Thomas Greve gespeicherten Dateien durchgesehen haben, will ihnen nichts Besonderes auffallen.
Heinz Westphal schüttelt den Kopf. „Er hat einfach einige Rechnungskopien und Aufzeichnungen aus den Steuererklärungsunterlagen der Tiedemann Holding kopiert und hier gespeichert. Ich kann daraus keine Unregelmäßigkeiten erkennen.“
„Ja, schade, dass er es uns nicht persönlich erläutern kann“, bedauert Melanie. „Zu mir sprach er von besonderen Auffälligkeiten, die man nur zwischen den einzelnen Positionen herleiten könne, denn sie seien sehr geschickt getarnt worden. Es muss einen Grund dafür geben, dass er gerade diese Dateien so sorgfältig versteckt hat, sonst ergibt das Ganze ja eigentlich keinen Sinn!“
„Tut mir leid, Melanie, ich kann hieraus keinen ernst zu nehmenden Zusammenhang erkennen. Jochen Tiedemann erschien mir immer als absolut integrer Kaufmann. Wenn ich irgendwelche Bedenken über Angaben oder Abrechnungen für die Steuererklärung bei ihm meldete, wurden diese sofort entweder berichtigt oder sogar zurückgezogen.“
„Also, Papi, was wollen wir tun?“
„Nichts mehr, mein Kind. Betrachten wir diese Sache als abgeschlossen, zumindest so lange, bis uns Thomas erklären kann, was ihm hier aufgefallen sein soll. Hoffen wir, dass er bald wieder auftaucht!“
*
Aufmerksam lauscht Oberstaatsanwalt Hinrich Harmsen dem, was ihm Kriminalrat Harald Sierck und seine Mitarbeiter Sascha Breiholz und Steffi Hink über den mysteriösen Mordfall in der Silvesternacht berichten. „Wir haben es mal wieder einem Zufall – oder vielleicht besser gesagt ebenfalls dem besonderen Spürsinn einer LKA-Mitarbeiterin – zu verdanken, dass wir heute mittels einer DNA-Analyse den unbekannten Toten endlich zweifelsfrei identifizieren konnten. Es handelt sich um den Steuerberater Thomas Greve, Jahrgang 1972, Sachbearbeiter bei der Steuerkanzlei Westphal, der nach dem ebenfalls erfolgten Einbruch in seine Privatwohnung als vermisst galt. Er besuchte zuletzt die Silvesterfeier in der Halle 400. Danach verliert sich allerdings seine Spur, die wir bisher leider noch nicht aufnehmen konnten, aber wir arbeiten hart daran.“
„Welcher Zufall, und wen meinten Sie mit dieser LKA-Mitarbeiterin?“
Sierck lächelt Harmsen breit an: „Die Kollegin sollte Ihnen eigentlich bestens bekannt sein, geehrter Herr Oberstaatsanwalt!“
„Ach was! Sagen Sie bloß, es handelt sich um Kriminalhauptkommissarin Masal!“ Er lässt sich den bislang bekannten Hergang von den Kriminaloberkommissaren Steffi Hink und Sascha Breiholz ausführlich berichten. Nach einer Denkpause meint Harmsen: „Ohne Ihnen irgendwie auf die Füße treten zu wollen, geschätzter Herr Kriminalrat, was halten Sie davon, Frau Masal als Unterstützung hinzuzuziehen? Ich meine, sie kannte den Toten, ist mit Familie Westphal gut befreundet und wohnt sogar in deren Haus. Und wie Sie schon richtig bemerkten, besitzt sie einen ausgesprochen feinen Spürsinn. Das sollten wir nutzen, meinen Sie nicht auch?“
„Was sagt ihr?“, fragt Sierck. „Ich hätte prinzipiell nichts dagegen!“
„Ich auch nicht, sie ist eine sehr angenehme Kollegin und wir haben schon öfter erfolgreich mit ihr zusammengearbeitet“, urteilt Steffi.
„Und Sie, Sascha?“
„Bin ausnahmsweise einverstanden.“
„Also nicht vollkommen überzeugt, Breiholz?“, hakt Harmsen nach.
„Im Prinzip ist es ja unser Fall, nicht wahr? Wir sehen es gar nicht gern, wenn sich das LKA so mir nichts, dir nichts in unsere Ermittlungen einmischt. Aber Hauptkommissarin Masal ist schon okay, Herr Oberstaatsanwalt, wird schon schiefgehen!“
„Also gut, ich rufe sofort bei KOR Heidenreich an.“
„Entschuldigen Sie, Herr Oberstaatsanwalt“, wirft Steffi ein, „Nili hat mir erzählt, dass sie Anfang des Jahres vorübergehend in die 22 versetzt worden ist, weil es dort besonders klafft!“
Hinrich Harmsen verkneift sich gerade noch eine ärgerliche Bemerkung. „So, also zu KOR Friedrichs. Mm, dann rufe ich eben dort an. Danke für den Hinweis, das ist mir wohl entgangen.“
Nili stöbert auf ihrem PC im Online-Portal des Handelsregisters Schleswig-Holstein und sucht nach den Namen der größten und bedeutendsten Unternehmensgruppen im Lande, vorwiegend jene, die mit ihrem Hauptsitz in der Landeshauptstadt registriert sind.
„Wozu willst du das wissen?“, fragt Kollegin Anne Engel, als sie ihr über die Schulter sieht und ihr den frisch gefüllten Kaffeebecher hinstellt.
„Ach, Anne, ich bin da in etwas Eigenartiges verwickelt worden und wollte mich nur mal ein wenig informieren.“ Um sicherzugehen, wählt sie die Telefonnummer des Handelsregisters im Schloss Gottorf in Schleswig. Nach längerer Hin-und-her-Fragerei landet sie schließlich bei einer Frau Irmgard Walter. Diese gibt ihr die gewünschten Informationen und führt sie durch den Datendschungel, sodass sie am Ende mit einer Liste von zehn möglichen Kandidaten dasteht. Sie kopiert die Liste und speichert sie auf ihrem Laptop. Dann greift sie zur nächsten Akte vom Stapel der unerledigten Fälle. Ein krasser Fall von Kreditkartenbetrug. Da die Sachlage eindeutig ist und die der Polizei bestens bekannten Täter zweifelsfrei durch Aufnahmen der Videokamera am Geldautomaten der Holsteinischen Bank erkannt wurden und diese auch geständig sind, geht die Akte zur weiteren Bearbeitung und Erhebung der Anklage an die Staatsanwaltschaft. „Wenigstens ein Erfolgserlebnis!“, stöhnt Nili. „Mich ärgern immer noch die gewissenlosen Täter mit ihrem miesen Enkeltrick. Ich würde liebend gern mal so ’ner Type für fünf Minuten im Dunkeln begegnen!“
„Solche Rachegelüste hätte ich bei dir gar nicht vermutet!“, kontert Anne.
„Hast ja recht, aber allein bei dem Gedanken geht einem doch sozusagen das Messer in der Tasche auf, oder?“
„Mensch, Nili, denk doch nur auf die ominösen Kaffeefahrten, da geht es den ahnungslosen Rentnern auch mies, wenn sie zunächst mit dem Versprechen auf ‚den Hauptgewinn‘ geködert und dann mit dem Kauf von nutzlosem Tand geprellt werden. Ich hab hier gerade wieder so einen Fall. Aber diesmal kaufen wir uns die Typen. Wir haben nämlich einen plietschen Teilnehmer, der Anzeige erstattet hat und auch als Zeuge auftritt. Und taugliche Beweise haben wir ebenfalls, denn er hat das Ganze mit seiner versteckten Videokamera aufgezeichnet. Der Inhaber des Busunternehmens und der Herr Verkaufsleiter werden vor Gericht ganz schön schwitzen!“
Ohne an die Tür zu klopfen, stürmt Dezernatsleiter Hajo Friedrichs ins Büro. Beide Damen sehen überrascht auf, denn ein solcher Besuch ist eher selten. „Guten Tag, die Damen!“ Friedrichs erscheint etwas atemlos und gestresst.
„Guten Tag, Herr Kriminaloberrat.“
„Frau Masal, der Herr Oberstaatsanwalt Harmsen hat mich soeben angerufen und darum gebeten, Sie möchten zwecks einer Sonderaufgabe für einige Tage der Bezirkskriminalinspektion in der Blumenstraße beistehen. Ich bin naturgemäß von dieser Maßnahme keineswegs begeistert, denn Sie haben sich hier in den paar Tagen schon gut eingearbeitet und, wie ich sehen kann, ist der Aktenstapel erfreulicherweise etwas kleiner geworden. Ich würde es also sehr begrüßen, wenn Sie so rasch wie möglich wieder an diesen Schreibtisch zurückkehren könnten. Melden Sie sich bitte gleich morgen früh bei Herrn Kriminalrat Harald Sierck in der Blumenstraße. Schönen Tag noch!“
„Hat man die Familie Greve bereits informiert?“, fragt Nili die Besprechungsrunde mit den Kriminaloberkommissaren Steffi Hink und Sascha Breiholz im Amtszimmer von Kriminalrat Harald Sierck.
„Bisher nicht, Frau Masal. Wir erhielten ja erst gestern am späten Nachmittag die letzte Bestätigung über die Identität des Toten, übrigens anhand der von Ihnen übergebenen Haarbürste. Nochmals besten Dank dafür!“
„Der arme Thomas.“ Nili seufzt. „Irgendein Hinweis auf den Tatort oder das Motiv?“
„Negativ. Fällt dir etwas dazu ein?“, fragt Sascha.
Nili sinniert. „Nun ja, es steht fest, dass er bei der Silvesterfeier in der Halle 400 anwesend war. Das beweist der Ticketabriss. Irgendjemand verabreichte ihm dort die K. O.-Tropfen und er muss danach irgendwie aus der Halle verschleppt worden sein. Da gemäß Obduktionsbericht der Leichnam keinerlei Spuren von Misshandlung aufweist“, sie deutet auf die Akte auf dem Besprechungstisch, die man ihr anfänglich zur Durchsicht gegeben hatte, „muss man Thomas unmittelbar zur Tötungsstelle geführt haben. Wir müssten versuchen, Zeugen der Veranstaltung zu finden, um sie zu befragen. Irgendjemand muss ihn ja dort beim Essen, Tanzen oder beim Verlassen des Lokals gesehen haben. Der Tatort kann – schon aus Zeitgründen – nicht allzu weit vom Leichenfundort entfernt gewesen sein.“
„Da bringst du mich gerade auf eine Idee“, sagt Steffi und öffnet ihren Laptop. „Ich habe mir die Fotos der Silvesterfete, die ich von Anja Sieberth erhalten habe, noch nicht genauer angesehen. Ach so, Chef, dabei erinnere ich mich an ein Versprechen, das ich Anja als Gegenleistung für die Fotos geben musste.“
„Und das wäre?“, fragt Sierck. „Nun ja, dass sie von mir als Erste irgendwelche Neuigkeiten über den Fall erfährt.“
„Zeigen Sie uns erst einmal die Bilder, dann werden wir ja sehen!“
Eine nach der anderen erscheinen die Aufnahmen, die der Fotograf Andreas Maler auf der Silvesterfeier geschossen hat, auf dem Bildschirm. „Halt! Noch mal zurück, das letzte Foto!“, ruft Nili. „Der dort, an der Bar, der sich gerade umdreht. Das ist Thomas!“
„Bist du sicher?“, fragt Sascha.
„Hundertpro!“
„Mach das Bild mal größer!“
„Sieh mal einer an, das könnte vielleicht der Ort sein, an dem man ihm das Zeug ins Glas geschüttet hat!“ Der Kriminalrat kommt auf Touren. „Gleich am Montag in Erfahrung bringen, wer der Barmann da auf dem Foto ist und ob dieser was bemerkt haben könnte! Vielleicht führt uns das irgendwie zum Tatort.“
„Aber immer noch nicht zum Motiv, oder?“, bremst Sascha die Begeisterung seines Chefs.
„Auch da könnten wir jetzt vielleicht etwas weiterkommen“, meint Nili, „da wir ziemlich bestimmt davon ausgehen können, dass der oder die Täter es zweifelsohne und ganz gezielt auf Thomas Greve abgesehen haben. War es Rache? Hat Thomas etwas gewusst oder entdeckt? Vielleicht sogar versucht, jemanden mit diesem Wissen zu erpressen? Immerhin arbeitete er in einer Steuerberaterkanzlei, da könnte er ja an sensible Informationen gelangt sein!“
„Siehe da, kaum eine Woche lang im Wirtschaftsdezernat, und schon hat unsere Nili frisches Blut geleckt!“, witzelt Sascha.
„Lassen Sie’s mal gut sein, Breiholz! Frau Masal liegt mit ihrer Vermutung vielleicht gar nicht so weit weg von der ‚causam mortis‘. Greves Hinrichtung erweckt jedenfalls den Anschein einer gezielten Tat. Man wollte ihn und sein Wissen – darauf deutet auch der Einbruch in seiner Wohnung – offensichtlich aus der Welt schaffen. Und das erhebt die Frage: Was war es genau? Buchstäblich darauf müssen wir uns in den nächsten Tagen intensiv konzentrieren, Leute!“
„Da Sie gerade die Wohnung erwähnen, Herr Kriminalrat, ich würde mich dort gern noch einmal umsehen.“
„Was willst du denn da noch finden, Nili? Die KTU hat doch alles genauestens unter die Lupe genommen und bis auf das Verschwinden der Festplatte wurde nichts Brauchbares entdeckt“, bemerkt Steffi skeptisch.
Diesmal interveniert Sascha: „Die Haarbürste haben die allerdings übersehen!“
„Ist ja gut, Leute!“, räsoniert der Kriminalrat. „Tun Sie einfach, was Sie für richtig halten. Aber bevor Sie Feierabend machen, Frau Masal, noch eine Frage: Fahren Sie zufälligerweise an diesem Wochenende zu Ihrer Familie nach Hause?“
„Ja, warum?“
„Ich frage deshalb, weil Sie dann freundlicherweise in Sankt Margarethen bei den Greves vorbeifahren könnten, um sie möglichst schonend zu informieren. Ich fände es schrecklich, wenn die nächsten Angehörigen so etwas zuerst aus der Presse erfahren würden.“
„Ja ich übernehme das, wenn es auch für mich keine leichte Aufgabe sein wird. Wann erfahren es die Medien?“
„Auf der Pressekonferenz, und zwar am Montag um zehn Uhr.“
„Darf ich dann Frau Sieberth vom Tageblatt informieren?“, drängt Steffi. „Anja hat es sich doch verdient, oder?“
„Nun gut“, meint Sierck nach kurzem Überlegen, „aber weder Nennung des Namens noch Abdruck des Fotos vom Getöteten; nur so weit: Der Polizei sei bereits die Identifizierung der Leiche wider die von den Tätern beabsichtigten Verschleierungsversuche gelungen. Und kein Wörtchen über die Bar in der Halle 400. Und noch etwas: Diese Nachricht darf frühestens in der Morgenausgabe des Tageblatts am Montag erscheinen!“
Da hatte mir der Herr Kriminalrat eine wirklich unliebsame Mission auferlegt, die mir während der gesamten Fahrtzeit nach Sankt Margarethen gedanklich bevorstand. Um wenigstens für mich das Drama der Greves ein wenig erträglicher zu gestalten, rief ich vor meiner Abfahrt aus Kiel Tochter Swantje in ihrer Praxis an, um sie vorzuwarnen und sie zu bitten, mir bei der bevorstehenden, so schwierigen Aufgabe beizustehen. In ihrem Wagen wartete sie an der Einfahrt des Dorfes auf mich. Ich fuhr ihr hinterher bis zum netten Einfamilienhaus am Osterbüngeweg. Es folgte eine herzzerreißende Szene, die sich da abspielte, als ich den Eltern von Thomas’ Tod berichten musste. Die Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und man rief den Arzt, Dr. Günther Vollmert, der glücklicherweise um die Ecke wohnt und ihr eine Beruhigungsspritze gab. Ich versuchte meine Gefühle so gut es ging zu beherrschen. In all meinen Jahren als Polizistin konnte ich immer noch nicht jenes tiefe Mitleid von mir fernhalten, das ich stets gegenüber den von solchen Schicksalsschlägen betroffenen Hinterbliebenen empfinde. Wie leichtfüßig raten mir dazu Psychologen und seelische Betreuer, ich solle doch die gebotene Distanz zu den Opfern wahren und mich mit deren Schmerz nicht allzu sehr identifizieren. Tut mir leid, ich schaffe es immer noch nicht ganz, so sehr ich mich auch darum bemühe!
Es war schon dunkel und es regnete heftig. Ich fuhr sehr langsam mit Tränen in den Augen auf der B 5 nach Hause und wäre dadurch beinahe auf den unbeleuchteten Anhänger des Riesentreckers von Bauer Bohne aufgefahren, der da mit einer Reifenpanne halbwegs am Straßenrand abgestellt worden war. Ich hielt an und sah mich um. Solch ein Leichtsinn, nicht einmal ein Warndreieck! Ich ging zurück zu meinem Cross Polo, stellte die Blinklichter an und rief bei meinen ehemaligen Kollegen in der Polizeistation in Oldenmoor an. Etwa zehn Minuten später kam schon der Streifenwagen angefahren mit Polizeiobermeister Willi Seifert am Steuer. Große Wiedersehensfreude nach längerer Zeit. Dann fuhr ich weiter und kam endlich bei meiner lieben Omi Clarissa und Mutter Lissy in unserem trauten und gemütlichen Onkel Suhls Haus an. „Da bist du ja, Nili!“, rief meine Abuelita erfreut – wie immer auf Spanisch – und gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn.2
Ima kam gerade aus der Küche und erfreute mich mit der Ankündigung, dass es heute zum Abendessen einen Chairo gibt. Schlachtermeister Reimers hätte ihr extra dafür schon gegen Mittag frisch geschlachtetes Lamm- und Rindfleisch auf den Eulenhof geliefert. Ich freute mich sehr darauf, denn obwohl es für diese typisch bolivianisch indigene und sehr dicke Suppe naturgemäß hier in Deutschland an einigen wichtigen Zutaten mangelt, haben die beiden Küchenfeen es durch geschickte Ersatztaktik geschafft, dem Original ziemlich nahe zu kommen. Jedenfalls ist der kräftige und reichhaltige Eintopf gerade das Richtige für einen dunklen norddeutschen Wintertag wie heute. Sogleich meldete ich, dass wir mit dem Essen nicht auf Waldi warten sollten, denn dieser hatte mir noch kurz vor meiner Abfahrt per SMS mitgeteilt, dass er erst morgen zum Frühstück hier erscheinen werde. Schade, ich hatte mich schon so sehr auf das Einschlafen in seinen Armen gefreut! Aber morgen ist ja auch noch ein Tag. Furchtbar erschüttert waren Abuelita und Ima, als ich ihnen beim Abendessen von Thomas Greves Ermordung berichten musste. Übrigens, Imas Chairo schmeckte exzellent und war auch ganz schön scharf! Und nun gute Nacht, liebes Tagebuch!