Читать книгу Merline die Nixe Das Grauen vom Wildsee - Manfred G. Bauer - Страница 4
Hartmann der Kübler
Оглавление(Nördlicher Schwarzwald, ein Tag zuvor, am 1. Juli 1304)
Hartmann der Kübler konnte zufrieden sein. Drüben in Straßburg hatte er seine Waren besser verkauft, als dies in seinem Heimatdorf im Ostschwarzwald möglich gewesen wäre. Nun führte er den Esel am Zügel der Heimat zu. Dazu stieg er vom Rheintal auf, in den Schwarzwald hinein und hinauf zu den Passhöhen, die auf seinem Wege lagen. Das Tier trug dabei nur noch eine leichte Last. In dem Bündel auf seinen Rücken war ein feines Tuch für Gerda, Hartmanns Frau, aus dem diese sich gewiss ein schönes Kleid schneidern konnte. Auch zwei hölzerne Puppen mit Haaren aus Wolle, die Hartmann einem Drechsler abgeschwatzt hatte waren dabei. Sie würden den beiden Mädchen gewiss gefallen. Der Junge hatte sich schon lange Schuhe gewünscht und diesmal sollte er sie bekommen. Das Leder, welches er günstig eingekauft hatte in Straßburg, würde gewiss auch dafür reichen. Selbst neue Werkzeuge für seine Küblerei hatte er dort viel günstiger bekommen als Zuhause. Auch sie steckten wohlverwahrt in dem Bündel. Der größte Schatz aber, den er mit nach Hause bringen wollte war ein Korb mit süßen Kirschen. Die gab es dort nicht, wohin es Hartmann zog, denn das Klima im Ostschwarzwald war zu rau dafür. Wahrscheinlich würden seine Kinder gar nicht glauben, dass man diese roten Früchte wirklich essen konnte.
Hartmann lächelte in Vorfreude und vergaß dabei fast, wie gefährlich die Wanderung war, die er unternahm. Am Anfang des vierzehnten Jahrhunderts gab es noch zahlreiche Gefahren auf den Wegen, die vom Oberrhein hinüber in den Ostschwarzwald führten. Noch streiften Wölfe, Luchse und Bären umher. Die Wege waren steil ansteigende Trampelpfade inmitten dichter Wälder mit hohen Bäumen und zwischen undurchdringlichem Unterholz hindurch. Sie waren oft nicht mehr zu erkennen, wenn der Abend nahte und sich die Dunkelheit herabsenkte. Jemand im Rheintal unten hatte ihm gar geraten den Schwarzwald zu umgehen und von Norden her in des Murgtal einzusteigen. Das sei der sicherste Weg. Er war genau diesen Weg nach Straßburg gegangen, und dies war ein Umweg von vielen Tagen gewesen. Doch da hatte er ja auch noch geglaubt, seine Ware gleich verkaufen zu können, kaum dass er die kleineren Städte am Rhein erreicht hatte und nicht bis in die große Stadt zu müssen. Doch wollte man ihm in den Kleinstädten oft weniger zahlen, als die Leute in seinem eigenen Dorf. Also war er schließlich mit seiner großen Ladung aus Kübeln aller Größen nach Straßburg gelangt. Nun aber drängte es ihn nach Hause, denn dort machte man sich gewiss bereits Sorgen. Er war gut zwei Wochen länger unterwegs, als er erwartet hatte.
„So nehmt wenigstens die Straße über den Kniebis!” hatte man ihm noch geraten. „Sie ist belebt und das Raubgetier hält sich meist von ihr fern.”
Das war ein kluger Rat. Doch dort stießen zwei Ritterlehen zusammen, deshalb gab es oben auf der Passhöhe, dem Kniebis, eine Zollstation. Hartmann hatte wenig Lust den schwer verdienten Gewinn den Zöllnern in den Rachen zu werfen, welche zum Wegzoll auch noch Zoll auf alle Waren einforderten, die er bei sich hatte. Also nahm er nun den steilen Weg zur Hornisgrinde hinauf. Der Esel, sonst so störrisch, lief brav neben ihm her, denn das Tier schien begriffen zu haben, dass es nun nach Hause ging. Auf den verschlungenen Pfaden durch die Wälder konnte er hoffen den Zöllnern zu entgehen. Heute wollte er wenigstens den Mummelsee am Hang der Hornisgrinde erreichen und dort lagern, während der Nacht. Er konnte ein Feuer anbrennen und das würde die Raubtiere sicher fernhalten. Ganz wohl war ihm aber nicht und irgendeine böse Ahnung wollte ihn zur Umkehr zwingen.
Ein tiefes, wütendes Brummen schreckte Hartmann aus seinen Gedanken auf und der Schreck lähmte ihn für eine Sekunde. Dort, am Wege, zehn Schritte vor ihm, brach ein kräftiges, braunes Tier durch das Dickicht und raste unglaublich schnell auf den Mann mit dem Esel los.
„Ein Bär!” rief Hartmann entsetzt aus und ergriff erst im letzten Augenblick die Flucht. Er rannte in die dichten Sträucher am Wegesrand hinein. Die Zügel hatte er dabei fahren lassen und überließ so den Esel seinem Schicksal. Das Raubtier hatte fast dieselbe Schulterhöhe wie dieser. Der Angriff war so schnell gekommen, dass der Esel nicht begriff, was da mit ihm geschah, bis es zu spät war. Der Bär rannte das kleine Huftier einfach um und ein unheimliches Knacken ertönte, als der Nacken des Esels unter den kräftigen Zähnen des Raubtieres zermalmt wurde. Da war eine junge Tanne am Wege mit Ästen bis zum Boden. Ohne Rücksicht auf die Nadeln, die ihn stachen und ihm das Gesicht zerkratzten, kletterte Hartmann hinauf, so hoch er nur konnte. Dennoch waren seine Beine nur knapp zwei Manneslängen über dem Boden und die Tanne schwankte verdächtig hin und her unter seiner Last. Verzweifelt klammerte er sich an das dürre Stämmchen und sah dabei zu, wie dem Esel mit scharfen Krallen und Zähnen der Bauch aufgeschlitzt wurde, dass die Eingeweide herausquollen. Nun hielt der Bär sein blutiges Mahl und Hartmann blieb nur die Hoffnung, dass er sich an dem Tier so satt fressen würde, dass er an ihm selbst kein Interesse mehr hatte.
Plötzlich aber hob der Bär den Kopf und sog mit weit geöffneten Nüstern die Luft ein. Der Kübler dachte schon der Bär hätte ihn gewittert, doch war es ein süßlicher Geruch gewesen, der die Aufmerksamkeit des Bären von dem toten Esel abgelenkt hatte. Jetzt schnüffelte er an dem Bündel aus Leder und Stoff, das noch immer fest mit dem Packsattel verbunden, neben dem Kadaver lag.
„Die Kirschen!” schoss es Hartmann durch den Kopf. „Er hat die Kirschen gewittert.”
„He! Hoh! Weg von dem Bündel du Untier!” brüllte er laut und der Bär fuhr erschrocken auf und starrte den Menschen auf der dünnen Tanne an. Fast so etwas wie Erstaunen lag dabei in den dunklen Augen des Tieres. Wieder sog das Tier die Luft durch die Nüstern und schien einen Augenblick unentschlossen, ob es dem süßlichen Geruch aus dem Bündel, oder dem nach einem verängstigten Menschen folgen sollte. Jetzt erkannte Hartmann wie dumm es von ihm gewesen war, solch einen Ruf auszustoßen und das Raubtier auf sich aufmerksam zu machen. Er machte sich im Geäst der Tanne so klein wie möglich und hoffte inständig, dass es stimmte was sein Vater einst über Bären gesagt hatte, nämlich dass diese kurzsichtig seien und nur sehen konnten was sich bewegte. In diesem Augenblick aber gab der Ast unter ihm nach und er konnte sich nicht mehr halten. Es krachte laut, wenn er im Fallen weitere Äste mit sich riss. Unsanft schlug er auf dem Boden auf.
Für einen Augenblick war er benommen vom Schmerz des Aufpralles, doch dann rappelte er sich mühsam auf. Panikartig schaute er sich um, denn er erwartete jeden Augenblick den Angriff des Bären, doch der war gar nicht mehr da. Offensichtlich hatte der Lärm des fallenden Küblers den Bären derart erschreckt, dass der eiligst das Weite gesucht hatte. Doch wie lange würde dieser Schreck anhalten? Rasch löste Hartmann das blutige Bündel vom Rücken des Esels, schulterte es und lief was er konnte den Berg hinauf. Dabei hoffte er inständig, dass der Bär den Hang hinab gelaufen war. Er achtete kaum auf den Weg und die Dornen, die seine Kleidung zerfetzten und seine Haut ritzten und getraute sich nicht, sich umzublicken. Doch meinte er hinter sich den wütenden Atem des Raubtieres zu hören. Schließlich wollten seine Beine nicht mehr und seine Lungen husteten bereits Blut aus. Er fiel lang hin, mitten in ein Dickicht aus Farn und Brombeerranken hinein.
„Aus! Aus und vorbei!” dachte er bei sich und sein letzter Gedanke war bei seiner Frau und seinen Kindern, ehe er ohnmächtig wurde. Was sollte nun aus ihnen werden?
Mit einer gewissen ablehnenden Scheu betrachteten die anderen Wassermenschen sie, wenn sie an ihnen vorbei glitt. Aber das war sie längst gewohnt. Sie wusste nicht genau wie lange sie schon mitten unter ihnen im Mummelsee lebte, doch sie fühlte in sich den Hass und die Wut brodeln, noch so stark wie am ersten Tag. Am kommenden Morgen wollte sie in aller Frühe einen weiteren Versuch unternehmen an Land zu steigen und aus dem Mummelsee zu fliehen. Das hatte sie vielleicht schon tausend Mal versucht, doch hatte sie wenig Hoffnung, dass es diesmal klappen würde. Die unheimliche Kraft, welche sie mit dem Gewässer verband, hatte sie noch jedes Mal wieder zurückgeworfen. Doch heute sehnte sie sich so sehr nach ihrem alten Zuhause und ihrem früheren Leben als junge Frau unter den Menschen, dass sie meinte, diese Sehnsucht würde ihr Kraft genug geben. Dass dieses Zuhause gar nicht mehr existierte, nicht ihre Eltern, nicht ihre Verwandten und auch nicht ihre Freunde, weil diese längst im Strom der Zeit vergangen waren verdrängte sie. In ihren Gedanken stand ihr Heim so strahlend da, wie sie es in Erinnerung hatte. Sie wollte einfach nur heim, weinend der Mutter um den Hals fallen und ihr berichten wie es ihr ergangen war. Dass wohl fünfzig Jahre und mehr über das Land und seine Menschen hinweg geglitten waren und die alles verändert hatten, wollte sie beim besten Willen nicht wahrhaben. Der Wahnsinn glitzerte in ihren Augen und gerade das hielt die anderen Wassergeister von ihr fern.
Als Hartmann zu sich kam, war finstere Nacht um ihn herum. Er lag noch auf den Dornen und Farnwedeln in welche er hineingestürzt war und er wunderte sich, dass er noch lebte. Seine Glieder schmerzten heftig. Er fühlte die Kühle der Nacht und die vielen Kratzer, die er sich auf seiner panischen Flucht zugezogen hatte. Über ihm stand ein klarer Sternenhimmel, von dem er kleine Ausschnitte sehen konnte, doch kein Mondlicht drang durch die dicht stehenden Bäume um ihn herum.
„Entkommen! Ich bin ihm entkommen!” sprach er laut vor sich hin und erschrak in der Stille der Nacht fast über die eigene, kratzige Stimme.
Mühsam tastete er nach dem Bündel, das ihm beim Sturz entglitten war und fand es unversehrt. Er öffnete es ohne etwas zu sehen und ertastete die Wasserflasche aus Ton und den Kanten Brot, sein einziger Proviant, außer - den Kirschen. Hartmann trank erst einmal und aß von dem Brot und auch einige Kirschen. Das stärkte ihn und jetzt, wo sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, konnte er auch mehr sehen. Wie schwarze Geister reckten die Bäume ihre Kronen gen Himmel, doch um ihn herum bildeten sie nur eine dunkle Wand. Keine Spur eines Weges war zu erkennen. Er musste in seiner Panik vom Weg abgekommen sein. Dabei war es egal, ob er drei oder dreißig Schritte neben dem Weg war, er würde ihn bei Nacht gewiss nicht wiederfinden. Wenn er doch nur eine Laterne bei sich hätte, oder wenigstens eine Kerze. Aber er hatte ja nie vor gehabt bei Nacht durch diese Wälder zu streifen. Den Feuerstein, und das Stück Stahl konnte er in seinem Bündel ertasten und er ließ den Stein einige Male aufblitzen, doch den Zunderschwamm fand er nicht. Möglich, dass der heruntergefallen war, als er den Proviant herausgenommen hatte. Schließlich gab er auf und breitete das Schuhleder über den Farn und die Dornen, nahm die Wolldecke und legte sich schlafen. Doch sein Schlaf war unruhig und im Traum wurde er immer wieder von einem Bären angefallen, der wuchs und schließlich größer war als ein Haus. So schreckte er oft auf und blieb schließlich wach liegen. Mit weit geöffneten Augen lauschte er in die Stille der Nacht hinein. Wie froh war er, als nach einer schier endlosen Nacht, sich schließlich der erste Schimmer des Morgens im Osten zeigte. Erst glaubte er noch an eine Täuschung, weil er den Tag so sehr herbei sehnte. Doch nach und nach wurden aus den schwarzen Geistern, Gnomen und Bergriesen um ihn herum Hecken, Sträucher und Bäume. Schließlich war es hell genug, dass er sein Bündel packen und diesen Ort verlassen konnte. Sogar den Zunderschwamm fand er jetzt ganz leicht.
Er tapste herum, aber einen Weg sah er auch jetzt nicht. Schließlich wendete er sich der Richtung zu, von welcher das Morgenlicht kam und wo bald die Sonne aufgehen würde, denn dort irgendwo im Osten wartete Gerda auf ihn und seine drei Kinder. Das war sehr mühselig abseits des Weges, denn das Unterholz war dicht und gespickt mit Dornen. Doch schließlich stieß er auf einen Pfad, der sicher nicht von Menschen, aber von Wildtieren benutzt wurde und diesem folgte er, wenn er auch ein wenig von der Richtung abwich, die sein Orientierungssinn ihm sagen wollte. Er führte ihn ein ganzes Stück bergauf und plötzlich wieder steil bergab. Vor ihm öffnete sich der Wald. Eine Wasserfläche, glatt wie ein Spiegel, füllte die große Lichtung fast ganz aus, der Mummelsee. Sein Herz hüpfte vor Freude. Jetzt würde er den Pfad wiederfinden und das ganz leicht. Jetzt war er schon fast zu Hause. Vorsichtig umging er den See auf sumpfigem Grund dem flacheren Ostufer zu. Dort führte der Pfad vorbei, der ihn zu seiner Gerda bringen würde.
Sie wusste, sie ahnte, auch an diesem Morgen würde es ihr nicht gelingen die Wasseroberfläche zu durchstoßen. Ja, für sie war die Grenze von Wasser und Luft eine undurchdringliche Wand. Die anderen, ja, die anderen Wassergeister konnten sie mühelos durchqueren und wann immer sie wollten an Land gehen. Hass und Wut durchströmte sie jetzt wieder und nicht nur auf ihr Schicksal und jene die es verschuldet hatten, sondern auch auf alle freien Wassergeister. Für jene war der See kein Gefängnis. Dass sie aber selbst durch ihren Hass und ihre Wut dieses Gefängnis gebaut hatte, wollte ihr nicht in den Sinn. Sie gab ganz klar den anderen die Schuld und vor allem dem Königspaar. Jetzt nahm sie all ihre Kräfte zusammen und der brodelnde Hass tat sein Übriges. Mit großer Geschwindigkeit fuhr sie auf die Grenze zwischen Luft und Wasser los. Und - es gelang! Sie erreichte mit dem Oberkörper die Luft und das Wasser floss von ihr ab, zurück in den See. Doch dann steckte sie fest. Jetzt umschloss das nasse Element ihre Hüften und klammerte sich an sie, als wären es tausend Arme, die sie zurück reißen wollten. Verzweifelt suchte sie Halt an Grasbüscheln und Wurzeln am Ufer. Sie bemerkte, dass sie oberhalb der Hüfte wieder eine menschliche Gestalt hatte. Nur unterhalb, da war sie noch ganz Wassergeist und eins mit diesem Element.
„Hilfe! - So helft mir doch!” rief sie laut und ihre Stimme, die seit langem wieder einmal an der Luft erklang statt im Wasser, erschien ihr seltsam fremd. Sie hatte auch gar keine Hilfe erwartet und sprach mehr zu sich selbst, denn sie rechnete nicht damit, dass einer von den Wassergeistern schon so früh an Land gestiegen war. Sie rechnete schon gar nicht mit einem Menschen an dem einsamen Seeufer, mitten in den dunklen und unzugänglichen Wäldern.
„Holla! Was ist das?” hörte sie eine männliche Stimme und schaute erschrocken auf. Da näherte sich mit eiligen Schritten tatsächlich ein noch recht junger Mann mit dunklen Haaren in einem groben, vielfach zerfetzten Leinenanzug, bestehend aus einer kurzen Tunika, die von einem Gürtel zusammengehalten wurde und einer Hose, die an den Knien endete. An den Füßen trug der fremde Bundschuhe. Er hatte ganz das Aussehen eines armen Bauern, vielleicht Leibeigenen. Allerdings war die zerfetzte Kleidung auch für einen ganz armen Bauern ungewöhnlich. Die musste erst vor kurzem so zugerichtet worden sein, als habe der Fremde einen Kampf auf Leben und Tod gefochten und sei nur mit Mühe entkommen. Einem alten Schamgefühl folgend, bedeckte sie nun mit einem Arm ihre nackten Brüste und klammerte sich nur noch mit einer Hand fest. Das Wasser jedoch zerrte noch immer an ihr und wollte sie nicht freigeben.
„Wie seid Ihr denn - holla - da hineingeraten?”
Dem Fremden stockte kurz der Atem. Er hatte wohl jetzt erst bemerkt, dass die junge Frau, die da mit dem Unterkörper im sumpfigen Schlick zu stecken schien, völlig unbekleidet war und er es mit einer ausgesprochenen Schönheit zu tun hatte.
„Ist es … Ist es nicht etwas zu früh für ein Bad? Gebt mir Eure Hand. Ich helfe Euch heraus.”
Der Mann kniete am Ufer nieder und streckte ihr seine schmutzige Hand entgegen. Sie zögerte. Das war ein Bauer! Früher hätte sie lieber dem Teufel selbst die Hand gereicht als einem Bauern. Doch das war lange her und sie wollte so gerne den See verlassen. Also entblößte sie ihre Brüste und legte ihre Hand in die Seine. Für einen Moment empfing sie Gedanken, welche nicht die ihren waren. Sie wurde von diesem Kerl mit einer Frau verglichen die Gerda hieß und für schöner befunden und da waren noch andere, ganz schmutzige Gedanken. Er packte erst zu, schien dann aber fürchterlich zu erschrecken, wegen der glitschigen Kälte die von der Hand ausging. Er wollte sogleich wieder loslassen, doch das gelang ihm nicht. Jetzt wurde seine Hand eisern festgehalten und das mit einer Kraft, die so ein zartes Weib gar nicht haben konnte, es sei denn, …
„Eine Nixe! - Du bist eine Nixe! - Au! - Gib mich frei! So gib mich doch frei!” rief er jetzt entsetzt aus und versuchte immer verzweifelter loszukommen. Dabei stemmte er sich mit den Füßen mit aller Kraft vom brüchigen Ufer ab, so gut er konnte.
Vielleicht wäre er doch noch davongekommen und sie hätte ihn schließlich losgelassen. Aber dieses Wort! - Dieses Wort, das die anderen Seebewohner immer hinter ihr her flüsterten, wenn sie glaubten sie könne sie nicht hören …
Zum zweiten Mal in kurzer Zeit galten die letzten Gedanken von Hartmann seiner Frau und den Kindern. Doch diesmal gab es für ihn kein Erwachen mehr.
Aufgeregtes Gemurmel erklang in dem Thronsaal, der nur von schummrigem Licht erhellt wurde. Er war nicht viel mehr als eine große Luftblase unter Wasser, die an einem Boden klebte, der aus glattem, hellem Granit zu bestehen schien. Die Wände dieser Blase schillerten grünlich und dahinter konnte man ein Stück weit in das trübe Wasser hineinblicken. Alle hatten sich hier versammelt, das ganze Seevolk. Da kam der König. Der Herold klopfte mit dem Stab auf den Boden. Alles wendete sich den beiden Thronsitzen am Ende des Saales zu, die recht prächtig wirkten mit ihren geschnitzten Ornamenten, dafür dass sie aus zugerichtetem Treibholz zusammengezimmert waren. Sie standen auf einem kleinen Granitpodest von nicht mehr als drei Schritten Breite.
„Seine Majestät der König!” rief der Herold gewichtig.
„Die Königin! Wo ist die Königin?” flüsterte eine junge Nymphe.
„Ssst! Es heißt sie ist bei ihr!” flüsterte die Dame neben ihr zurück.
Der König blieb bei dem rechten Thron stehen als er sprach: „Nymphen und Seejunker! Hört mich an!”
Diese Aufforderung war völlig überflüssig, denn jetzt war es so still in dem Saal, dass man nur das leise Fließen des Wassers an den Wänden entlang hören konnte.
„Nun ist es wirklich geschehen. Sie hat einen Menschen unter Wasser gezogen. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Doch seid beruhigt. Nun ist sie erst einmal in Gewahrsam und kann keine weiteren Untaten mehr begehen.
„Ich habe es doch gleich gesagt, dass sie es eines Tages tun wird!” rief einer der Männer aus der Menge in den Saal und viele nickten und stimmten ihm zu. „Sie ist eine böse Nixe. Das kann jeder sehen, wenn er die Augen nicht verschließt, weil sie mit ihm verwandt ist. Wir müssen sie töten!”
„Ja, tötet sie!” rief gleich noch einer. „Sie hat es verdient!”
„Sie töten? Willst du es tun Gerbard!” rief darauf ein weiter Mann. „Willst du deine Seele wirklich so sehr beschädigen? Müssten wir dann nicht auch dich töten? Was für ein Seejunker bist du nur?”
„Und wenn wir uns zusammentun, wir alle könnten es nicht! Ihr wisst, wer sie ist und welche Kräfte in ihr schlummern”, rief nun die Königin die eben eilig eingetreten war. „Zudem heult sie jetzt Rotz und Wasser und ist nur noch ein Häufchen Elend. Wasserleute töten nicht und tun sie es doch, dann sind sie gar keine, sondern nur böse Nixen.”
„So ist sie eine Nixe! Soll das etwa ungestraft bleiben?” rief der Wassermann, der Gerbard genannt wurde.
„Das hat niemand gesagt!” rief der König zur Antwort. „Doch würde ihr Tod mehr Opfer an Menschen und Wasserleuten nach sich ziehen, als wenn sie lebt und ihr alle wisst was ich meine. Aber wenn mein Wort hier nichts mehr gilt, dann gehe hin Gerbard, oder wer immer sich dazu berufen fühlt, und versuche sie zu töten! Doch dann will ich nicht länger euer König sein und werde wieder ein Mensch. Ich weiß, meine Königin denkt da wie ich und wird mir folgen.”
Die Königin nickte entschlossen, trat neben ihren Gemahl und nahm seinen Arm.
„Nein, nein! Das will niemand”, sprach ein anderer jetzt schnell, jedoch Gerbard grinste, als käme ihm das gerade recht. „Doch wozu ratet ihr?”
„Vor allem zur Besonnenheit!” antwortete die Königin.
„Ja, richtig! Ich schlage vor, alle verlassen den Saal, alle außer dem Ältestenrat”, rief der König. „Ihr anderen geht und bewacht das Ufer. Sollte sie wieder der Hass übermannen, dann müsst ihr mit allen Mitteln weitere Opfer an Menschen verhindern.”
„Der König hat gesprochen, und so wird es geschehen!” rief der Herold und klopfte noch einmal mit dem Stab auf den Boden. Jetzt zerstreute sich die Gesellschaft. Einige murrten zwar mehr oder weniger offen. Doch der Saal leerte sich zusehends und das nicht etwa durch irgendwelche Türen, sondern direkt durch die wässrigen Wände. Nur das Königspaar, der Herold und zwölf Männer und Frauen, die zum Ältestenrat gehörten, blieben. Allerdings wirkten alle hier so jung, dass kaum erkennbar war, weshalb gerade diese zum Ältestenrat gehören sollten. Weitere Herolde brachten Stühle und der Rat setzte sich in einem Halbkreis, und zwar so, dass alle den Thronen das Gesicht zuwenden konnten. Das Königspaar hatte sich inzwischen längst auf den Thronen niedergelassen. Der Rat schaute nun erwartungsvoll zu den beiden auf.
„Zunächst halte ich es für das wichtigste, dass wir uns mit dem Opfer beschäftigen”, eröffnete der König das Gespräch. „Wir wissen, er hinterlässt eine Witwe mit drei kleinen Kindern. Wir sollten dafür Sorge tragen, dass seine Familie nicht in große Not gerät, durch den schlimmen Verlust.”
„Am besten wäre es wohl, wenn ein Wassermann ihr Gemahl wird bis die Kinder groß sind”, schlug eine Nymphe aus dem Rat vor.
„Du hast gut reden, Amaline! Du bist eine Frau und kommst für diese Mission ja nicht in Frage. Aber für den unglücklichen Wassermann käme dies einer unverdienten Strafe gleich”, widersprach Gerbard, der ebenfalls zum Rat gehörte.
„Das ist keine Strafe, sondern ein Liebesdienst”, widersprach die Königin heftig. ”Jeder Wassermann sollte es als Ehre ansehen. Das ist es was wir tun. Dafür sind wir Wassergeister da. Du benötigst vielleicht eine Lektion in solchen Dingen, Gerbard. Deshalb schlage ich vor, dass gerade du diese Mission übernimmst.”
Allgemeine Zustimmung im Rat machte sich breit und auch ein wenig Häme, das aber nur verdeckt.
„So ist es also beschlossen”, sprach der König. „Gerbard, du wirst dich als Freund des Toten ausgeben und seine Habseligkeiten sowie die Nachricht vom Tode zur Witwe bringen! Das Weitere wird sich finden. Zurück in die Wasser aber darfst du erst, wenn alle drei Kinder der Witwe verheiratet und versorgt sind.”
Gerbard schaute sich Hilfe suchend in der Runde um, doch er fand keine. Schließlich nickte er missmutig zur Zustimmung.
„Nun zur Nixe! Wie verfahren wir mit der?” fragte der König nun in die Runde.
Jetzt entspann sich eine sehr kontroverse und hitzige Diskussion. Erst nach einem weiteren Machtwort der Königin und der erneuten Drohung des Königs, den See zu verlassen und das Amt niederzulegen stand die Lösung fest. Noch ehe Gerbard, - nun in Menschlicher Gestalt -, vom Seeufer weg gewandert war, hatten sie das Urteil auch schon vollstreckt. Am Mummelsee war die Gefahr durch die Nixe von nun an gebannt.
Gerbard war angenehm überrascht, als er Gerda erblickte. Sie war zwar kräftiger gebaut, als jede Nymphe, die er kannte. Aber ihre Haare waren von einem geradezu seltenen Goldblond und dazu die strahlenden blauen Augen… Sie war zudem von einer Aura umgeben, die nur Wassergeister sehen, aber viele Menschen unbewusst fühlen konnten. Ob das Königspaar wohl wusste zu wem sie ihn hier geschickt hatten? An die Frau drängten sich ängstlich zwei kleine Mädchen und starrten den Fremden in ihrem Hof neugierig an. Die ältere davon hatte die Haarfarbe und die Ausstrahlung der Mutter geerbt und würde sie gewiss weiter tragen an die nächste Generation. Plötzlich gefiel ihm sein Auftrag, wenn er diese schöne Frau jetzt auch erst einmal mit einer schlimmen Nachricht erschrecken und in Trauer stürzen musste. Er würde ihr nun erzählen müssen, dass er ihren Gemahl oben in den Wäldern begraben hatte, da er alleine nicht in der Lage gewesen sei, ihn herab zu schaffen in das Tal. Das war eine Lüge, denn es hätte ihn nur ein Fingerschnippen gekostet. Aber er durfte sich schließlich nicht als Wassermann zu erkennen geben, sondern musste nun ganz ein Mensch ohne Zauberkräfte sein. Er würde ihr die Habseligkeiten des Toten übergeben und ihr eine weitere dramatische Lügengeschichte auftischen, wie Hartmann ums Leben gekommen sei und welche Rolle er selbst dabei gespielt hätte. Die Münzen aus dem Besitz Hartmanns, waren von dem sehr zauberkräftigen König des Mummelsees in Gold verwandelt worden. Das aber würde Gerda gewiss nicht allzu sehr trösten. Gewiss würde die Zeit alle Wunden heilen. Vielleicht konnte er ja eines Tages die verborgenen Kräfte dieser Frau und ihrer Tochter für sich nutzen und für seine eigenen Pläne!