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1 Warum Psychoanalytische Pädagogik? 1.1 Ouvertüre

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Pädagogik ist Fallarbeit. Oder anders gesagt: die Arbeit am Fall strukturiert ihre Praxis. Es entspricht dem verständlichen Wunsch der dort tätigen Pädagog/innen in den verschiedenen Handlungsfeldern, zu wissen, was ›los‹ ist und was sie tun können oder sollen. Auf der einen Seite verheißen objektivierte Fallanalysen an Hand ihrer auf den ersten Blick eindeutigen Diagnose-, Klassifikations- und ergo Handlungsschemata, diesem Wunsch zu entsprechen. Am besten wäre es, wenn sich aus diagnostischen Datensätzen stringente Verhaltensmaßregeln herauslesen ließen. Auf der anderen Seite wissen die Pädagog/innen aber aus Erfahrung, dass eine solch zügige Umsetzung meist nicht gelingen will.

Burkard Müller hält es daher für besser, auf das »scheinbare Immer-Schon-Bescheid-Wissen« zu verzichten, weil das »Immer-Schon-Verstanden-Haben« das wirkliche Verstehen blockiert (vgl. Müller, B. 1994, S. 80 ff.). Erfolgreich wirkende pädagogische Angebote beruhen nicht auf der Umsetzung vorher gefundener Lösungen, sondern sie sind als Erkundungsprozess konzipiert.

»Es geht nicht darum, dort anzufangen, wo ich den anderen stehen sehe, sondern dort anzufangen, wo der andere mich stehen sieht: Bei den Erwartungen, Wünschen, Befürchtungen, die mir mein Gegenüber entgegenbringt, gerade auch bei den Erwartungen, die ich für illusionär halte und weder erfüllen kann, noch will« (vgl. Müller, B. 1994, S. 84).

Unterstellen wir z. B. einem Jugendlichen, noch bevor wir ihn kennen gelernt haben, ein gehöriges Gewaltpotential, so kann diese Vorannahme schnell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. In einem solchen Fall kommt es vielmehr darauf an, genau zu registrieren, »was sich bei seinen Konflikten als ›ganz normal‹ erklären lässt«. Aber es wäre genauso fatal, wollte man die Wahrnehmung äußerst problematischer Verhaltensweisen als Alltagskonflikte beschönigen. »Da hilft nur: Aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen« (vgl. Müller 1994, S. 87). Noch in den Anfängen der Sozialpädagogik etwa war diese von Müller kritisierte Lesart Standard. Da wusste man sogleich, »wer ›das Problem‹ hat: selbstverständlich der oder die KlientIn« (vgl. Müller, B. 1994, S. 89).

Einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und das pädagogische Geschehen als intersubjektives zu begreifen, verlangt nach einem anderen Fallverstehen. Verstehen wollen heißt letzten Endes, »den eigenen Zugang zum Fall besser kennenlernen« (vgl. Müller, B. 1994, S. 84). Womöglich geht es mehr um die Selbstreflexion der eigenen Situation als die Reflexion der Situation des Gegenübers, aber immer das Erfassen des wechselseitigen Miteinanders. Ergo: Wer von Reflexion und Selbstreflexion spricht, meint »›Beziehungsarbeit‹« (vgl. Müller 1994, S. 14). Unter Aufdeckung der emotionalen und vor allem unbewussten Dimensionen der darin eingeschlossenen Aushandlungsprozesse wird offenbar, dass der Pädagoge/die Pädagogin als »neues Objekt gebraucht« wird (vgl. Treurniet 1996, S. 13). In einem solchen Dialog verändern sich nicht nur die Selbst- und Fremdwahrnehmung, sondern werden auch unsere Vorstellungen von Normalität und Pathologie verfeinert und korrigiert.

So einfach ist das alles nicht. Mit dem Wissen, dass das Verstehen immer kontextabhängig ist, verändert sich unsere Vorstellung der Bedeutung von Gesten, Worten und Verhaltensweisen, die in verschiedenen Situationen ganz Unterschiedliches meinen können (vgl. Wolff 1994, S. 45). Bedeutung zu finden heißt im dialogischen Sinne Bedeutung geben. Und letzten Endes zielt das Arbeitsbündnis zwischen Pädagog/in und Klient/in in seiner charakteristischen nicht-symmetrischen Gestalt auf ein gemeinsames »Hervorbringen der Bedeutung« (vgl. Treurniet 1996, S. 27). Treurniet hat seine tiefschürfenden Erkenntnisse auf den psychoanalytischen Prozess bezogen, in dem Analytiker/in und Patient/in »affektiv verstrickt« sind (vgl. Treurniet 1996, S. 18). Burkard Müller hat die Psychoanalyse als Methodologie eines Erkenntnisprozesses und pädagogische Anthropologie kenntlich gemacht und uns in vorbildlicher Weise die Anwendbarkeit ihrer Prinzipien »jenseits der Couch« vorgemacht (vgl. Müller, B. 1989, S. 121). Insofern ist die Nähe der Formulierungen von Treurniet und Müller nicht eben verblüffend. Auch Reiser zeigt sich da als Seelenverwandter, wenn er fordert, dass wir uns zunächst mit dem Kind verwickeln müssen, damit wir uns in einem gemeinsamen Dialog mit ihm aus seinem Störungsmuster heraus entwickeln können (vgl. Reiser 1993, S. 260).

Die Psychoanalyse ermöglicht uns mit ihrer besonderen Methode des Verstehens einen Zugang zum Subjekt, dessen Übernahme der Pädagogik große Dienste zu leisten vermag. Vor allem die Öffnung der Psychoanalyse hin zu einer intersubjektiven Perspektive hat mit der damit möglich gewordenen Fokussierung des Einflusses beziehungsdynamischer Faktoren auf die kindliche Entwicklung einen qualitativen Erkenntnissprung bewirkt, den wir uns jetzt zunutze machen können. Oder anders herum formuliert: Die Psychoanalyse ist da angekommen, wo die Pädagogik schon immer stand. Allerdings kann über die Anreicherung des genuin Pädagogischen mit Anteilen des spezifischen, aufs Sinnverstehen gerichteten Wissens und Könnens der Psychoanalyse ein großer Kompetenzzuwachs verzeichnet werden. Wenn wir Augen, Ohren und Verstand für das Unbewusste und der daran geknüpften Konfliktthemen öffnen, lässt sich eine viel differenziertere Entschlüsselung der Fallgeschichten bewerkstelligen, deren verborgene Seiten wir jetzt besser begreifen können. Das, was wir auf diese Weise verstehen, wirkt aus sich selbst heraus bereits entwicklungsfördernd. Gleichwohl kann die damit gesetzte Selbstverpflichtung, sich über die Eigenbeteiligung am pädagogischen Geschehen zu versichern, auch Ängste und Widerstände aktivieren, die die Hinwendung zur Psychoanalyse erschweren. Insofern kommt es auch darauf an, diese Impulse nicht zu diskreditieren, sondern auf behutsamem Wege Sympathie zu wecken. Wie das gehen mag, sei nachfolgend ausgeführt.

Wenn also Verstehen nicht formalisiert oder operationalisiert in Handeln umsetzbar ist, stellt sich die Frage: Was nun? Jeder Fall ist von Genese und Verlauf her einzigartig. Das Gleiche gilt für die aktuelle professionelle Beziehungsgestaltung. Das Fallverstehen aber folgt in seiner Systematik bestimmten, wenngleich sehr offenen Regeln. Das erscheint im ersten Moment verwirrend und widersprüchlich. Gerade aber, wenn wir die Einmaligkeit des Falles und der ihm innewohnenden Strukturen anerkennen, können wir auf monokausal verkürzte Interventionstechniken verzichten, die uns in Gefahr bringen, dieses Einmalige zu einem »Fall von« zu machen (vgl. Müller 1994, S. 14). Was würde geschehen: Der Dialog bräche ab und führte zum »Schweigen des Subjekts« (vgl. Weber. J. 1988, S. 122). Wir verspielten den Zugang zum Erleben und den ungelösten Konflikten unseres Gegenübers. Wer innere und äußere Bilder verwechselt, ist zu einer »Methodologie des Zuhörens und Sprechens« nicht mehr in der Lage. Kulturelle Phänomene und innersubjektive Zustände treten uns dann wie »Phänomene der äußeren Natur« entgegen, und nicht mehr als solche der menschlichen Geschichte und ihrer Widersprüche (vgl. Warsitz 1997, S. 123 ff.).

Es ist ein wenig wie im Höhlengleichnis von Platon. Darin ist von Gefangenen die Rede, die an Hals und Füßen gefesselt sind und immer nur an die Wand starren können. Hinter ihren Köpfen brennt ein Feuer, das Licht spendet. An der Wand sind nur Schatten von Gegenständen zu sehen, die draußen von schweigenden Gauklern vorbeigetragen werden. »Endlich wird deutlich, dass sie nichts anderes für wahr halten können als eben jene Bilder an der Wand, d. h. die Schatten der Gegenstände, die die Künstler vorbeitragen«. Diese Schatten besitzen den niedrigsten Erkenntniswert, weil sie nicht überprüfbar sind und schlichtweg für die Wahrheit gehalten werden müssen (vgl. Banki 1986, S. 12 f.). Wir sollten also aufpassen, auf sehr konkretistische Weise etwas für bare Münze zu nehmen, was womöglich viel komplizierter und vielschichtiger ist. Mit hyperaktivem Verhalten kann z. B. genauso eine ängstigende depressive Grundstimmung in Schach zu halten gesucht werden, wie es als Notwendigkeit erkannt und verinnerlicht wurde, eine tief traurig, in sich gekehrte Mutter überhaupt auf sich aufmerksam zu machen.

Verhalten und Motiv sind eben nicht identisch. Die Beobachtung eines solchen Verhaltens ist ein Schritt zum Verstehen, aber nicht dieses selbst. Die Bekämpfung des Symptoms befreit nicht vom Anlass. Das Verstehen des Anlasses aber befreit vom Symptom. Dieses Verstehen steht für einen hochkomplexen Vorgang, der aus ganz unterschiedlichen Facetten besteht, die am Ende in einer Art Gesamtschau zusammengefügt werden müssen. Beteiligt sind Empathie, Intuition, urtümliche Affekte und reflektierte Emotionen, Identifikation und Befremdung, Assoziieren, kognitives Begreifen, Wissen und Nicht-Wissen, am Ende Versprachlichung.

Im Folgenden geht es um eine besondere Verstehensmethodik, mit der sich Tiefendimensionen auf eine Weise ausloten lassen, wie es sonst nicht möglich ist. Dazu muss ich jetzt etwas ausholen. Zunächst einmal gehört die Hermeneutik, um deren eine prägnante Form es hier geht, zu den zentralen geisteswissenschaftlichen Konzepten des Verstehens, und ihre Anfänge reichen weit in die griechische Antike zurück. Als die Kunst des Auslegens entstand sie zu einer Zeit, da die Gabe der Weissagungen allseits verehrt wurde. Das Orakel von Delphi gab keine konkreten Anleitungen, verbarg aber den Sinn seiner Antworten auch nicht vollständig. Es begnügte sich damit, »Andeutungen« zu machen. Die Enträtselung oblag den Sterblichen (vgl. Schreiter 1998, S. 411). Der bedachte Umgang mit dem Vagen zeichnet die Hermeneutik noch immer aus. Mit den ihr eigenen Mitteln von Nacherleben und Deutungen wird versucht, sich den im ersten Moment undurchschaubaren Phänomenen der Lebenswirklichkeit anzunähern.

Die Hermeneutik kann nicht mit »genau definierten Zeichen, die in genau definierten Beziehungen stehen« arbeiten, sondern ist genötigt, Unterschiede, Veränderungen und Widersprüche in ihren Erkenntnisvorgang aufzunehmen.

»Eine Theorie dieser Art steht vor dem Problem, alles Mögliche, zugleich aber auch jedes Einzelne erfassen zu müssen. Das verlangt, vom Einzelfall abzusehen und umgekehrt jeden Einzelfall auf die ihm gebührende Weise zu behandeln. Theorien dieser Art pendeln daher zwischen Generalisierung und Konkretisierung (…)« (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 188 f.).

Ursprünglich war sie, wie angeführt, tatsächlich allein als Textauslegung gedacht. Zur Erläuterung sei vor allem auf die folgende Systematik des Entschlüsselns verwiesen: Der Sinn eines ganzen Satzes setzt sich aus der Bedeutung der einzelnen verwendeten Wörter zusammen, die Bedeutung der einzelnen Wörter aber ist nur im Lichte des Gesamtzusammenhangs dieses einen Satzes zu verstehen. Vor allem, wenn Wörtern mehrere, gänzlich unterschiedliche Bedeutungen beigegeben sind, wird der Anspruch an diese Aufgabe nachvollziehbar. Der wechselseitige Bezug des Ganzen zum Einzelnen und des Einzelnen zum Ganzen ist auch als hermeneutischer Zirkel bekannt, wiewohl das Vorverständnis, das hier aufscheint, vorurteilsbehaftet erscheint und deshalb kein Wahrheitsanspruch einzulösen ist. »Eine philosophische Reflexion wird sich dabei nicht an einer falschen, hermeneutischen Wahrheitsvorstellung orientieren dürfen (…)« (vgl. Grondin 1982, S. 123). Postmoderne Philosophen wiederum ziehen dieses ganze Theoriengebäude in Zweifel, weil Bedeutungssysteme niemals abgeschlossene Systeme seien und es mithin keine eindeutige Signifikanz geben könne (vgl. Wæver 1996, S. 171). Habermas wiederum verteidigt den hermeneutischen Zirkel, weil er nicht auf »Bestandteile einer reinen, durch metasprachliche Konstitutionsregeln vollständig definierten Sprache zurückzuführen« sei – sofern er die eigentümliche Integration von Sprache und praktischem gesellschaftlichem Lebensbezug berücksichtige (vgl. Habermas 1973, S. 217 f.).

Noch präziser geht Lorenzer in seiner Verteidigung des hermeneutischen Zirkels vor. Er nimmt die Szene aus einer psychoanalytischen Behandlung her, in der ein Patient seinem Psychoanalytiker erzählt, er habe am Vorabend einen Streit mit seiner Frau gehabt. Im Laufe der Stunde wird klar, wodurch der Streit entstanden war. Der Patient erwähnt nämlich, dass seine Frau ihm zuvor mitgeteilt hatte, dass sie ihre Menstruation bekommen habe. Der Psychoanalytiker deutet dem Patienten, dass er böse geworden sei, und zwar aus Enttäuschung, dass seine Frau wieder nicht schwanger geworden war. Diese Interpretation beruht auf einem Schluss des Analytikers, der einen gewissen Wahrheitsanspruch erhebt. »Es ist nicht eine Mitteilung des Patienten, deren Stichhaltigkeit zu prüfen wäre (…)« (vgl. Lorenzer 1977, S. 111 f.).

Allerdings dreht es sich nicht um willkürliche Verknüpfungen oder Unterstellungen oder »Aussagen über allgemeine menschliche Verhaltensgesetzlichkeiten«, die im Beweis zu sichern gesucht werden. Das Verhalten wird »vielmehr in seiner lebensgeschichtlich-individuellen Eigenart (und davon ausgehend in seiner gruppentypischen bis epochenübergreifenden typischen Eigenart) identifiziert (…) Die Bedeutung der Einzelszenen verdeutlicht sich zugleich mit der Erfassung des Sinnganzen dieses Individuums« (vgl. Lorenzer 1977, S. 113). Vor allem tut sich mit der Berücksichtigung auch nicht-sprachlicher Manifestationen ein fundamentaler Unterschied zur klassischen Hermeneutik auf (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 195).

Damit will ich es bewenden lassen, um nicht zu weit abzuschweifen. Aber es wird zumindest jetzt schon deutlich, dass seit geraumer Zeit alle erkenntnistheoretischen Versuche, die Welt und sich selbst darin zu begreifen, auf dem Prüfstand stehen.

Besonders die Psychoanalyse als die Referenztheorie der hier behandelten Lesart von Pädagogik geriet ins Fadenkreuz einer harschen Kritik. Sie gilt als antiquiert, heißt es, an normativ gesetzten, um nicht zu sagen patriarchalischen Konstrukten orientiert und liefere für eine evidenzbasierte praktische Intervention ebenso wenig handfeste Grundlagen wie ihre Forschungsperspektive mit der naturalistischen Fokussierung des Einzelfalls ohne Aussagekraft und ihr am Unbewussten ausgerichtetes Verhältnis zum Forschungsgegenstand spekulativ, unsauber und also nicht zu gebrauchen sei.

Auf der Grundlage eines äußerst restringierten Wissenschaftsverständnisses wird die evidenzbasierte Forschung auf ein rein technisches und utilitaristisches Instrumentarium zurückgeschnitten. Die Kenntnis über das »What works« zielt allein noch auf überschaubare lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, was ausschließlich über experimentelle Forschungsdesigns sichergestellt werden soll. Buchholz bemängelt, dass das empirische Paradigma nur ein Teil wissenschaftlicher Bemühungen sei, sich »aber manchmal zur Illusion aufschwinge, über alles letzte Schiedsinstanz zu sein. Es steht jedoch nicht über, sondern neben anderen Paradigmen« (vgl. Buchholz 2006, S. 427).

Bei Lanwerd ist die Kritik so formuliert: Die englische Wendung »evidence-based zeigt den Wunsch nach der Vermessung des Beweisbaren«, während das Lateinische die Qualität dessen benennt, »was sich im Gegensatz zum logischen Beweis an das Unbeweisbare hält (…)« (vgl. Lanwerd 2019, S. 122). Damit fällt eine mit diesem Ansatz nicht kompatibel erscheinende forscherische Methodik per se aus der metaanalytischen Betrachtung heraus und kann dementsprechend auch nicht in die »Destillierung von Evidenz« Eingang finden (vgl. Koch 2016, S. 13.ff.). Das von der pädagogischen Wirklichkeit gezeichnete Bild »beruht auf Annäherungen und Vereinfachungen«, und was soll die Praxis überhaupt mit diesem Wissen anfangen (vgl. ebd., S. 19)? Im pädagogischen Feld ist über experimentelle, randomisierte kontrollierte Studien, womit der »goldene Standard« der Evidenzbasierung sichergestellt werden soll, die Qualität einer Aussage keineswegs zu garantieren (vgl. ebd., S. 14).

Instrumentelles Wissen ist sicherlich von sachdienlichem Gewicht, pädagogische Praxis muss aber zwingend noch aus weiteren Perspektiven beleuchtet werden. Anders als für die medizinische Überprüfung von Evidenz formuliert – und was auch dort immer wieder bloß eingeschränkte Erkenntnis erzeugt – treten in der Pädagogik mehrere Erschwernisse auf, die ein solches Unterfangen völlig ins Leere laufen lassen: »die Macht des komplexen Kontextes und seiner Einflüsse, die Allgegenwart von Interaktionen und die geringe ›Halbwertzeit‹ der Befunde (…)« (vgl. Koch 2016, S. 18). Weil sich die Erziehungswirklichkeit beständig ändert, verträgt sie eine derartige szientistische Amputation nicht (vgl. ebd., S. 13 ff.; Gerspach 2016b).

Mit der Unterscheidung in eine (sozialwissenschaftlich) sinnstrukturierte und eine (naturwissenschaftlich) nicht-sinnstrukturierte Welt belegt Hechler, dass die vom Menschen hervorgebrachte, durch Unbestimmtheit charakterisierte Veränderlichkeit ihm beständig Entscheidungen abverlangt.

»Diese Welt unterstellt menschlichem Erleben und Handeln grundlegende Sinnhaftigkeit. Der Mensch hat die Wahl und ist gezwungen zu wählen (…) und jeder Wahl laufen (…) Entscheidungsprozesse voraus, die sich eben nicht durch standardisierte Muster zu Wege bringen lassen (vgl. Hechler 2016, S. 45).

Hier setzt die »Erziehungskunst« ein, die sich durchaus auf empirische Befunde stützt, aber von einem Empirieverständnis gestützt wird, das sich keiner Evidenzbasierung unterordnen will. Indessen benötigen wir eine Fähigkeit, »in ungewissen erzieherischen Situationen eine grundlegende Situationssicherheit herzustellen« (vgl. ebd., S. 68).

»Die entwicklungspädagogischen Wissensbestände ermöglichen eben nicht nur ein pädagogisches Fallverstehen, sondern geben auch Hinweise auf die einzusetzenden erzieherischen Mittel (…)« (vgl. Hechler 2016, S. 46 ff.). Mit Bezug auf Freud, der sich fragte, ob »die Beschäftigung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den Persönlichkeiten unserer Lehrer« dereinst stärker war (vgl. Freud, S. 1914f, S. 204), konstatiert Hechler, dass die »Person des Pädagogen (…) das wirksamste und am häufigsten verwendete Erziehungsmittel in der pädagogischen Praxis« ist (vgl. ebd., S. 71 f.). Damit biegt er auf die Zielgerade ein und thematisiert »die Bedeutung der Übertragung und Gegenübertragung im psychoanalytischen Verständnis« für die Ausgestaltung des »professionellen pädagogischen Wollens« (vgl. S. 74).

Somit sind wir wieder beim hermeneutischen Sinnverstehen, oder jetzt genauer: beim in der Psychoanalyse verwendeten Topos der Tiefenhermeneutik. Dieser Begriff geht auf Jürgen Habermas und Alfred Lorenzer zurück (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 194). Sie prägten ihn, um sich von einer eher philologisch ausgerichteten Hermeneutik abzugrenzen. »Die Tiefenhermeneutik (…) bezieht sich auf Texte, die Selbsttäuschungen des Autors anzeigen«, befindet Habermas (vgl. Habermas 1973b, S. 267). Und er sagt klipp und klar: »Die Psychoanalyse ist für uns als das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant« (S. 262). Lorenzer wiederum spricht von der »Radikalisierung der Hermeneutikthese« durch die Psychoanalyse (vgl. Lorenzer 1974, S. 153), die sich selbst ihrer »vom Widerspruch bestimmten Eigenständigkeit« zu versichern habe. Der psychoanalytischen Kulturanalyse »als einer ›tiefenhermeneutischen‹« geht es um die Anerkennung einer eigenständigen Sinnebene unterhalb der bedeutungsgenerierenden Sinnebene sprachlicher Symbolik« (vgl. Lorenzer 1988a, S. 16 ff.).

Allerdings mag man noch so voller Enthusiasmus beteuern, dass die Psychoanalyse »auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren« habe (vgl. Benecke u. a. 2016, S. 5). Oder gar einräumen, dass aus heutiger Sicht vieles, was dereinst geschrieben wurde, »ziemlich daneben liegt und erratisch wirkt« (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 188). All das zerstreut nicht die Bedenken, dass die Psychoanalyse von ihren Vertreter/innen gleichsam wie ein festes Gefüge von Glaubenssätzen idealisiert werde. Einmal abgesehen von dem affektgetränkten Duktus, mit dem diese Vorbehalte geäußert werden – was mich ein wenig stutzen lässt –, will mich auch der rationale Kern dieser Darlegung nicht überzeugen. Eine Disziplin, die sich dem Unbewussten nähert, wohl wissend, dass sie es nie wird à fond ergründen können, kennt den Zweifel als oberstes Grundprinzip. Ein Dogma aber ist doch genau dadurch gekennzeichnet, dass der Zweifel daraus kategorisch exkommuniziert ist.

Weil das Unbewusste an sämtlichen menschlichen Regungen beteiligt ist, fällt es der Psychoanalyse nicht schwer, ihren »disziplinären und professionellen Zugriff auf alle Ausdrucksgestalten der sinnstrukturierten Welt auszudehnen – es gibt sozusagen nichts, was nicht auf die Couch gelegt werden kann«. Überdies haben ihre theoretische Undurchdringbarkeit und »die Intimität ihrer Praxis« häufig zu verzerrten Vorstellungen Anlass gegeben (vgl. Hechler 219, S. 253 f.). Das ist aber kein Freibrief für eine kategorische Entrechtlichung der Psychoanalyse. Der Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel stellt einfach nur fest, dass »die Psychoanalyse immer noch die kohärenteste und intellektuell befriedigendste Sicht des Geistes darstellt« (vgl. Kandel 2006, S. 20; Hechler 2019, S. 247).

Wie dem auch sei. Jedenfalls hat es die Psychoanalytische Pädagogik jetzt doppelt schwer. Zum einen fristete sie schon immer ein eher randständiges Dasein im Kanon der Erziehungswissenschaften. Gemäß der neueren sozialwissenschaftlichen »Diskursanalyse« (vgl. Gardt 2007) repräsentiert sie als illegitimes Kind der Psychoanalyse eines jener in sich geschlossenen Theoreme, die den zeitgemäßen wissenschaftlichen Standards der Überprüfbarkeit nicht mehr genügen.

In seiner ernüchternden Bilanz der historischen Begegnung von Psychoanalyse und Pädagogik – die man im Sinne Martin Bubers eher als »Vergegnung« bezeichnen sollte (vgl. Buber 1986, S. 9) – gelangt Wininger am Ende zur Überzeugung, dass bis in die jüngste Zeit hinein psychoanalytische Theorien in »pädagogischen Veröffentlichungen teilweise eklektisch, enzyklopädisch und fragmentarisch rezipiert werden« (vgl. Wininger 2011, S. 273). Noch deutlicher wird das beim Durchblättern der Beiträge zum 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (vgl. van Ackeren u. a. 2020). In diesem über 600 Seiten umfassenden Reader musste ich lange suchen, bis ich auf psychoanalytische Perspektiven stieß (vgl. Rauh u. a. 2020). Und zu einem zweiten Text von Bühler, den es zu nennen gilt und der in seiner deutlichen Pointierung durchaus sympathisch daherkommt, würden mir zumindest einige kritische Anmerkungen einfallen. Seine Einschätzung der 1968er Jahre ist sehr auf »Nähe und Wärme« und die »steigenden therapeutischen Temperaturen der Pädagogik« fokussiert, das kritische Moment der Psychoanalyse bleibt dagegen eher blass (vgl. Bühler 2020, S. 605 ff.). Ansonsten wollte mir in ähnlicher Richtung nur noch Barbara Rendtorff begegnen, die in ihrem gemeinsamen Text mit Eva Breitenbach über Frauenbewegungen, Bildung und Erziehung aber eher mittelbar auf Psychoanalyse Bezug nimmt (vgl. Rendtorff, Breitenbach 2020). Allerdings hat sie sie sich an anderer Stelle dezidiert zum Verhältnis von Psychoanalyse, Geschlecht und Pädagogik geäußert (vgl. Rendtorff 2018).

Jedenfalls möchte ich nun sine ira et studio belegen, dass die Psychoanalytische Pädagogik gerade für das Verstehen einer Praxis, die viele verwirrende Erfahrungen bereit hält, im Vergleich zu anderen Spielarten der Erziehungswissenschaften ein Mehr an Erkenntnis zu liefern imstande ist. Hierzu nehme ich ein altes Beispiel von 1932 her, das aus einem von Siegfried Bernfeld ins Leben gerufenen Berliner Seminar für Pädagog/innen stammt: Eine Lehrerin und angehende Psychoanalytikerin berichtet dort von einem zehnjährigen Schüler in einer 5. Klasse, der dann zu kaspern anfängt, wenn von ihm etwas verlangt wird. Er beginnt, steif umher zu stolzieren und zu quäken. In der Reflexion dieser Szene wird eine Verbindung zu der vor kurzem behandelten Geschichte vom »Zäpfel Kern« sichtbar, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Lebensgeschichte des Jungen, der erst vor kurzem eine kleine Schwester bekommen hat, aufweist. Die Lehrerin versteht nun das Kaspern als ein »Stück des Konkurrenzkampfes gegen die kleine Schwester und seines Kampfes um Liebe bei der Mutter« und teilt dies dem Jungen mit. Daraufhin hört sein Kasperlespiel auf und macht einem »betont vernünftigen Verhalten Platz«. Wichtig ist noch zu erwähnen, dass die Klasse bald darauf ein richtiges Kasperlespiel in Gang bringt – das Kasperlegebaren wird zu einem »gemeinsamen Spiel der Klasse«, worauf ich verschiedentlich zurückkommen werde (vgl. Datler, W. 2019, S. 66 f.; Marseille 2013, S. 307).

Zu verstehen, was der Fall ist, führt dann zu einer entspannenden Veränderung der Situation, wenn darin die Hinwendung zu den unbewussten Motiven eines als störend empfundenen Verhaltens aufbewahrt wird. Hier erleben wir einen recht simplen und doch so erfolgreichen Zusammenhang zwischen dem Zeigen eines auffälligen Gebarens und schließlich dem Verzicht auf eben jenes, nachdem sich ein Kind verstanden fühlt. Diese Episode ist schon vor 90 Jahren niedergeschrieben worden. Wir müssen also eingehender darüber nachdenken, welcher innere Widerstand – und welche irrationale Angst vor der Begegnung mit dem (eigenen) Unbewussten – dazu führen, sie geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

Die gleiche Aufgabe stellt sich, wenn wir uns dem Gebiet der pädagogischen Forschung zuwenden. Auch hier treffen wir auf Selbstmitteilungen, die zunächst unzusammenhängend und verstörend erscheinen mögen, und dennoch folgen sie einer inneren Logik. Was machen wir mit dem Material und vor allem: was macht das Material mit uns? Indessen sei einschränkend vorweggeschickt, dass, anders als in der Praxis, die unmittelbare Einflussnahme auf das Gegenüber in einem hoch durchstrukturierten Forschungssetting beinahe vollständig suspendiert ist, schließlich gibt es keinen direkten Arbeitszusammenhang, in dem sich Dinge verändern ließen. Aber der Forschungsdialog lebt auch von affektiven Abstimmungen zwischen den daran Beteiligten, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht sogleich sichtbar werden will. Auch hier geht es darum, dass bzw. ob sich der/die Beforschte vom Forscher/von der Forscherin verstanden fühlt, damit überhaupt aussagekräftige Ergebnisse zustande kommen. Es geht also hier um keine direkte, sondern um eine mittelbare Einflussnahme, die durchaus – als Aufforderung und Einladung zum weiteren Nachdenken über sich selbst – wirksam zu werden vermag.

Im Gegensatz zu den in sich geschlossenen und vorgeblich widerspruchsfrei konzipierten Wissenschaftstheorien basiert das psychoanalytische Vorgehen »nicht ausschließlich auf logischen Schlussfolgerungen, auf Deskriptionen und Ergebnissen empirischer Untersuchungen« (vgl. Leber 1977, S. 83) und ist daher mit deren reduzierten Dechiffrierungsmöglichkeiten auch gar nicht zu fassen. Es mag zunächst verwirrend erscheinen, dass die Psychoanalyse ihre Aussagen nicht an Ereignissen festmachen kann. Indem sie sich ausschließlich im Bereich subjektiver Erlebensfiguren bewegt, liefert sie keine kausalanalytischen Beweise (vgl. Lorenzer 1974, S. 196).

Dieser Einwand wird dadurch entkräftet, dass der qualitative Sprung vom äußerlich bleibenden Erklären ins Verstehen niemals über objektive Datenoperationen hinter dem Rücken der Subjekte führen kann. Ohne die Reflexion dieses Subjektiven ist Erkenntnis nichts wert (vgl. Lorenzer 1974, S. 58). Lorenzer schlussfolgert: »Als Hermeneutik ist Psychoanalyse allenfalls ein hermeneutisches Verfahren zum Zweck der Entfaltung von Selbstreflexion. Geschichte bleibt ihr äußerlich« (ebd., S. 79). Gleichwohl betont er, dass die Erfahrung der strukturellen Beschädigung einer unpolitischen Form von Selbstreflexion entzogen bleibt, sofern sie auf die Frage nach deren objektiven Ursachen fragt. Die seelische Deformation ist als objektiv verursachte zu denken, die in die subjektiven Strukturen einfließt (ebd., S. 198 ff.).

Eine tiefenhermeneutische Systematik gilt es zu entwickeln, die sich hinsichtlich des angestrebten Erkenntnisgewinns als verlässliches Instrument erweist. Indessen müssen auch die bereits angedeuteten elementaren Unterschiede zwischen Fallarbeit und Forschung ausbuchstabiert werden. Im Handlungsfeld gilt es zunächst, Nähe herzustellen, um dann im Interesse der Adressat/innen über Reflexion wieder Distanz zu gewinnen. Das Verstehen wirkt ins Feld des dialogischen Arbeitens zurück. Das Forschungssetting will solches nicht immer mit gleicher Gründlichkeit zulassen, schließlich wird das Untersuchungsfeld nicht in den Prozess der Resultatgewinnung miteinbezogen. Diese Divergenz in der methodischen Systematik gilt es zu benennen und eingehend zu reflektieren, um die Aussagekraft einer psychoanalytisch-pädagogischen Perspektive nicht zu halbieren oder gar von vornherein zu diskeditieren. Denn die Basis des Verstehens bleibt gleich: Es ist die Annäherung an das unbewusst motivierte Fremde (im Eigenen).

Dieses Dilemma von Erkenntnis und Wirkung gilt übrigens, wenngleich kaum eingestanden, für jede Form von Praxis und Forschung, es wird aber gemeinhin nicht problematisier Mit Hilfe der psychoanalytisch-pädagogischen Methode lassen sich indessen die qua Verstehen gebildeten vorläufigen Annahmen mit Aussicht auf Erfolg probeweise einsetzen. Die Praxis spiegelt zurück, ob sie zutreffend sind. Im Forschungssetting ist dies kaum oder nur bedingt möglich. Aber über das Mitdenken der Tiefendimension des Erlebens wird der Erkenntnisgewinn reicher. Und eben über diese vorsichtige und nicht auf Erklärungswissen beharrende Vorgehensweise lässt sich die Analogie von Fall und Forschung legitimieren – was sich nicht zuletzt am Umgang mit den Tabuthemen Sexualität und geistige Behinderung sowie einem psychodynamisch begriffenen Autismus bewahrheitet, die abschließend zur Debatte stehen.

Verstehen, was der Fall ist

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