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Die Schnittwunden auf meiner Stirn verheilten rasch. Bereits nach drei Tagen wurden die Fäden gezogen. Endlich war ich den Verband los, der mir bis über die Nasenwurzel und die Augen gereicht hatte. Doch nun stellte sich heraus, dass ich unter Sehstörungen litt. Ich sah alles verschwommen und leicht verzerrt, manchmal sogar doppelt. Wie durch geriffeltes Milchglas. Deshalb musste ich noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, zur Beobachtung, wie es hieß, und für weitere Untersuchungen. Man untersuchte mich in der Augenklinik, man machte eine Computertomographie von meinem Kopf und eine Hirnstrommessung, alles ohne Befund. Aber nach einiger Zeit, um es vorweg zu nehmen, begann sich mein Zustand von selbst zu normalisieren und die Symptome verschwanden.

Bis ich wieder klar sehen konnte, lebte ich allerdings in einer gespenstischen Welt. Besonders der Anblick meines Bruders erschreckte mich jedes Mal auf Neue. Täuschten mich nur meine Augen, oder war aus ihm in den letzten beiden Jahren, während der wir einander nicht gesehen hatten, tatsächlich dieser aufgedunsene, stoppelglatzige, ziegenbärtige Gnom geworden, der da neben meinem Bett hockte und mir mit seinen Vergeltungsschwüren für Tanjas angebliche Vergewaltigung in den Ohren lag? Der immer wieder dieselben haarsträubenden, hasserfüllten Behauptungen absonderte und mich zum Komplizen seiner Rache machen wollte? Ich wusste, dass ich mit ihm darüber nicht diskutieren konnte, und außerdem war ich zu müde, zu schwach für eine Auseinandersetzung. Meine einziger Ausweg war, ihn zu ignorieren. Sollte dieser hässliche Freak doch daherquatschen, was er wollte, ich hörte einfach nicht mehr hin.

Das gelang mir allerdings nicht immer. Ich versuchte, Thomas abzulenken, und fragte ihn nach dem Befinden von Tanja. Vergeblich. Er hatte sich derart verbohrt in seine zwanghafte Idee, es dem Vergewaltiger heimzuzahlen, dass daneben für nichts anderes mehr Platz war. Tanjas augenblicklicher Zustand interessierte ihn ebenso wenig wie der meine.

„Weiß nicht. Liegt im künstlichen Tiefschlaf. Aber ich schwör dir, wenn sie stirbt, bring ich das Dreckschwein um.“

Das war alles. Mehr fiel ihm nicht ein zu seiner Frau, die zwei Stockwerke über uns in der Intensivstation lag.

Es war hoffnungslos. Ich konnte sagen, was ich wollte, es lief immer wieder aufs selbe hinaus. Bis mir der rettende Einfall kam.

„Kannst du eigentlich Auto fahren, Tommi?“ „Ja. Warum?“

„Irgendwo vor der Spitalseinfahrt müsste noch das Cabrio stehen. Nicht ganz vorschriftsmäßig, fürchte ich. Vielleicht hat man es sogar schon abgeschleppt. Könntest du dich darum kümmern?“

„Du meinst den Scheiß-VW von Pa?“

„Ja. Vaters heißgeliebten Käfer.“

„Die beschissene Kiste gibt’s noch immer? Was soll ich damit machen?“

„Mach, was du willst, Tommi. Schlüssel steckt, Papiere sind im Handschuhfach.“

„Geht in Ordnung. Ich kümmer’ mich irgendwann drum.“

„Nicht irgendwann. Gleich, Tommi. Sofort.“ „Okay, wie du willst.“

Eine halbe Minute später war Thomas weg. Endlich. Ich hatte bei ihm auf den richtigen Knopf gedrückt. Der Groll auf unsere toten Eltern schwelte nach wie vor in ihm. Und wie gewohnt war er knapp bei Kasse.

Nein, in dieser Hinsicht hatte er sich nicht verändert. Vernünftige Argumente prallten an ihm ab. Doch wenn man seinen wunden Punkt traf, spurte er sofort wie ein dressiertes Hündchen. Man konnte allerdings nie wissen, wohin es führen und was dabei herauskommen würde. Aber in diesem Augenblick war mir das egal. Ich war nur erleichtert, dass ich den Quälgeist für einige Zeit losgeworden war.

Es war wie damals, nachdem sich Roswitha in Luft aufgelöst hatte. Monatelang, bis er das Gymnasium geschafft hatte, war es mir gelungen, Thomas mit meinen Lügen einigermaßen zu beruhigen. (Und, wenn ich ehrlich bin, auch mich selber.) Doch danach wusste ich mir keinen Rat mehr.

Wegen seiner geringen Körpergröße musste Thomas keinen Wehrdienst leisten, so blieb die Verantwortung für ihn weiter an mir hängen. Ob ich es wollte oder nicht, ich hatte ihn am Hals und musste nun miterleben, wie er aus unserer Wohnung eine regelrechte Kultstätte für Roswitha machte. Nach dem Tod unserer Eltern hatte er jede Erinnerung an die beiden so schnell wie möglich auszulöschen versucht. Jetzt tat er das genaue Gegenteil. Und das mit einer Verbissenheit, die schon an Wahnsinn grenzte.

Das muss man sich einmal vorstellen: Da will ich endlich die Wohnung frisch ausmalen, bin gerade dabei, im Vorzimmer ein Graffiti nach dem anderen mit weißer Farbe zu übertünchen, und plötzlich drängt sich Thomas dazwischen, stellt sich mit hochrotem Kopf und weit ausgebreiteten Armen schützend vor die knallbunte Scheiße, die Roswitha vor Jahren an die Wand gesprayt hat, zittert am ganzen Leib und bekommt fast einen Tobsuchtsanfall.

„Das tust du nicht“, brüllt er. „Dazu hast du kein Recht! Das bleibt alles so, wie es ist! Du rührst nichts an, bis Roswitha wieder da ist!“

Sinnlos, ihm zu erklären, dass er sich falsche Hoffnungen mache. Dass er aufhören solle, Roswitha nachzutrauern. Dass es an der Zeit sei, sie ein für alle mal zu vergessen. Dass Roswitha wie jeder Mensch ein Anrecht darauf habe, an einem anderen Ort ein neues Leben zu führen.

Es nützt nichts. Der sture Hund rückt keinen Millimeter von seiner Überzeugung ab, Roswitha würde zu uns zurückkommen. Sogar als ich mich in letzter Not zu dem Argument hinreißen lasse, niemand könne wissen, ob Roswitha nicht schon längst tot sei, möglicherweise einer schlimmen Krankheit zum Opfer gefallen, einem schrecklichen Unfall oder einem Verbrechen, umgekommen irgendwo weit weg, vielleicht in Süditalien oder auf einem anderen Kontinent, ja, sogar da reagiert mein Bruder mit nichts als unverhohlener Verachtung für mich und mit Wut und Empörung.

„Du Arsch! Niemand nimmt mir Roswitha weg! Niemand! Und du schon gar nicht!“

Und ich Idiot gebe klein bei. Um des Friedens willen mache ich nicht weiter. Lasse es bleiben. Das Ausmalen ebenso wie den Versuch, Thomas zur Vernunft zu bringen. Kapituliere, statt ein Machtwort zu sprechen. Weil irgendwie tut mir Thomas sogar leid. Scheiß Bruderspiel, würde Claudia sagen.

Und dann beginnt der Wahnsinnige auch noch mit einem Küchenmesser die frische, weiße Farbe abzukratzen. Legt in stundenlanger Arbeit die Graffitis wieder frei, vorsichtig, Quadratzentimeter um Quadratzentimeter. Schabt und wischt, beharrlich, geduldig und mit Feuereifer, als wäre er ein Archäologe, der ein kostbares, antikes Wandgemälde vom Dreck von Jahrhunderten befreit. Wird zum Restaurator, um schadhafte Stellen wieder in ihren ursprünglichen Zustand zu versetzen, schleppt kartonweise alte Farbspraydosen aus dem Keller in die Wohnung, sprüht jede fehlende Linie nach, füllt Farbflächen, ergänzt Schwünge und Kanten, bis endlich alles wieder genau so ist, wie es Roswitha zurückgelassen hat.

Doch das reicht ihm noch lange nicht. Und ich lasse ihn machen, weiß der Teufel, warum. (Zwischenfrage an Frau Doktor Freud: Ist es denkbar, dass auch mir die Vorstellung durchaus willkommen war, ich würde eines Morgens aufwachen, Roswitha läge neben mir ihm Bett, und alles wäre nur ein böser Traum gewesen? Können Illusionen ansteckend wirken, allenfalls eine Zeit lang und in einmal mehr, einmal weniger heftigen Schüben? Oder gibt es eine andere Erklärung für meine fast ein halbes Jahr andauernde Lethargie?)

Heute muss ich ja fast lachen, wenn ich mich daran erinnere. Kommt der Kerl doch tatsächlich eines Tages mit einem Stapel von Kunstgeschichtebüchern an, die er auf einem Flohmarkt gekauft hat, und verteilt sie in der ganzen Wohnung. Macht wenig später einen Aufstand, als er bemerkt, dass ich den Kleiderschrank wieder zur Gänze für mein Zeug benutze. Räumt Roswithas ehemalige Fächer leer, schafft Platz für ihre Sachen. Hängt zusätzliche Handtücher ins Badezimmer. Stellt einen neuen Zahnputzbecher samt Zahnbürste auf die Etagere. Stopft das Spiegelkästchen voll mit Kosmetiksachen und Tamponpackungen. Und zu guter Letzt finde ich sogar auf dem Badezimmerboden einen Haufen ungewaschener Damenslips, sicher zwanzig oder mehr, Roswithas alte Slips, die sich der kleine Perversling im Laufe der Zeit zusammengeklaut und in seinem Zimmer versteckt hat.

Jeden Tag ein neues Déja-vu. Jeden Tag für einen Augenblick das Gefühl, Roswitha sei noch hier. Jeden Tag ein kleiner Stich ins Herz. Jeden Tag meine Kapitulation vor Thomas’ manischer Roswitha-Inszenierung, bei der ich mitspiele, weil ich nicht anders kann. Bis ich es schließlich doch nicht mehr aushalte.

Als Thomas damit anfängt, jedes Mal, wenn er die Wohnung betritt, „Hallo Roswitha! Hallo Markus!“ zu rufen, wird es mir zu viel. Soll ich jetzt auch noch mit verstellter Stimme antworten, um den Schein aufrecht zu halten? Aus! Es reicht. Schluss mit dem faulen Zauber.

Ich weiß, mit Vernunft ist Thomas nicht beizukommen. Und mit der Wahrheit schon gar nicht. Also muss wieder ein Lüge her. Eine Täuschung, mit der ich seine Selbsttäuschung übertrumpfen kann. Eine Geschichte, die Thomas dazu bewegt, wenigstens eine Zeit lang zu verschwinden und mich in Ruhe zu lassen.

Es ist mein Geschenk zu seinem neunzehnten Geburtstag. Drei gute Nachrichten. Erstens, dass er ab sofort das Recht habe, zu tun oder zu lassen, was er will, weil ich nicht mehr für ihn verantwortlich sei. Zweitens, dass er nun selbstverständlich auch über das Geld, das ihm unsere Eltern vererbt haben, frei verfügen könne. Und drittens, dass ich gehört hätte, Roswitha sei von einem ehemaligen Studienkollegen im Hafen von Piräus gesehen worden, als sie gerade die Fähre nach Mykonos bestiegen habe.

Ich bin verblüfft, wie präzise die letzte Nachricht auf Thomas wirkt. Er stellt keine Fragen, zieht nichts in Zweifel. Am liebsten würde er sofort alles stehen und liegen lassen und nach Griechenland aufbrechen, um Roswitha zu suchen. Das Einzige, was ihn davon abhält, ist die Bank, die für die Regelung einiger finanzieller Fragen und die Ausstellung seiner Kreditkarte zehn Tage braucht. Doch dann packt er ein paar Klamotten in einen Rucksack und macht sich auf den Weg. Ruft nur noch „Ciao, Markus! Ich bring Roswitha zurück!“ und haut ab.

Ich weiß nicht einmal, ob er die Bahn nimmt oder ein Flugzeug. Interessiert mich auch nicht. Ich bin nur froh, einfach nur heilfroh.

Noch am selben Abend packe ich sämtliche Roswitha-Relikte zusammen, die gefälschten ebenso wie die echten, und schmeiße sie in die Mülltonne. Und dann öffne ich ein Flasche Wein, einen richtig schönen, teuren Roten, und besaufe mich. Und weil es so schön ist, mache ich noch eine Flasche auf und dann noch eine, und schließlich bin ich von dem schönen Rotwein richtig schön besoffen und ich rufe „Prost, Tommi! Prost, Roswitha! Alles Gute euch beiden und der Teufel soll euch holen!“ und ich werfe das halbvolle Glas an die Wand, so richtig schön nach russischer Art, und dann das nächste und zum Schluss sogar noch die Flasche, knalle sie gegen die Graffitis, und der schöne Rotwein rinnt an ihnen herunter und vermischt sich mit den Farben, und so werden sie erst richtig schön, finde ich, richtig schön durch meinen schönen Rotwein, diese Scheißgraffitis. Und dann schlafe ich ein, was soll ich sagen, das erste Mal seit langem schlafe ich richtig schön, schlafe tief und fest, ohne Schlaftablette, schlafe, wie ich früher geschlafen habe, ganz früher, nämlich wie damals, als mein Bruder noch überhaupt nicht auf der Welt war und die Welt deshalb noch ziemlich in Ordnung gewesen ist.

Ist man eigentlich ein Arschloch, wenn man seinen Bruder gleichzeitig liebt und zum Kotzen findet? Gut, dann war ich eben ein Arschloch und bin vermutlich noch immer eins. Jedenfalls genoss ich jeden Tag ohne Thomas. Beglückwünschte mich zu jeder Woche, jedem Monat, in welchem ich nichts von ihm erfuhr, von gelegentlichen, nichtssagenden Ansichtskarten einmal abgesehen. Und gratulierte mir schließlich zu jedem der über drei Jahre, wirklich zu jedem einzelnen dieser herrlichen, wunderbaren Jahre, in denen ich von ihm meine Ruhe hatte!

Manchmal vergaß ich ihn völlig, manchmal machte ich mir aber auch Sorgen um ihn. Fragte mich, ob es richtig gewesen war, ihn allein auf eine falsche Fährte zu setzen und seinem Schicksal zu überlassen. Doch erst viel später, als er mir von seiner langen Suche nach Roswitha erzählte, erkannte ich, dass ich allen Grund zur Sorge hatte. Nicht wegen der ein, zwei unangenehmen Dinge, die Thomas zugestoßen waren. Was mir Sorgen bereitete, oder vielmehr, was mich erschreckte, war diese Mischung aus Gutgläubigkeit und Starrsinn, mit der er sein Ziel verfolgt hatte. Es wurde mir klar, dass Thomas ein Mensch ist, der sich durch nichts davon abbringen lässt, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hat. Der eisern daran festhält, so falsch und verrückt und aussichtslos es auch sein mag. Mehr als bloß ein Phantast. Ein Irrer.

Eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein für einen, der drei Jahre lang einem Phantom nachrennt. Einen, der auf ein bloßes Gerücht hin auf jeder mit einer Fähre oder für eine Handvoll Münzen mit einem Fischerboot erreichbaren griechischen Insel nach einer rothaarigen Frau Ausschau hält, in die er sich als Fünfzehnjähriger unsterblich verliebt hat. Einen, der, einer plötzlichen Eingebung folgend, nach Athen fährt, sich im teuersten Hotel einquartiert und es für eine glänzende Idee hält, ein paar Farbspraydosen zu kaufen und dann an jeder zweiten Fassade den Namenszug Roswitha als bunt gestyltes Graffiti zu hinterlassen, sozusagen als Geheimbotschaft an die Gesuchte. Einen, der eines Tages von einer Tramperin angesprochen wird, einer jungen Deutschen, der aufgefallen ist, dass auf einmal in halb Athen ihr Name an den Wänden steht, und die wissen möchte, was das soll. Die er daraufhin zum Essen einlädt, ihr alles erzählt, überglücklich, dass sich endlich jemand für seine Geschichte interessiert, und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem er sich ohnehin ziemlich mies und allein und von seinem großen Bruder im Stich gelassen fühlt. Die das wahnsinnig toll findet, was er da tut, und die ganz spontan das Angebot macht, ihm zu helfen, diese andere Roswitha zu finden. Ein Angebot, das er sofort annimmt, ohne viel zu fragen. Weil er Witta, wie sie sich nennt, blind vertraut. Sie sogar ausgesprochen nett findet mit ihren Dreadlocks, diesen braunen Rastazöpfen mit den eingeflochtenen bunten Glasperlenketten, und mit ihrem hübschen Gesicht, vor allem aber wegen ihrer immer neuen Ideen, an welchen Orten sich Roswitha aufhalten könnte.

Und so reisen sie gemeinsam kreuz und quer durch Europa, immer mit dem Flugzeug, immer in den besten Hotels, Geld genug hat er ja. Ziehen durch die Straßen und sprühen Roswitha-Graffitis an die Hauswände. In Lissabon, in Madrid, in Amsterdam, in London, in Rom, auf Ibiza. Drei Jahre lang. Ohne Erfolg, ohne die geringste Spur von Roswitha. Drei Jahre, in denen er jedes Mal gebannt an Wittas Lippen hängt, wenn sie dafür eine Erklärung parat hat. Wenn sie von Verschwörungen und Geheimgesellschaften spricht, von im Verborgenen wirkenden Organisationen, von den wirklich Mächtigen, die alles auf der Welt in ihren Händen haben, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Waffen, Geld und vor allem natürlich Menschen, die sie nach Gutdünken entführen, verschwinden lassen, für ihre Zwecke benutzen und irgendwann wieder auftauchen lassen, manche nach ein paar Tagen, manche erst nach Monaten oder Jahren, manche nie. Geschichten, die ihm bestätigen, was er schon lang geahnt, gewusst hat. Drei Jahre, in denen sie ihn immer wieder aufbaut und tröstet und in die Arme nimmt, und manchmal kramt sie einen kleinen Lederbeutel mit Hasch aus ihrem Rucksack und dreht sich einen Joint und lässt auch ihn dran ziehen, und das findet er irgendwie aufregend und beruhigend zugleich, und dann schläft sie mit ihm. Und es ist einfach phantastisch, wirklich traumhaft ist es, wenn sie miteinander schlafen und er dabei Roswithas Namen seufzen, flüstern, schreien kann, und dafür liebt er Witta fast ein bisschen.

Mein Bruder, der Irre. Der Irre, der sich von einem raffinierten Späthippiegirl um den Finger wickeln lässt. Der nicht merkt, dass er der Lady bloß einen langen, komfortablen Europatrip bezahlt. Der ihr auch noch jedes Mal bereitwillig Geld gibt, wenn sie behauptet, sie könne an einen todsicheren Hinweis auf Roswithas Aufenthaltsort herankommen, aber für diese Information müsse sie leider ziemlich viel bezahlen, und der dann jede Geschichte glaubt, die sie natürlich prompt in die nächste teure Metropole oder auf die nächste angesagte Ferieninsel führt.

Der Irre, der nichts begreift. Auch zuletzt nicht, als im Flughafen von Palma plötzlich die Handschellen klicken, weil der Spürhund bei seinem Rucksack angeschlagen hat, in dem man, leider nicht gut genug in zwei leeren Spraydosen versteckt, Cannabis und einen Haufen hübscher, bunter Designerdrogen findet. Der keine Ahnung hat, wie das Zeug in seinen Rucksack gekommen ist. Der sich hilfesuchend nach Witta umblickt, aber die ist auf einmal nirgends zu sehen, in der ganzen Abfertigungshalle weit und breit keine fröhlichen Rastalöckchen. Ein Irrer, einfach ein Irrer, der selbstverständlich sofort davon überzeugt ist, Opfer einer Verschwörung zu sein, irgendwelcher Leute, die mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Roswitha entdeckt wird, und die deshalb dafür sorgen, dass sich seine kleine Freundin buchstäblich in nichts auflöst, als hätte es sie nie gegeben, und dass er für zwei Monate in ein spanisches Gefängnis kommt und danach sofort nach Österreich abgeschoben wird.

Dumm gelaufen für Thomas. Gründlich schiefgegangen die Variante Brüderchen und Schwesterchen, kleiner Bruder, große Schwester. Oder war es die Ödipus-Version?

Trotzdem war es gut, dass ich Thomas dazu gebracht hatte, eine Zeit lang aus unserer Wohnung und aus meinem Leben zu verschwinden. Ich wäre sonst mit Sicherheit wahnsinnig geworden. Und früher oder später hätten wir uns vermutlich gegenseitig die Schädel eingeschlagen. Vor allem aber hätte ich Claudia nie kennengelernt. Claudia, mit der ich ein paar richtig gute Jahre hatte. Ganz großartige Jahre sogar, bevor die Scheiße auf einmal gewaltig zu dampfen anfing. Genau genommen die besten Jahre meines Lebens.


Kaltfront

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