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Eines will ich gleich einmal klarstellen: Ich erzähle diese Geschichte nicht, um mein Gewissen zu erleichtern oder damit man mir vergibt. Wer könnte mir schon vergeben, wer hätte das Recht, über Schuld oder Unschuld ein Urteil zu fällen? Ganz bestimmt nicht die junge Psychotherapeutin, die jeden Tag eine Stunde lang an meinem Bett sitzt, mir aufmerksam zuhört und sich gewissenhaft in ein kleines Buch Notizen macht, während ich rede und rede und rede.

Frau Doktor Freud – so nenne ich sie für mich, weil ich mir ihren richtigen Namen einfach nicht merken kann – wird vom Krankenhaus bezahlt, sie gehört sozusagen zum All-inclusive-Angebot für Krebspatienten, die in der Sonderklasse liegen. Aber was ich zu sagen habe, scheint sie wirklich zu interessieren, denn seit einiger Zeit besucht sie mich öfter, als sie müsste, manchmal am Wochenende, manchmal spätabends nach ihrem Dienstschluss. Ich finde das gut, weil es mir einfach leichterfällt, über all das nachzudenken, was vor ein paar Jahren geschehen ist, wenn ich es jemandem erzählen kann.

Es ist dann jedes Mal so, als würde ich das Ende des Fadens in die Finger bekommen, der mich aus meinem Labyrinth herausführt. Und hinterher, wenn sie wieder gegangen ist, tippe ich alles in meinen Laptop. Alles, was ich erzählt habe, alles, was mir noch dazu einfällt, und manches, was ich vielleicht lieber nicht erzählen möchte und deshalb vermutlich irgendwann wieder löschen werde. Spule den Gedankenfaden weiter auf, immer weiter, ohne zu wissen, wohin er mich bringen wird. Es ist schließlich das Einzige, was ich noch tun kann.

So denke und rede und schreibe ich, um nicht ständig die Infusionsflaschen und Plastikbeutel anstarren zu müssen, aus denen beinahe rund um die Uhr dieser Giftcocktail durch dünne Schläuche in meine Venen rinnt, diese wohldosierte Chemiemixtur, die endlich meine Krebszellen umbringen soll. Denke, rede und schreibe gegen die Übelkeit an, die mich in regelmäßig wiederkehrenden Wellen überfällt, gegen den Gestank, den ich auszudünsten vermeine, gegen den Drang, ständig erbrechen zu müssen, und vor allem gegen die unerklärliche Kälte, die durch meine Adern strömt, als hätten sich meine Blutkörperchen in Eiskristalle verwandelt. Sogar die Ärzte wissen nicht, was diese Kälte verursacht. Mein Blutdruck sei völlig in Ordnung, sagen sie, und die Anzahl meiner Leukozyten ebenso. Doch ich bilde mir das nicht bloß ein, ich friere wirklich.

Statistisch betrachtet ist mein Krebs nicht lebensgefährlich. Ein typisches, häufig vorkommendes Leiden von Männern im fortgeschrittenen Alter, mit einer Heilungschance von fünfundneunzig Prozent. Ich habe mir deshalb auch keine allzu großen Sorgen gemacht. Bis ich vor einer Woche aus dem Zimmer neben dem meinen die halbe Nacht hindurch leises Jammern und Stöhnen vernahm. Aber nachdem ich meine Schlaftablette genommen hatte, schlief ich schließlich doch ein, und am nächsten Morgen war von nebenan nichts mehr zu hören. Ich wusste, dass mein Zimmernachbar den gleichen Krebs hatte wie ich und sich auch im selben Behandlungsstadium befand, und dachte, es ginge ihm wieder besser. Doch als ich mich bei der Nachtschwester nach ihm erkundigte, erklärte sie mir – gleich darauf verlegen und erschrocken, denn sie hätte es mir eigentlich gar nicht sagen dürfen –, dass er in den Morgenstunden gestorben sei. Seither weiß ich, niemand kann mir garantieren, dass nicht auch ich zu den restlichen fünf Prozent gehöre, die es trifft.

Ich hatte übrigens die Wahl: entweder die Psychotante oder einen Pfarrer. Gott kann warten, dachte ich damals, bis dahin habe ich noch jede Menge Zeit. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Trotzdem, Frau Doktor Freud ist jetzt genau richtig für mich. Vielleicht, weil sie vom Alter her meine Tochter sein könnte, das Kind, das ich nie hatte, und dem ich jetzt erzählen kann, woraus das Leben in Wirklichkeit besteht. Nämlich aus viel mehr Fragen, als es Antworten gibt. Shit happens. So einfach, so banal.

Ein paar Antworten möchte ich allerdings schon noch bekommen. Nur Antworten, keine großen Wahrheiten oder Erklärungen, was richtig ist und was falsch, oder gar, was gut und was böse. Einfach Antworten. Also vermutlich das, was ich ohnehin weiß, aber bloß nicht zu denken wage, geschweige denn auszusprechen. Noch nicht.

Ich denke, im Grunde mache ich das Gegenteil dessen, was der Krebs in meinem Körper macht: Ich fange bei den Metastasen an und versuche dorthin zu gelangen, wo sie zu wuchern begonnen haben. Eigentlich völliger Unsinn, denn das, was geschehen ist, ändert sich dadurch auch nicht mehr. Leben lässt sich nicht rückgängig machen, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es gar nicht wollen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was mich frösteln lässt.


Kaltfront

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