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Die Nacht, in der sich ein dünner Eispanzer über die ganze Stadt gelegt hatte, war tagelang das alles beherrschende Gesprächsthema. Die Krankenschwestern, die Pfleger und die Ärzte in der Unfallchirurgie redeten über nichts anderes und nannten sie nur „Eisnacht“ und Patienten wie mich „Eispatienten“. Später erfuhr ich, dass sie es als kälteste Nacht seit Beginn der regionalen Wetteraufzeichnungen sogar auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft hatte. Wobei weniger der Kälterekord für Aufregung sorgte, sondern die fast ebenso rekordverdächtige Zahl von Verkehrsunfällen und Verletzten. Die Stadtregierung wurde mit Vorwürfen überhäuft, Bürgerinnen und Bürger, die genau Buch geführt hatten, wann und wo die Streufahrzeuge und Streutrupps des Magistrats im Einsatz waren, empörten sich darüber, dass ausgerechnet ihr Stadtteil, ihr Straßenzug, ihr Gehsteig viel zu spät oder sogar überhaupt nicht an die Reihe gekommen waren, Unfallopfer und Versicherungen drohten mit Schadensersatzklagen, dem zuständigen Stadtrat und dem Bürgermeister wurde völlige Unfähigkeit attestiert, und alles mündete schließlich in eine heftige politische Diskussion über die offenbar katastrophalen Zustände, die sich hinter der schönen Fassade unserer Stadt verbergen würden.

Mag ja sein, dass wir einem Haufen Unfähiger ausgeliefert sind. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht, aber im Grunde glaube ich es nicht. Und Leute, die so tun, als hätten sie den großen Durchblick, kann ich einfach nicht ernst nehmen. Leute, die hinter allem und jedem eine Verschwörung von Idioten oder finsteren Mächten wittern. Leute, die davon überzeugt sind, dass die ganze Menschheit nur eines im Sinn hat, nämlich ihnen ganz persönlich Schaden zuzufügen. Leute wie meinen Bruder.

Ich will ja nicht schlecht über ihn reden, aber Thomas gehört zu den Menschen, die meinen, die Welt sei nichts als böse und habe es nur auf sie abgesehen. Von dieser Opferrolle konnte ich ihn nie abbringen. Im Gegenteil, wenn ich ihn davon zu überzeugen versuchte, dass er nicht nur von Ignoranten, miesen Schweinen und kompletten Arschlöchern umzingelt sei, wie er es auszudrücken pflegte, wurde er nur noch verbissener in seiner wütenden Verzweiflung und warf mir vor, sogar ich würde ihn nicht mehr verstehen und mich gegen ihn wenden. „Mein Bruder, mein Feind“, sagte er dann jedes Mal. „Mein Bruder, der mich hasst.“ Doch ich hasste ihn nicht. Er ging mir ganz gewaltig auf die Nerven mit seinem abstrusen Weltbild, aber ich hasste ihn nicht. Und deshalb gab ich zu guter Letzt immer klein bei und spielte mit. Das alte Bruderspiel: Großer Bruder und kleiner Bruder, Verbündete im Kampf gegen den Rest der Welt.

Das funktionierte bestens, solange es nicht um große Sachen ging. Was war dabei, wenn ich Thomas’ Bilder hin und wieder in unserer Galerie ausstellte? Diese riesigen Leinwände, auf denen er mit Acrylfarben seine Frustration abreagiert hatte, Scheußlichkeiten, die er für bedeutende Kunstwerke hielt, für die sich aber kein Mensch interessierte. Und was außer ein paar hundert Euro kostete es mich schon, sein angeschlagenes Selbstbewusstsein immer wieder aufzubauen, indem ich manchmal zwei oder drei seiner Bilder kaufte, im Keller unseres Hauses versteckte und Thomas dann irgendwelche Geschichten über ausländische Kunstsammler erzählte, die überraschend in der Galerie aufgetaucht und von seinen Arbeiten ganz begeistert gewesen seien?

Hätte ich ihm die Wahrheit sagen sollen? Ihm an den Kopf werfen, dass seine Pinselhiebe und Farbspritzer wertloser Mist seien, epigonales Geschmiere, schon tausendmal so oder so ähnlich gesehen und auch nicht besser, wenn er behauptete, es handle sich um transzendentale Seelenräume, kosmische Explosionen oder die Verwandlung von Geist in Materie? Hätte ich ihm erklären sollen, dass die Galeristen, Kritiker und Jurymitglieder, die seine Bilder ignorierten, keineswegs verständnislose Banausen, vertrottelte Beamte oder Drahtzieher einer internationalen Kunstmafia seien? Was hätte es gebracht, ihn mit der Realität zu konfrontieren? Ihn, den Traumtänzer, der mit seinen Hirngespinsten niemandem Schaden zufügen konnte, im Gegensatz zu manch knallhartem Realisten.

Es erstaunte mich immer wieder, wie einfach es war, Thomas aus seinen moralischen Tiefs herauszuholen, ihn zu befreien aus dem Gefängnis seiner finsteren Gedanken. Ich musste ihn nur geschickt täuschen, dann wechselte er mit fliegenden Fahnen von der feindlichen Welt, die ihn betrog, zur freundlichen Welt, die ihn belog. Die Wahrheit empfand er als Angriff, sie erschreckte ihn, also musste ich eben seine Lügen mit meinen Lügen ausstechen, entscheidend war einzig und allein, dass ich im System blieb.

Unglaublich, wie glücklich er jedes Mal war, wenn ich ihn zur Vernissage eines Prominenten einlud und im Laufe des Abends den Gästen als jungen Maler vorstellte, dessen internationaler Durchbruch unmittelbar bevorstehe, als fantastisches Talent und absoluten Geheimtipp. Und wenn sich der Berühmte dann sogar noch freundlich gemeinsam mit dem jungen Kollegen fotografieren ließ, schwamm Thomas regelrecht in einem Meer von Seligkeit und registrierte überhaupt nicht, dass man hinter seinem Rücken über ihn lächelte und ihn für vieles hielt, für ein schräges Original, für einen kompletten Spinner, für das sympathisch überdrehte Galerie-Faktotum, für alles, nur nicht für einen Künstler. Und obwohl er nie lange anhielt, manchmal nur bis zum nächsten Morgen, vergönnte ich ihm diesen Rausch. Denn, verflucht noch einmal, Thomas war mein kleiner Bruder, und das wird er immer bleiben, auch dann, wenn ich vor ihm sterbe.

Claudia fand es immer falsch, dass ich mich so für Thomas einsetzte. Sie meinte, er würde bloß meine Gutmütigkeit ausnutzen, weil das für ihn klarerweise viel bequemer sei, als zu lernen, endlich auf eigenen Beinen zu stehen und erwachsen zu werden. Aber vor allem würde er dem Ansehen der Galerie schaden.

Natürlich hatte sie Recht. Natürlich wusste ich, dass Thomas ein Versager war, der sich hinter einer Mauer aus absonderlichen Gedanken verschanzt hatte und im Leben nur mit meiner Hilfe halbwegs zurechtkam. Aber ich wusste, oder besser, ich ahnte eben auch, warum er so geworden war. Doch jeder Erklärungsversuch prallte an Claudia ab. Ich versuchte es immer und immer wieder. Keine Chance. Für Claudia blieb Thomas nichts als ein kleiner Schmarotzer. Und vor allem ein Freak, ein verrückter Freak.

Claudia konnte sich einfach nicht vorstellen, wie es ist, ein Dreizehnjähriger zu sein. Ein durchschnittlich intelligenter, durchschnittlich verwöhnter, durchschnittlich glücklicher Dreizehnjähriger, dessen einzige Auffälligkeit bisher darin bestand, dass er mit elf Jahren auf einmal zu wachsen aufgehört hatte. Ein eins fünfundvierzig großer Dreizehnjähriger, bei dem man annahm, seine Wachstumshormone würden im Laufe der Jahre ganz von selbst wieder aktiv werden und ihn dann in einem plötzlichen Schub emporschießen lassen. Ein Dreizehnjähriger, dem es zunächst nichts auszumachen schien, dass er im Vergleich zu seinen Altersgenossen ein Zwerg war. Ein Dreizehnjähriger, dessen durchschnittliches Leben in einer durchschnittlichen Familie sich dann aber von einer Sekunde auf die andere in nichts auflöste.

Ich war dabei, als es passierte. Nicht, dass ich es in diesem Augenblick schon begriffen hätte, dafür war ich selber noch viel zu verstört. Erst eine Stunde zuvor hatten zwei Polizeibeamte an unserer Wohnungstür geläutet und mir mitgeteilt, dass unsere Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen seien. Hatten mir etwas über ein riskantes Überholmanöver unseres Vaters erzählt, über einen Sattelschlepper, der nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, über einen Frontalzusammenstoß und über ein völlig ausgebranntes Wrack.

Und weil ich mich zunächst geweigert hatte, diese Nachricht zu glauben – denn wie konnte man mit solcher Sicherheit behaupten, dass es sich bei dem Unfallauto tatsächlich um den BMW unseres Vaters und bei den beiden fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Toten um unsere Eltern handelte –, waren die Beamten noch mit mir im Wohnzimmer gesessen und hatten ein paar der Details geschildert, anhand deren die Toten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Margot und Josef Steinfelder identifiziert worden waren, eindeutige Indizien, auch wenn die endgültigen gerichtsmedizinischen Untersuchungsergebnisse noch ausstanden. Und ausgerechnet während dieser schonungslosen Konfrontation mit der ganzen grausamen Wahrheit war Thomas von der Schule nachhause gekommen.

Keiner von uns hatte ihn bemerkt. Er musste eine geraume Zeit hinter der halb geöffneten Tür gestanden sein und hatte unser Gespräch belauscht. Hatte all die schrecklichen Dinge gehört, die nicht für seine Ohren bestimmt gewesen waren. Und als er dann plötzlich ins Zimmer kam, war es zu spät, um ihm möglichst behutsam zu erklären, was geschehen war.

Ich werde nie den Ausdruck seines Gesichtes vergessen. Wie soll ich es beschreiben? Etwas unglaublich Erschrockenes, Verletztes, zutiefst Empörtes lag in seinen Zügen, als hätte ihn jemand ins Gesicht geschlagen. Er stand stumm in der Tür. Er sah mich an. Er sah die Polizisten an. Er sah wieder mich an. Wir blickten ihn an. Wir schwiegen. Vier, fünf Sekunden, vielleicht zehn. Unendlich lange Sekunden, erfüllt von Atemlosigkeit, Anspannung und Entsetzen, als würden wir auf Tretminen stehen. Und dann nickte Thomas nur, sagte kein Wort, drehte sich um und verschwand in sein Zimmer.

Den Polizisten stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als ich ihnen versprach, ich würde selber mit meinem Bruder reden und alles tun, um seinen Schock zu mildern. Aber versuchen Sie einmal, mit jemandem zu sprechen, der sich in seinem Zimmer eingesperrt und die Stereoanlage auf volle Lautstärke aufgedreht hat. Dröhnende Bässe, den ganzen Nachmittag nichts als hämmernde, dröhnende Bässe. Ich ließ ihn gewähren, denn, um ehrlich zu sein, der Sound war genau richtig, um auch in meinem Kopf das Chaos zu betäuben. Bloß gegen meine Verzweiflung konnte er nichts ausrichten und gegen den Schmerz, der von Minute zu Minute stärker wurde und mir die Tränen in die Augen trieb, bis ich schließlich nur noch hilflos auf dem Sofa lag und Rotz und Wasser heulte.

Von mir aus hätte das Hämmern der Bässe ewig so weitergehen können. Nur nicht denken müssen, nur nicht realisieren müssen, dass ich unsere Eltern nie wieder sehen würde, dass sie einfach verschwunden waren. Aber irgendwann schaltete Thomas die Anlage ab und dann stand er auf einmal vor mir, blass und verschwitzt, und flüsterte in einem fort drei Sätze, als hätte er sie auswendig gelernt:

„Versprich mir, dass ich nicht in ein Heim muss. Versprich mir, dass wir zusammenbleiben. Versprich mir, dass du mich nicht auch noch verlässt.“

Immer wieder nur diese drei Sätze. Wie eine Zauberformel. Wie eine Beschwörung.

„Klar“, sagte ich. „Versprochen. Verlass dich drauf. Großes Indianerehrenwort.“

Mehr als dieser dumme Spruch fiel mir nicht ein in meinem Zustand. Auch später nicht, in den folgenden Tagen und Wochen. Noch nie hatte ich mich so abgrundtief elend gefühlt, noch nie so ausgehöhlt, noch nie so unfähig, auch nur einen einzigen vernünftigen Gedanken zu fassen. Und deshalb war ich in Wirklichkeit auch gar nicht in der Lage, mich um Thomas zu kümmern. Ich war wie betäubt, erstarrt unter einer Kruste aus Fassungslosigkeit, Trauer und Wut.

Auf die anderen Menschen machte ich aber offenbar den Eindruck, alles im Griff zu haben. Niemand schien zu bemerken, dass ich in Wahrheit wie ferngesteuert agierte. Ich hätte auch überhaupt keine Chance gehabt, zur Besinnung zu kommen. Auf einmal waren unglaublich viele Leute da, die auf mich einredeten und sich um alles kümmerten, was getan und geregelt werden musste. Ständig tauchten Verwandte und Freunde unserer Eltern auf, um die Dinge in die Hand zu nehmen, wie sie erklärten. Dauernd kamen Vertreter irgendwelcher Behörden und Gerichte, die plötzlich für unsere Zukunft zuständig waren, besonders für die meines Bruders.

Mich hat das alles nicht interessiert. Das ganze Mitleidsgefasel, der Begräbniszirkus, die Erbschaftsscheiße und all die Wichtigtuer mit ihren amtlichen Dokumenten, die sie mir unter die Nase hielten. Ich habe einfach zu allem ja gesagt, habe alles unterschrieben, egal, was es war. Alles unwichtig. Meine Eltern hat es nicht wieder lebendig gemacht. Und auch nicht die Bilder vertrieben, die in meinem Kopf entstanden waren und sich dort festgekrallt hatten. Den Feuerball und die beiden zusammengekrümmten, verkohlten Toten, die mich bis in den Schlaf verfolgten, eine fiebrige Bewusstlosigkeit, in die ich zwischendurch immer wieder fiel, erschöpft von Weinkrämpfen und lähmender Trauer.

Und eines Morgens wachte ich auf und alles war vorbei. Etwas in mir hatte den Tod meiner Eltern akzeptiert, hatte von ihnen Abschied genommen, hatte sich mit den Tatsachen abgefunden. Es war, als hätte ich in diesen Wochen mein ganzes Reservoir an Trauer restlos ausgeschöpft. Jedenfalls habe ich seither nie wieder geweint. Um nichts und niemanden.

(Ich denke, meine Frau Doktor Freud hat dafür vermutlich eine ganz andere, komplizierte, hochwissenschaftliche Erklärung. Aber die kann sie sich sonst wohin stecken.)

Schön langsam begann ich mich mit der Situation anzufreunden, in der ich mich nun befand. Ich muss sagen, sie war gar nicht so schlecht. Unsere Eltern waren mit ihrer Unternehmens- und Wirtschaftsberatungskanzlei äußerst erfolgreich gewesen, hatten einen Haufen Geld verdient und Thomas und mir ein kleines Vermögen hinterlassen. Dazu zwei hohe Lebensversicherungen, Vaters geliebtes VW-Cabrio und außerdem die riesige Eigentumswohnung in bester Lage am Stadtrand. Selbst nach Abzug der Erbschaftssteuer mussten wir uns für viele Jahre nicht die geringsten finanziellen Sorgen machen. Deshalb war mir auch vom Gericht ohne Bedenken die Obsorge für meinen Bruder übertragen worden, so dass ich ohne mein Zutun das Versprechen halten konnte, das ich ihm im Zustand völliger Verwirrung gegeben hatte: Wir blieben zusammen und konnten weiter in unserer Wohnung leben. Thomas würde weiterhin zur Schule gehen. Und ich würde mein Jusstudium fortsetzen, und zwar ganz bequem und ohne den Leistungsdruck, unter den mich mein Vater bisher gesetzt hatte. Alles bestens, dachte ich.

Wie hätte ich wissen können, dass Thomas zu diesem Zeitpunkt längst begonnen hatte, in seine persönliche Hölle abzudriften?

Ich hatte ja auch kein Problem damit, wie er sich verhielt. Dass er sich geweigert hatte, zum Begräbnis mitzukommen. Dass er oft stundenlang in seinem Zimmer saß und nur stumm vor sich hinstarrte, bis er plötzlich aufsprang, durch die Wohnung rannte und wütend gegen Türen und Möbel trat, als hätten sie ihm etwas getan. Selbst als ich entdeckte, dass er aus unseren Fotoalben alle Bilder, die ihn zusammen mit unseren Eltern zeigten, herausgerissen und in kleine Stücke zerfetzt hatte, selbst da machte ich mir keine großen Gedanken. Ich hielt das einfach für seine verzweifelte und unbeholfene Art, mit dem Tod von Vater und Mutter fertig zu werden.

Ein paar seiner Aktionen waren natürlich schon extrem. Einmal hatte er sämtliche Kleidungsstücke unserer Eltern auf der Terrasse auf einen Haufen geworfen, und ich konnte ihn nur davon abhalten, sie anzuzünden, indem ich ihm versprach, ich würde sie demnächst von der Altkleidersammlung abholen lassen. Ein anderes Mal ertappte ich ihn dabei, wie er mit einem Küchenmesser auf einen Hinterreifen von Vaters Cabrio einstach. Und er hört erst damit auf, als ich erklärte, dass das jetzt nicht mehr Vaters, sondern mein Auto sei.

Aber was hätte ich tun sollen? Ihm Vorwürfe machen? Im Grunde tat mir Thomas nur leid. Und ich meinte sogar zu verstehen, dass er auf seinen Verlust wohl nicht anders reagieren konnte als mit Aggression. Irgendwann würde er sich schon wieder beruhigen, dachte ich. Ein Dreizehnjähriger braucht eben mehr Zeit, um damit klarzukommen, was geschehen ist. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich die Situation völlig falsch eingeschätzt hatte.

Heute weiß ich, es hatte einen Moment gegeben, in dem ich durchaus hätte erkennen können, was in Thomas wirklich vorging. Einen Augenblick, in dem ich anders reagieren hätte müssen als mit meinem verständnisvollen Lächeln, hinter dem ich mich damals aus Unfähigkeit und Bequemlichkeit verschanzt hatte. Meinem blöden, brüderlich solidarischen Grinsen, das Thomas immer nur als Zeichen meiner Zustimmung interpretiert hatte.

Wir saßen im Auto. Ich brachte Thomas zur Schule und wir waren spät dran. Verkehrsstau, ständig rote Ampeln. Ich war genervt und hatte einfach keinen Kopf dafür, was Thomas vor sich hinmurmelte. Irgendwas über einen Lehrer, der ihn hassen und deshalb immer viel zu streng prüfen würde. Die übliche faule Schülerausrede, die ich schon aus meiner eigenen Schulzeit kannte. Doch im gleichen Atemzug fügte er dann hinzu, dass er sich ohnehin schon längst daran gewöhnt hätte, gehasst zu werden.

„Ma und Pa haben mich auch gehasst“, sagte er.

„Du spinnst“, sagte ich.

„Ich war nur eine Belastung für sie“, fuhr er fort. „ Eine außergewöhnliche Belastung, weil ich nicht so bin, wie sie es sich gewünscht haben.“

Ein Radfahrer zwängte sich vor mein Auto.

„Verzieh dich, du Arschloch!“

„Ich weiß genau, dass sie mich so genannt haben.“

„Jetzt fahr endlich, Idiot!“

„Unsere kleine außergewöhnliche Belastung. Unser Minuswachstum. Und dann haben sie gelacht.“

„Soll ich dich über die Kreuzung tragen, oder was?“

„Ich war für sie einfach eine Enttäuschung. Und deshalb haben sie mich gehasst.“

„Du spinnst wirklich“, wiederholte ich. „Unsere Eltern haben dich geliebt!“

„Und warum sind sie dann abgehauen?“

„Abgehauen?“

„Ja, abgehauen.“

„Sie sind nicht abgehauen, Tommi. Sie sind tot. Es war ein Unfall. Ein ganz, ganz schrecklicher Unfall.“

Thomas schüttelte den Kopf.

„Abgehauen, einfach abgehauen sind sie. Damit sie mich los sind. Weil sie mich gehasst haben.“

„In Ordnung. Wenn du ohnehin alles besser weißt.“

Ich musste scharf bremsen, ein Taxi hatte mir die Vorfahrt genommen.

„Sind denn heute nur Volltrottel unterwegs?“

Thomas öffnete die Tür und stieg aus.

„Ich glaub, zu Fuß bin ich schneller. Also dann.“

Ich winkte ihm zu und lächelte wie üblich.

„Alles klar, Tommi. Und lass dich nicht unterkriegen von den bösen Menschen. Am besten, du hasst sie auch!“

Das sollte ein Scherz sein. So, wie es natürlich auch immer nur ein Scherz gewesen war, wenn unsere Eltern den Nachzügler, das Kind, das sie noch im reiferen Alter völlig unerwartet bekommen hatten, überglücklich mit Bezeichnungen aus ihrem Finanzberatungsfachchinesisch bedachten. Als überraschenden Bilanzgewinn oder kleine Extradividende. Und in letzter Zeit eben manchmal auch besorgt als außergewöhnliche Belastung oder Minuswachstum. Wie hätten sie auch nur ahnen können, was sie damit in Thomas auslösten, der diese Worte nicht so verstand, wie sie gemeint waren, nämlich einfach als Kosenamen, vielleicht unüblich und unpassend, doch deshalb nicht weniger liebevoll und zärtlich.

Aber Thomas redete nie mehr über dieses Thema, und so sah auch ich keine Veranlassung, es jemals wieder zur Sprache zu bringen.

Um ehrlich zu sein, ich tat auch sonst kaum etwas von dem, was man von mir in meiner neuen Rolle als Elternersatz vermutlich erwartet hatte. Einfach ausgedrückt, beschränkte ich meine Sorgepflicht darauf, dafür zu sorgen, dass immer genügend Fertigpizza und Cola im Kühlschrank war. Und dass Thomas morgens rechtzeitig aufstand und zur Schule ging. Alles andere regelte ich mit großzügig bemessenem Taschengeld. Das war’s. Und das schien auch prima zu passen.

Wer wollte mir daraus einen Strick drehen? Bitte, ich war damals gerade einmal dreiundzwanzig! Da interessierte mich das Seelenleben eines kleinen Spinners herzlich wenig. Solange er mir damit nicht auf die Nerven ging, sollte er doch denken, was er wollte.

Thomas machte auch keinen Ärger mehr. Gut, in der Schule gab es einmal ein Problem, weil er sich geweigert hatte, in einem Aufsatz den Beruf seiner Eltern zu beschreiben und stattdessen nur ein leeres Blatt abgegeben hatte, auf dem ein einziger Satz stand: Ich hasse meine Eltern. Da wurde ich zum Direktor gebeten, aber nachdem ich erklärt hatte, dass Tomas einfach den Tod unserer Eltern noch nicht verarbeitet habe, war die Geschichte erledigt. Man versprach sogar, Thomas besonders viel Verständnis und Nachsicht entgegenzubringen. So lief dann lange Zeit auch wirklich alles ganz passabel.

Und dann kam Roswitha. Ungefähr ein Jahr später. Die schöne, wunderbare, eigenwillige, vielleicht ein bisschen verrückte Roswitha. Und mit ihr kam eine Zeit, in der es sogar ganz phantastisch lief.

Ich hatte Roswitha auf einem Studentenfest kennengelernt. Sie war Südtirolerin, studierte im vierten Semester Kunstgeschichte, und ich verliebte mich sofort in ihr hinreißendes Lachen. Roswitha war das faszinierendste weibliche Wesen, das mir bis dahin in meinem Leben begegnet war. Spontan, herzlich, gescheit, impulsiv. Einfach irgendwie anders. Und nicht nur wegen ihrer dunklen, feurigen Augen und ihrer unglaublich roten, unglaublich langen, unglaublich gelockten Haarpracht eine Frau, die man nur als Superweib bezeichnen konnte. Ein echter Glücksfall, dass auch sie sich sofort in mich verliebt hatte, wie sie mir schon nach ein paar Tagen gestand.

Wir waren noch keine vier Wochen zusammen, da machte ich ihr schon den Vorschlag, zusammenzuziehen. Ohne lang zu überlegen, sagte sie ja, zog aus ihrem überteuerten WG-Zimmer aus und mit Sack und Pack in meine Wohnung ein. Fairerweise hatte ich sie mit ein paar Andeutungen vor meinem Bruder und seinen möglichen Macken gewarnt, aber das hatte sie nur mit einem Schulterzucken abgetan: „Wer einmal in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, hält alles aus.“

Meine Sorge war unbegründet. Thomas war von Roswitha begeistert. Vor allem, weil sie mich schon nach wenigen Tagen dazu überredete, die Wohnung komplett neu einzurichten. Mir hatten die pseudobarocken Möbel und die grüngoldenen Biedermeierblümchentapeten ohnehin nie gefallen, und so schmissen wir den ganzen Krempel kurzerhand raus, ließen sämtliche Wände weiß streichen und füllten dann einen Raum nach dem anderen mit den Objekten, die zu der Zeit als modernes Wohndesign galten. Eine Orgie aus gebogenem Stahlrohr, naturweißem Leinen, hellem Leder und rauchfarbenem Acrylglas. Ich konnte es mir ja leisten. Und Thomas fand es ganz einfach „unheimlich cool“ und strahlte übers ganze Gesicht. Ich bezweifle allerdings, dass es ihm wirklich gefallen hat. Er war wohl eher nur glücklich darüber, dass nun in der ganzen Wohnung wirklich überhaupt nichts mehr an unsere Eltern erinnerte.

Als Roswitha dann auch noch mit dem Vorschlag kam, die Wände doch ein bisschen bunter, kreativer, origineller zu gestalten, und gleich mit einem Dutzend Farbspraydosen anrückte, war Thomas völlig aus dem Häuschen. Ich war anfangs zwar etwas skeptisch, aber weil ich in meiner Verliebtheit letzten Endes alles großartig fand, was Roswitha tat, sah ich grinsend zu, wie sie und mein Bruder sich an den Wänden austobten und sie mit knallbunten Graffitis überzogen. Zuerst etwas ungeschickt, doch bald immer perfekter, wobei vor allem Roswitha ganz erstaunliche Kompositionen aus Farben und Formen zustande brachte.

Mein Talent hielt sich eher in Grenzen, wie ich nach ein paar kümmerlichen Versuchen feststellen musste. Und Thomas war meiner Meinung nach völlig unbegabt. Aber er war mit Feuereifer bei der Sache und fabrizierte wie in Trance einen hässlichen Farbfleck und einen wirren Krakel nach dem anderen. Also tat ich so, als würden mir seine Klecksereien gefallen, und Roswitha nannte ihn sogar „unser kleiner Henri Toulouse-Lautrec“ und erzählte Thomas von dem Franzosen, der trotz seiner Kleinwüchsigkeit eines der größten Malergenies gewesen war. (Ich bin übrigens davon überzeugt, das waren die Wurzeln von Thomas’ späterem Hirngespinst, ein großer Künstler zu sein.)

Doch nicht nur Thomas und Roswitha waren offensichtlich unheimlich happy, vor allem ich hatte das Gefühl, vor Glück fast platzen zu müssen. Mag sein, dass ich es mir nur einbildete, weil ich dachte, nach der ganzen Scheiße, die hinter mir lag, hätte ich eine Glückssträhne wirklich verdient. Oder dass ich bloß ausgehungert war nach Liebe, Unbeschwertheit und hemmungslosem Sex und deshalb nichts anderes im Sinn hatte, als all das mit Roswitha zu genießen, ungezügelt und blind vor Gier. Gut, vielleicht war ich ein Narr. Aber dann war ich ein glücklicher Narr.

Es war ja auch der reine Wahnsinn. Die Graffitis wucherten über die Wände, in der Wohnung hing ständig der Geruch von Farbspray, auf dem Küchenboden türmten sich die Schachteln vom Pizza-Express und vom Chinesen neben Coladosen und Rotweinflaschen, überall hingen oder lagen irgendwelche Kleidungsstücke herum, Roswithas Kunstgeschichtebücher und Skripten stapelten sich rund um unser Bett, und mitten in diesem laut Roswitha „herrlichen süditalienischen Chaos“ lebten wir auf Teufel komm raus. Das heißt, wir vögelten uns die Seele aus dem Leib, wann immer es ging.

Und wenn sie auf mir saß und sich wand und ihren Kopf vor- und zurückwarf und ihre rote Löwenmähne im Gegenlicht aussah, als würde sie brennen, dachte ich, die ganze Liebe und die ganze Lust, die es auf der Welt gibt, wären in diesem Augenblick nur für uns allein entflammt. In diesem Rot, diesem Vulkan von Rot, in dem ich am liebsten verglüht wäre. Gott, war ich verrückt nach diesem Haar!

Ich war regelrecht süchtig nach Roswitha und konnte es kaum erwarten, dass sie von der Uni nachhause kam oder eine Pause einlegte, wenn sie über einer Seminararbeit saß. Um wenigstens in ihrer Nähe zu sein, wenn ich nicht mit ihr schlafen konnte, ließ ich sogar das Jusstudium sausen, inskribierte Kunstgeschichte und hing mit Roswitha in Vorlesungen herum, von denen ich höchstens ein Zehntel verstand. Oder ich assistierte bereitwillig, indem ich ihr die Spraydosen reichte, wenn sie sich wieder einmal gemeinsam mit Thomas an einer Zimmerwand künstlerisch verwirklichte. Und ich fand alles witzig, was sie witzig fand, und bog mich vor Lachen, wenn sie sich vor Lachen krümmte. Noch nie in meinem Leben hatte ich so viel gelacht.

Wir lachten über alles. Über unsere ungesunden Essensgewohnheiten und dass keiner von uns imstande war, in unserer Luxusküche etwas Vernünftiges zu kochen. Über zerbrochene Gläser und in der Waschmaschine verfärbte Wäschestücke. Über jede neue Stellung, die wir im Bett ausprobierten. Und sogar als wir bemerkten, dass sich Thomas mit seinen inzwischen fünfzehn Jahren offenbar ebenfalls in Roswitha verknallt hatte, fanden wir das nur unglaublich amüsant. (Diese hilflose Verliebtheit war übrigens neben der kicksenden Stimme und der unreinen Haut das einzige Zeichen seiner beginnenden Pubertät, die Wachstumshormone hingegen streikten nach wie vor.)

Es war fast rührend, als er einmal verträumt zu uns sagte: „Ihr seid vollgeil.“ Und sich nach kurzem Nachdenken verbesserte: „Wir sind vollgeil!“ Und gleich darauf verlegen: „Ich meine, unser Leben und so.“

Doch ein anderes Mal beobachteten wir ihn, wie er sich ins Badezimmer schlich, von einem Haufen Schmutzwäsche einen von Roswithas Slips klaute, verzückt an ihm schnüffelte, ihn an sein pickeliges Gesicht drückte und dann schnell damit in sein Zimmer verschwand.

Und mehr als einmal verriet uns sein kaum unterdrücktes Stöhnen, dass er in der Nacht vor unserer Schlafzimmertür stand und uns belauschte. Auf meine Frage, ob sie das stören würde, meinte Roswitha nur: „Was soll der Kleine denn sonst machen? Irgendwie muss er sich ja abreagieren.“ Dazu kicherte sie und machte eine eindeutige Handbewegung. „Lass ihm doch seinen Spaß!“ Und dann lachten wir und probierten wieder eine neue Stellung aus, und obwohl Roswitha meilenweit von einem Orgasmus entfernt war, stieß sie ganz besonders laute Lustschreie aus.

Am Morgen darauf, wenn Thomas wieder blass und unausgeschlafen am Frühstückstisch saß und lustlos an einem kalten Stück Pizza vom Vortag kaute, wuschelte ihm Roswitha einfach grinsend die Haare, fragte scheinheilig „Na, was Schönes geträumt heut Nacht?“ – und schon strahlte er übers ganze Gesicht.

Es gab aber auch Zeiten, in denen wir getrennt waren. Wenn Roswitha an einer kunsthistorischen Exkursion teilnahm oder auf eigene Faust irgendwelche Tizians, Tintorettos und Archimboldos im Original studieren wollte. Doch da war sie dann immer nur ein paar Tage weg, das war auszuhalten.

Schlimmer waren die Weihnachts- und Sommerferien. Die verbrachte Roswitha regelmäßig bei ihrer Familie in Südtirol und wollte partout nicht, dass ich sie begleitete. „Das bisschen Abstand tut uns nur gut“, sagte sie. „Das hält die Beziehung frisch.“

Es war zwar jedes Mal eine echte Durststrecke, aber Roswitha hatte Recht: Immer wenn sie wiederkam, liebte ich sie ein bisschen mehr. Das galt auch für Thomas, der während Roswithas Abwesenheit stets noch missmutiger und gelangweilter als ich in der Wohnung herumgesessen war, stundenlang zwischen den Fernsehkanälen herumgezappt oder die Zeit totgeschlagen hatte, indem er an die Wände seines Zimmers mit Filzstift Zeichnungen und Sprüche kritzelte, die man sonst nur in öffentlichen Toiletten findet. Irgendwann gekrönt von einem riesigen, knallbunten, gar nicht so ungeschickt gesprayten FUCK! über seinem Bett. Und Roswitha fand es großartig und lachte.

Fuck! Fuck! Fuck!

Auf den Tag genau drei Jahre, nachdem ich Roswitha auf dem Studentenfest kennengelernt hatte, hätte auch ich dieses Wort am liebsten auf alle Wände geschmiert. Fassungslos, empört, wütend.

Fuck! Fuck! Fuck!

Mir war das Lachen vergangen. Auf einen Schlag.

Ein paar Tage zuvor hatte Roswitha mir strahlend mitgeteilt, dass sie ihr letztes großes Examen bestanden habe. Und zwar mit Bravour! (Ich muss zugeben, ich hatte von ihrem Prüfungstermin überhaupt nicht gewusst, entweder hatte ich ihn vergessen, oder Roswitha hatte ihn vor mir aus irgendeinem Grund geheim gehalten.)

Ihr Erfolg und unser dritter Jahrestag – gleich zwei Anlässe zum Feiern, hatte ich gedacht und wollte sie mit einem richtig schönen Festessen überraschen. Zur Abwechslung einmal kein Chinesenfutter, keinen Italienerfraß. Sondern Kaviar, Lachs, Wachteleier und was es sonst noch so an Köstlichkeiten gibt. Und natürlich kam nur Champagner in Frage. Also hatte ich den halben Tag sämtliche Delikatessenläden der Stadt abgegrast und alles eingekauft, was gut und teuer war. Je teurer desto besser, denn schließlich sollte es ja die perfekte Überraschung werden.

Doch als ich mit Einkaufstüten bepackt nachhause kam, war ich es, der eine Überraschung erlebte. Eine Überraschung der anderen Art. Eine Überraschung, die mir das Blut in den Kopf trieb, mir die Kehle zuschnürte und meine Knie schwach werden ließ: Roswitha war fort.

Zuerst spürte ich es. Dann sah ich es. Schließlich begriff ich es. Alle ihre Sachen waren weg. Ihre Kleider, ihre Bücher, ihre Skripten, ihr Kosmetikzeug, alles. Roswitha hatte die Wohnung verlassen. Roswitha hatte mich verlassen.

Ich wusste es und wollte es trotzdem nicht glauben. Sie kommt wieder, redete ich mir ein. Sie will bloß ihre alten Sachen loswerden, radikal mit allem aufräumen, was mit ihrem Studentenleben zusammenhängt, sich völlig neu stylen, neue Frisur, neues Outfit, neues Lebensgefühl. Und demnächst wird sie zur Tür hereinkommen, sich vor mir wie ein Model auf dem Laufsteg um die eigene Achse drehen, lachen und rufen: „Na, wie gefällt dir deine neue Roswitha?“ Genau so wird es sein, ganz sicher, so und nicht anders.

Dann fand ich den Zettel auf meinem Bett. Ein kleines, kariertes, aus einem Notizheft gerissenes Blatt Papier. Und darauf ein paar Zeilen in Roswithas typischer, leicht nach links geneigter Schrift.

War eine nette Zeit mit dir in deiner tollen Wohnung, Markus. Kein Vergleich mit den Löchern, in denen man sonst so hausen muss, wenn man studiert und wenig Geld hat. Da hat es bei dir schon mehr Spaß gemacht. Und du hast ja auch was davon gehabt, oder? Aber das war’s jetzt. Und ich mach’s lieber schnell und schmerzlos. Nimm es nicht zu schwer. Am besten, du lachst drüber, weil mit Lachen hält man auch die größte Scheiße aus. Mach’s gut und ein schönes Leben noch.

Ciao, R.

P.S.: Ich denke, den Schmuck hab ich mir in den vergangenen drei Jahren verdient. Allein schon damit, dass ich Tommi ertragen hab. Aber sag das dem kleinen Spinner lieber nicht, der dreht sonst bestimmt durch.

Das war alles. Das war Roswithas Abschied. Genau diese Sätze. Ich weiß sie noch heute. Wort für Wort. Solche Sätze vergisst du nicht, wenn du sie hundertmal lesen musst, um sie zu kapieren.

Es wollte mir einfach nicht in den Kopf. Hatte ich mich so in Roswitha getäuscht? Hatte sie mir jahrelang mit eiskalter Berechnung Liebe vorgespielt? Hatte sie bloß gratis bei mir wohnen wollen und sich von mir aushalten lassen, hatte sie auf meine Kosten ein sorgloses Leben geführt und teure Kunstreisen gemacht und mir dafür ihre Fotze hingehalten? Waren diese Kunstreisen, war das ganze Kunststudium vielleicht sogar nur Show gewesen, nichts als Tarnung, perfekt durchgezogen, und Roswitha hatte sich bloß mit meinem Geld vergnügt? War ich tatsächlich so ein Idiot, der auf eine ganz raffinierte Hure hereingefallen war? Eine Edelhure, die einfach ihr Geschäft erstklassig verstand? War ich ein Volltrottel, dem sie zu guter Letzt auch noch aus seiner Schreibtischschublade die Schatulle mit dem Schmuck seiner Mutter geklaut hatte, das Collier mit dem Schmetterling aus Rubinen und Brillanten, den Ringen mit den Zweikarätern und den Platinarmreifen? War ich wirklich nichts als ein verliebter, blinder Depp gewesen, der jetzt für seine Geilheit bezahlen musste?

Fuck! Fuck! Fuck!

Etwas war vollkommen klar: Das war keine spontane, unüberlegte Aktion gewesen, nur so aus irgendeinem plötzlichen Frust heraus. Nein, Roswitha musste das schon lange gut vorbereitet und organisiert haben, anders hätte sie es nicht geschafft, innerhalb weniger Stunden ihr ganzes Zeug zusammenzupacken und damit zu verschwinden. Irgendwer musste ihr dabei geholfen haben, egal, ob es nun der Taxifahrer war oder eine gute Freundin oder ein Freund, von denen ich keine Ahnung hatte. So, wie ich offensichtlich überhaupt nur wenig Ahnung hatte von allem, was Roswitha betraf. Keine Ahnung, wo genau in Südtirol ihre Familie lebte. Keine Ahnung, ob diese Familie vielleicht auch nur erlogen war. Keine Ahnung, wo sich Roswitha aufhalten, keine Ahnung, wen ich nach ihr fragen, keine Ahnung, wo ich nach ihr suchen könnte.

Und keine Ahnung, wie ich das alles jetzt Thomas beibringen sollte.

Es war wie vor vier Jahren. Nur dass jetzt die schlechte Nachricht nicht von zwei Polizeibeamten überbracht wurde, sondern bloß auf einem kleinen Notizzettel stand, einem schäbigen Stück Papier, das ich rasch zusammenknüllte und in meine Hosentasche steckte, als ich Thomas nachhause kommen hörte. Und dass Thomas jetzt siebzehn war, ein Siebzehnjähriger, der so aussah, als würde er im Körper eines Elfjährigen stecken. Aber er war eben kein Kind mehr und auch nicht dumm. Er bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, lief durch die Wohnung, sah, dass Roswithas Sachen nicht mehr da waren – und dann reagierte er wie damals: Er blickte mich mit versteinertem Gesicht an, nickte ein paar Mal schweigend, verschwand in sein Zimmer und drehte die Stereoanlage bis zum Anschlag auf.

Diesmal konnte ich es nicht ertragen. Ich hielt das Stampfen und Dröhnen der Bässe nicht aus. Es war, als würde ein Hammer auf meinen Kopf schlagen. Bam-bam-bam-Arsch-loch-blö-des-bam-bam-bam-Arsch-loch-blö-des-bam-bam-bam … pausenlos, stupid und voll Hohn.

Ich musste raus aus der Wohnung, nichts wie raus. Rannte ziellos durch die Stadt. Falsch. Nicht ziellos, sondern wie ein Hund, ein Spürhund, ein Jagdhund auf der Fährte eines flüchtenden Tieres. Wieder falsch. Wie ein Jagdhund, der die Fährte verloren hat und jetzt verzweifelt versucht, wieder Witterung aufzunehmen. Ich suchte Roswitha. Etwas sagte mir, dass sie noch in der Stadt sein musste.

Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wo ich Roswitha finden könnte. Ihre ehemaligen Studienkollegen zuckten bloß ratlos mit den Schultern. In ihrer früheren WG wohnten andere Leute. In der Evidenzstelle der Uni wollte man mir keine Auskunft geben.

Mein Kopf wusste, dass diese Suche sinnlos war, aber mein Bauchgefühl war stärker und trieb mich durch die Gassen und Lokale der Altstadt. Hetzte mich weiter und weiter mit einer Mischung aus Zorn und Enttäuschung, jagte mich kreuz und quer und im Kreis, immer und immer wieder, stundenlang, bis spät in die Nacht. Dabei war mir nicht einmal klar, was ich eigentlich von Roswitha wollte. Sie zur Rede stellen? Sie anflehen, wieder zu mir zurückzukommen? Ihr meine Wut und meine Verachtung ins Gesicht schleudern?

Es war lange nach Mitternacht, als ich nachhause kam und in mein Bett kroch, erschöpft und aufgewühlt zugleich. Jetzt war es mein Herz, das Schlagzeug spielte und hart und unerbittlich hämmerte, als schlüge jemand mit der Faust gegen eine Tür, und in meinen Schläfen pochte das Blut: bambam-bambam-du-Arsch-du-Arsch-bambam-bambam-du-Arsch-du-Arsch … Und erst eine Schlaftablette ließ mich in eine bleierne Bewusstlosigkeit fallen.

Für die Magenschmerzen und das Gefühl der Leere, mit denen ich am späten Vormittag aufwachte, gab es allerdings noch einen ganz anderen Grund: Ich hatte seit bald sechsunddreißig Stunden nichts gegessen. Nicht den kleinsten Bissen hatte ich zu mir genommen, während in der Küche die Delikatessen in den Einkaufstüten vergammelten. Doch schon allein vom Gedanken an Essen wurde mir speiübel. Mein Magen krampfte sich zusammen, und Sekunden später kniete ich vor der Kloschüssel und erbrach einen scharfen, säuerlich riechenden, gelbgrünen Schleim. Immer wieder würgte ich dieses undefinierbare Etwas aus mir heraus, ich konnte kaum mehr atmen, und der Schweiß trat mir aus sämtlichen Poren. Als wollte mich mein Körper mit aller Macht dazu zwingen, alles auszukotzen: den vergangenen Tag, die letzte Nacht, alles, was geschehen war, und vor allem Roswitha. Auskotzen, loswerden und dann nie mehr daran denken müssen!

Als ob es so leicht wäre, sich von der Scheiße zu trennen, die passiert ist. Sich hinterher den Mund ausspülen, und dann ist alles so, als wäre nichts gewesen – was für ein verführerischer Gedanke. Nur, so funktioniert es nicht. Die Taktik des Körpers, sich zu entgiften, ist nicht die Taktik der Seele, stimmt’s, Frau Doktor Freud?

(Übrigens, die Übelkeit und die Brechattacken waren damals geradezu harmlos im Vergleich zu heute. Ob das nur an der Chemotherapie liegt? Oder auch daran, dass sich im Lauf meines Lebens noch viel mehr Scheiße angesammelt hat? Nein, jetzt kommt nicht der unsinnige Satz: Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich vieles anders gemacht. Denn das würde ja bedeuten, dass man immer nur vernünftig handelt und nie gedankenlos oder in der Hoffnung, es würde schon gut gehen.)

Außerdem ist das Vernünftige durchaus nicht automatisch auch das Richtige. Was nicht heißt, dass ich über den Unterschied zwischen vernünftig und richtig nachgedacht hätte, als ich nach meinem Brechanfall schweißgebadet und zittrig in die Küche schlich, um mit einer Tasse Kaffee wenigstens meinen Kreislauf wieder in Schwung zu bringen. Im Gegenteil, ich war überhaupt nicht fähig, über irgendetwas nachzudenken. Deshalb war es mir auch völlig egal, dass Thomas in der Küche saß, obwohl er um diese Zeit eigentlich in der Schule sein sollte. Und es war mir auch egal, dass er mich mit angeekeltem Gesicht betrachtete und sich nach ein paar Minuten mit den Worten: „Entschuldige, aber du stinkst“, in sein Zimmer verzog. Alles war mir egal, weil ich aus nichts anderem bestand als aus meinem Magen, der nun schon wieder zu revoltieren begann und mich auf die Toilette trieb.

Kotzen, schlafen, kotzen, schlafen. Damit verbrachte ich den Rest des Tages. Am Abend meldete sich dann endlich mein Verstand wieder zurück. Gerade rechtzeitig, denn auf einmal stand Thomas neben meinem Bett und sagte: „Nur damit du es weißt: Ich schmeiß’ die Schule.“

„Du spinnst wohl“, sagte ich. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Hat doch alles keinen Sinn“, sagte er. „Ohne Roswitha.“

„Was hat denn Roswitha mit der Schule zu tun“, fragte ich.

„Darum geht’s nicht.“

„Um was dann?“

„Dass man mir immer alles kaputt macht. Alles, was gut ist. Alles nimmt man mir weg.“

„Was zum Beispiel?“

„Roswitha“, flüsterte Thomas. „Die hat uns doch irgend so ein Arsch weggenommen, oder?“

„Weggenommen?“

„Ja, ausgespannt, überredet, uns zu verlassen, obwohl sie uns liebt, was weiß ich. Nur um zu zeigen, wer der Stärkere ist. Der Größere. Ich kenn’ das.“

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Zuerst der Irrsinn mit Roswitha, und jetzt bildete sich Thomas auch noch ein, irgendein Typ sei schuld an ihrem Verschwinden. Irgendein bösartiger Unmensch, der ihm damit persönlich Schaden zufügen wollte.

Was hätte ich tun sollen? Thomas die Wahrheit sagen? Ihm den Zettel zu lesen geben, der noch immer in meiner Hosentasche steckte? Seine Illusionen in Bezug auf Roswitha brutal zerstören? Oder lügen, um ihn wenigstens davon abzubringen, sich seine Zukunft zu versauen, wenn er ein Jahr vor der Reifeprüfung die Schule abbrach? Vernünftig oder richtig?

„Red’ keinen Schwachsinn“, sagte ich. „Roswitha ist nicht weg. Sie musste bloß ganz überraschend zu ihrer Familie. Ihr Vater liegt im Sterben.“

Thomas sah mich ungläubig an. „Und warum hat sie dann ihre ganzen Sachen mitgenommen?“

„Weil sie nicht weiß, wie lang sie bleiben muss, ist doch klar. Aber in ein paar Wochen ist sie wieder da.“

„Sicher?“

„Ganz sicher, Tommi. Verlass dich drauf.“

„Okay“, sagte Thomas. „Okay. Wenn du das sagst …“

Weiß der Teufel, wieso, aber Thomas glaubte mir wieder jedes Wort, vertraute mir blind. Ich belog ihn ein ganzes Jahr lang. Behauptete immer wieder, Roswitha habe angerufen und freue sich schon darauf, bald wieder bei uns zu sein. Erfand ständig neue Familientragödien, Krankheiten und Unfälle, die Roswithas Rückkehr verzögerten. Und ich machte erst damit Schluss, als Thomas alle Prüfungen geschafft hatte, zwar nur mit Ach und Krach, aber immerhin. Da erzählte ich ihm dann, dass Roswitha und ich vereinbart hätten, ihn mit ihrer Rückkehr zu überraschen. Und darum sei sie vor zwei Tagen in den Nachtzug nach Salzburg gestiegen, doch als ich am Bahnsteig gestanden sei, um sie abzuholen, hätte ich mir vergeblich nach ihr die Augen ausgeschaut. Roswitha sei einfach nicht dagewesen, sei nie in Salzburg angekommen, niemand wisse, wo sie sein könnte, es sei unerklärlich, aber sie sei verschwunden, keine Spur, kein Kontakt, kein Lebenszeichen, unauffindbar, einfach verloren gegangen.

Natürlich war das eine haarsträubende Geschichte, aber eine bessere war mir nicht eingefallen. Irgendwie musste ich Roswitha endlich loswerden, und zwar endgültig. Und weil ich Thomas nach der Tragödie mit unseren Eltern nicht auch noch eine tote Roswitha zumuten wollte, schien es mir die beste Lösung zu sein, Roswitha einfach verschwinden zu lassen.

Wieder verzog sich Thomas in sein Zimmer, wieder dröhnten die Bässe. Aber diesmal höchstens eine halbe Stunde lang. Auf einmal stand er vor mir und schrie: „Niemand nimmt mir Roswitha weg! Nicht Roswitha! Hörst du? Nicht Roswitha!“ Dabei wirkte er verzweifelt und gleichzeitig zu allem entschlossen.

Um den Schein zu wahren, spielte auch ich den Verzweifelten, Wütenden, Ratlosen. Das fiel mir leicht, ich musste mich dafür nur an den Zustand erinnern, in dem ich tatsächlich in der Nacht gewesen war, nachdem mich Roswitha verlassen hatte. Es dauerte nicht lang, bis Thomas mit völlig abstrusen Entführungstheorien ankam (jeden Tag eine neue, was ihn zum Glück davon abhielt, tatsächlich etwas zu unternehmen und nach Roswitha zu suchen, und irgendwann hörte er ganz von selber wieder damit auf). Und natürlich hütete ich mich, ihm zu widersprechen. Hauptsache, ich war aus der ganzen Sache endlich heraus.

Das alles habe ich Claudia erzählt, weil ich hoffte, dadurch würde sie wenigstens ein bisschen verstehen, was meinen Bruder zu dem Menschen gemacht hatte, der in ihren Augen nichts als ein Freak war, ein Spinner, ein Versager, ein Schmarotzer und der deshalb in unserer Galerie nichts verloren hatte. Dass sie ihn anders sehen, ihn milder beurteilen würde, wenn ich ihr erklärte, wie alles angefangen hatte.

Doch Claudia blieb bei ihrer ablehnenden Haltung. „Andere Kinder verlieren auch ihre Eltern und bleiben trotzdem normal“, sagte sie. „Andere Kleinwüchsige entwickeln gerade deshalb ein besonders ausgeprägtes Selbstbewusstsein, statt ihr Leben lang den hilfsbedürftigen kleinen Bruder zu spielen oder sich in eine Märchenwelt aus Gut und Böse zu flüchten. Und wenn alle Menschen auf ihre hoffnungslose erste Liebe fixiert bleiben würden, die ihnen in ihrer Pubertät feuchte Träume beschert hat, dann wäre die Menschheit schon ausgestorben. Thomas muss endlich erwachsen werden und allein klarkommen. Euer Großer-Bruder-Kleiner-Bruder-Spiel ist absolute Scheiße, sag ich dir!“

Aber irgendwann gab sie auf und sagte gar nichts mehr.

Lang, viel zu lang, wollte ich einfach nicht wahrhaben, dass Claudia Recht hatte. Wäre ich auch einer von denen, die davon überzeugt sind, dass sich die Welt nur um sie dreht, würde ich jetzt behaupten: Das Universum hat sich ganz gewaltig angestrengt, um mich endlich zur Einsicht zu zwingen. Immerhin hat es dafür auf einen Schlag Tanjas Selbstmordversuch, die arktische Kaltfront und das nächtliche Eis-Chaos auf den Straßen aufgeboten, die mich zuerst ins Schleudern, danach in die Notaufnahme, dann auf den Operationstisch und schließlich ins Krankenbett in der Unfallchirurgie gebracht hatten. Das Bett, an dem nun schon wieder mein Bruder saß und auf mich einredete, sein Gesicht ganz nah an meinem, so dass ich seinen Atem riechen musste, einen scharfen, säuerlichen, weingeschwängerten Gestank, der jedes Wort begleitete, während er mir mit weinerlicher Stimme die Ohren volljammerte wie ein kleines Kind. Mama Mama Mama.

Hört das denn niemals auf, dachte ich. Bin ich dazu verdammt, für den Rest meines Lebens in einem Krankenzimmer zu liegen, mit einer pochenden, brennenden Naht auf meiner Stirn, mit einem Kopfverband, der meine Augen fast zur Gänze bedeckt, mit Menschen, die mich „Eispatient zweihundertvier“ nennen und das wohl für einen guten Witz halten, und mit der nervtötenden Stimme meines Bruders? Meines Bruders, dem es völlig gleichgültig zu sein scheint, wie ich mich fühle, und der pausenlos nur über sich und Tanja redet und über das Schwein, das ihr Leben zerstört hat, die Sau, die schuld ist an Tanjas Depressionen und daran, dass sie sich umbringen wollte.

In einem fort die gleiche Leier, die gleiche Geschichte, immer und immer wieder. Wie es ihn wie der Blitz getroffen hatte, als er Tanja in der Galerie zum ersten Mal sah. Wie glücklich sie waren bis zu dieser Nacht zwei Wochen nach ihrer Hochzeit. Wie großartig ihr Leben war bis zu dieser Nacht – dieser schicksalhaften Nacht, in der Tanja nicht nachhause kam. Wie schrecklich sie aussah, als sie am frühen Morgen endlich wieder auftauchte. Wie verändert sie war, wie verstört, wie verletzt. Wie beharrlich sie sich weigerte zu erzählen, was passiert sei. Wie sie sich ihm auf einmal jedes Mal entzog, wenn er sie in die Arme nehmen wollte, und immer stiller wurde, immer abweisender, immer fremder, immer kälter. Wie sie sich völlig in sich verkroch, mit allen anderen Menschen nichts mehr zu tun haben wollte und jeden Kontakt zu ihnen abbrach. Wie sie langsam in eine tiefe Traurigkeit fiel, eine stumme, lähmende Verzweiflung. Und wie er Tanja schließlich doch überredete, zu einem Arzt zu gehen, der aber auch keinen anderen Rat wusste, als ihr Tabletten zu verschreiben, haufenweise Tabletten, die sie wahllos schluckte, um Ruhe zu finden. Und nun sogar, um sich umzubringen.

Und dann, wie das Amen im Gebet, die große Schuldzuweisung, das unausweichliche Lamento über das Böse, das wieder zugeschlagen hat, die Geschichte über das Dreckschwein, das für dieses Unglück verantwortlich war: Die brutale Sau, der Verbrecher, der unbekannte Triebtäter, der in dieser verhängnisvollen Nacht über Tanja hergefallen und sie vergewaltigt haben musste. Es konnte gar nicht anders gewesen sein, auch wenn Tanja es stets abstritt, so tat, als sei nichts gewesen, weil offenbar der Schock ihre Erinnerung an die Vergewaltigung durch ein schwarzes Loch ersetzt hatte oder weil sie betäubt worden war oder ganz einfach nur, weil sie sich dafür schämte. Aber die Vergewaltigung war wirklich geschehen und der Dreckskerl existierte, das war ja wohl völlig klar, und jetzt sollte er endlich bezahlen für das, was er Tanja angetan hat.

„Ich muss dieses Schwein finden, Markus. Unbedingt. Aber allein schaff ich es nicht. Du musst mir helfen. Bitte, hilf mir, Markus. Bitte, hilf mir. Sag, dass du mir hilfst.“

Ich sagte nichts.

Großer Bruder, kleiner Bruder, was für ein Scheißspiel, dachte ich, Scheißspiel Nummer eins. Böser Unbekannter, der schuld am Unglück ist, weil immer irgendwer am Unglück schuld sein muss, Scheißspiel Nummer zwei. Mein halbes Leben habe ich mitgespielt, Tommi, aber nun reicht es. Ein ganzes Jahr lang habe ich für dich eine Roswitha am Leben erhalten, die es zu dieser Zeit in Wirklichkeit gar nicht mehr gegeben hat. Später habe ich ständig Kunstsammler erfunden, die von deinen Bildern begeistert waren. Aber jetzt auch noch einen Vergewaltiger aus dem Hut zaubern, bloß weil du ihn dir einbildest, einen wirklichen Menschen aus Fleisch und Blut finden, nur damit du jemanden hast, den du beschuldigen, anzeigen, anspucken, ihm die Autoreifen aufschlitzen oder weiß der Teufel was sonst noch antun kannst, das, mein kleiner Bruder, das ist eindeutig zu viel verlangt. Bei allem Mitgefühl für dich und deine Tanja, da mach ich nicht mit. Und jetzt sei um Himmels Willen endlich still und verschwinde.

„Halt den Mund“, flüsterte ich. „Lass mich in Ruhe mit deiner Scheiße.“

Aber Thomas redete und redete, und ich wünschte mir, Claudia wäre hier und würde den jämmerlichen Zwerg am Kragen packen und aus dem Zimmer schmeißen.

Kaltfront

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