Читать книгу Gerrit aus Neukölln - Manfred Rehor - Страница 6

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Kapitel 3

Von wegen Praktikum! Für Gerrit gab es Wichtigeres. Ahmed musste über den Überfall informiert werden. Ein Angriff auf einen seiner Leute war noch nie vorgekommen. Jedenfalls nicht, seit Gerrit für ihn arbeitete. Deshalb konnte Gerrit auch nicht abschätzen, wie Ahmed reagieren würde. Hoffentlich blieb der Türke so cool wie immer.

Außerdem hoffte Gerrit, heute wieder einen Brief von seinem Vater zu bekommen. Vielleicht konnte er den Brief diesmal vor Mickeys Zugriff in Sicherheit bringen.

Pünktlich wie gewünscht ging Gerrit von Zuhause los. Er versprach seiner Mutter, ohne Umwege zu dem Praktikumsbetrieb zu gehen. Aber solche Versprechen unter Zwang galten nichts.

Seine Mutter stand am Fenster. Sie winkte ihm nach, als wäre er ein sechsjähriger ABC-Schütze auf dem Weg zur Schule. Kaum war sie außer Sicht, bog Gerrit vom rechten Weg ab. Er ging zu seinem Lieblingsplatz, den Treppenstufen vor dem Rathaus Neukölln. Zwar tat ihm praktisch jede Stelle am Körper weh, aber davon wollte er sich den Tag nicht vermiesen lassen.

Er setzte sich in die Morgensonne, öffnete das Stullenpaket und sah hinein. Margarinebrote, belegt mit Gurkenscheiben. „Gesund und billig“, sagte seine Mutter immer, wenn sie ihm so etwas in die Hand drückte. Gerrit stand auf, spazierte hinunter zum nächsten Papierkorb und warf die Brote hinein.

„Was ist denn mit dir passiert?“, hörte er Janines Stimme hinter sich. Schnell drehte er sich um. Hoffentlich hatte sie nicht mitbekommen, was er gerade getan hatte!

Janine trug trotz des warmen Wetters ihren knallbunten Lieblingspulli. Sie hatte auch ihre blöde Plastikhandtasche dabei, grell rosa mit aufgeklebten Herzchen. Natürlich hütete sich Gerrit, darüber auch nur ein Wort zu verlieren.

„Hallo!“, sagte er und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange. Das Küssen in der Öffentlichkeit war für Janine ein Problem, deshalb musste er sich da zurückhalten. Wie bei so vielem, was sie betraf. Wobei es andererseits einer der Vorteile von Janine war, ihn nicht mit heftigen Gefühlsausbrüchen zu belästigen. Nichts wirkte lächerlicher als Jungs, die von ihren Freundinnen ständig bedrängt und abgeknutscht wurden.

„Was ist passiert?“, fragte sie noch einmal. Sie strich mit dem Finger an einer Schürfwunde entlang, die sich von Gerrits Backe den Hals nach hinten zog.

„Nichts. Ich bin hingefallen“, redete er sich heraus. Natürlich durfte Janine nie erfahren, was er nachts so alles trieb. Sie hatte da ganz eigene Ansichten und hätte sofort mit ihm Schluss gemacht.

Janine ging zu dem lebensgroßen, bunt bemalten Plastikbären, der vor dem Rathaus aufgestellt war. Auch dem wünschte sie einen „Guten Morgen!“

Das war eines der Rätsel, die Gerrit manchmal beschäftigten, wenn er an seine Freundin dachte: Wie konnte sie zu Gegenständen so nett sein, als wären es ihre liebsten Freunde?

Die Gehsteige der Einkaufsstraße wurde allmählich belebter, während der Berufsverkehr nachließ. Die ersten Typen mit Bierflaschen in der Hand sammelten sich vor der Bäckerei gegenüber. Einige kamen auch zu der großen Freitreppe vor dem Rathaus. Sie setzten sich nicht weit von Gerrit entfernt in die Sonne. Janine fürchtete sich vor deren großen Hunden, wie Gerrit sehr wohl wusste. Aber heute jammerte sie nicht deswegen, es war also ein guter Tag.

Doch Gerrits gute Laune hielt nicht lange an. Ausgerechnet jetzt kam eine Nachbarin vorbei: Frau Schmitz, die redseligste alte Schachtel in Berlin und Umgebung. Sie war mindestens sechzig, hager und hatte Krallenhände. In ihr faltiges Gesicht war ihre ganze Gehässigkeit eingeprägt. Aber sie hielt sich noch für jung. Deshalb färbte sie sich Strähnchen ins Haar und fuhr Fahrrad, um fit zu bleiben.

Gerrit betrachtete sich als im Krieg befindlich mit ihr, was Frau Schmitz aber gar nicht auffiel. Sie hielt ihn für einen ganz normalen Rüpel, wie sie seiner Mutter regelmäßig im Treppenhaus erklärte. Rosa ging sogar manchmal zu Frau Schmitz zum Kaffeetrinken. Das war eines der Dinge, die Gerrit sofort abstellen würde, wenn er etwas zu sagen hätte. Aber es gab ja niemand etwas auf seine Ansichten.

Frau Schmitz war auch eine große Petze, die jeden anschmierte, wo sie nur konnte. Gerrit hatte keine Möglichkeit, sich zu verstecken oder abzuhauen. Blieb nur, so zu tun, als würde er sie nicht sehen.

Das nützte natürlich nichts.

„Hallo, Gerrit!“, jubelte Frau Schmitz. Sie war immer begeistert, wenn sie jemanden traf, mit dem sie schwatzen konnte.

Gerrit zog ein saures Gesicht. In spätestens einer Stunde würde Rosa wissen, dass er sein Praktikum schwänzte.

„Ich habe deine Mutter schon lange nicht mehr auf dem Sozialamt und im Jobcenter gesehen“, plapperte die Schmitz weiter.

„Wir bekommen keine Stütze mehr, seit sie diesen Bullen hat.“

„Wen?“

„Den Polizisten. Weil der bei uns wohnt, sind wir kein Sozialfall mehr.“

„Ach, Herrn Schmidt meinst du. Ein netter junger Mann! Das ist ja schön für euch. Beamte verdienen ziemlich gut.“

„Von wegen. Wir haben genauso wenig Geld wie vorher. Wenn die Alte sich schon jemanden ins Bett holt, dann hätte sie sich einen suchen können, der richtig Kohle macht.“ Dieser Spruch hatte Gerrit schon zu lange auf der Zunge gelegen, er konnte ihn nicht zurückhalten. Klar, dass er nach der Äußerung nicht nur die alte Schmitz, sondern auch Janine gegen sich hatte.

„Das gehört sich nicht, über seine Mutter so zu reden“, keifte die Schmitz. „Nun ja, man kennt dich nicht anders. Da ist jedes Wort darüber verloren.“ Sie machte kehrt und ging davon.

„Alte Kuh!“, rief ihr Gerrit hinterher.

Die Schmitz fuhr herum und holte tief Luft zu einer Gardinenpredigt. Aber sie ließ es bleiben, als sie Gerrits grinsendes Gesicht sah. Sie stampfte mit dem Fuß auf und ging weiter. Am Straßengeländer hatte sie ihr Fahrrad festgeschlossen. Nun öffnete sie das Schloss, stieg umständlich auf und wollte losfahren. Aber die Kette sprang ab. Beinahe wäre sie vom Rad gestürzt. Sie schaffte es jedoch, abzusteigen und schob das Rad neben sich her, nachdem sie den Schaden untersucht hatte.

„Du bist gemein“, kommentierte Janine Gerrits lautes Lachen über diesen Vorfall. „Du kannst Räder reparieren. Hilf ihr doch.“

„Der? Nie!“

„Dabei hat sie doch recht. Es ist schön, dass sie sich lieben, deine Mutter und der Polizist.“

„Davon verstehst du nichts. Meine Mutter hätte meinem Vater helfen sollen. Dann wäre er bestimmt in Deutschland geblieben.“

„Vielleicht war sie nicht glücklich mit ihm.“

„Kann sein. Er war einfach zu clever für sie.“

„Aber ...“

Genervt zeigte Gerrit auf die Uhr. „Gehen wir rüber, in den Neukölln Arkaden machen jetzt die Geschäfte auf.“

Yuri bewegte sich auf feindlichem Gebiet. Aber er tat es mit herausfordernder Lässigkeit, wie es seine Art war. Die Sonnenbrille wäre jetzt am Vormittag nicht nötig gewesen, sah aber cool aus. Die Musik, die er aus seinem MP3-Player hörte, verstärkte noch das Gefühl, der Größte zu sein. Dabei war Yuri alleine unterwegs, was er sonst schon aus Gründen des Prestiges vermied. Er hatte gerne zwei seiner Freunde als Begleitung. Das war nicht nur sicherer, sondern machte mehr her.

Nun ging Yuri die Sonnenallee in Neukölln hoch. Die war der bevorzugte Aufenthaltsort seines Gegners, des Türken Ahmed. Hier hatte der auch seinen Stützpunkt, das Café Berlin 44. Yuri achtete auf die Autos am Straßenrand, denn man hatte ihm Ahmeds protzigen BMW genau beschrieben. Sollte der hier irgendwo stehen, war besondere Vorsicht angebracht.

Das Café Berlin 44 war in Yuris Augen ein ziemlich heruntergekommener Laden. Man konnte durch große Fensterscheiben, die bis zum Boden reichten, hineinsehen. Die Vorhänge waren teilweise beiseitegeschoben. Eine Serviererin putzte gerade den schwarzen Holztresen. Der Tresen und ein halbes Dutzend einfacher Tische mit altmodischen Stühlen waren die ganze Ausstattung. In eine Ecke gezwängt stand noch ein Billardtisch. Und zwar so dicht an der Wand, dass nach Yuris Einschätzung kein vernünftiges Spielen möglich war. Alles wirkte abgenutzt und schäbig. Nur die riesigen Boxen der Musikanlage waren beeindruckend.

Hier war nichts los. Yuri ging weiter Richtung Hermannplatz und von da aus die Karl-Marx-Straße hinunter zum Rathaus Neukölln. Diese Gegend gefiel ihm nicht. Es sah hier aus wie in Kreuzberg, und Yuri hasste Kreuzberg. Er war anderes gewohnt. Die ordentlich dastehenden Hochhäuser der Gropiusstadt mit den breiten Straßen dazwischen schienen ihm geradezu weltstädtisch. Zumindest im Vergleich zu dem basarhaften Treiben, das hier herrschte. Hier war alles ein Gemenge aus Lärm, Schmutz und Verfall.

Rund um das Neuköllner Rathaus sah die Umgebung etwas freundlicher aus. Yuri blieb stehen und beobachtete die Leute, die an diesem Vormittag unterwegs waren. Dabei fiel ihm ein Gesicht auf, das ihm bekannt vorkam. Ein Gesicht mit Schürfwunden - das war der Kerl von letzter Nacht!

Yuri beobachtete, wie der Junge mit seiner Freundin davon ging. Sollte er ihm folgen? Vielleicht ergab sich ja die Möglichkeit, sich für die Prügelei in der Nacht zu rächen. Yuri hatte es nicht gern, wenn seine Opfer sich wehrten. Besonders dann nicht, wenn sie die Oberhand gewannen. Außerdem war es spannend, einmal eine Verfolgung bei Tageslicht durchzuführen.

Der Junge bummelte mit seiner Freundin zum Einkaufszentrum und dort durch verschiedene Geschäfte. Er schien sich zu langweilen. In der Computerabteilung des Elektronikmarktes bekam er Ärger mit einem Verkäufer. Yuri stand so nahe bei ihm, dass der Junge sogar gegen ihn stieß, als er auf den Verkäufer losgehen wollte.

Dann ging der Kerl ins Reisebüro. Hatte der durch seinen Job für Ahmed genug Geld verdient, um mit seiner Freundin zu verreisen? Yuri konnte es nicht fassen. Das Geld aus illegalen Tätigkeiten musste abgeschöpft werden. Die Verkäufer durften gerade genug verdienen, um sie bei der Stange zu halten, keinesfalls mehr. Ahmed ließ die Zügel ziemlich schleifen. Das würde sich ändern, wenn Yuri erst einmal an seiner Stelle war.

Gerrit und Janine streiften durch die Etagen des Einkaufszentrums. Als Erstes betraten sie ein Modegeschäft, das Janine liebte. Gerrit hasste es, weil er sich dort fast zu Tode langweilte. Dann schlenderten sie durch die Spieleabteilung des Elektronikmarktes. In der konnte Gerrit halbe Tage verbringen, während Janine die Hektik der Spiele nicht mochte.

Gemeinsam mit ihr begeisterte er sich für die Technikabteilung. Dort gab es riesige Fernsehgeräte und tolle Stereoanlagen, die neuesten MP3-Player und auch Computer. Gerrit hatte nicht die geringste Ahnung von Computern. Er besaß nur eine Spielkonsole. Aber PCs faszinierten ihn. Vielleicht eben weil er sie nicht verstand.

Gerrit zog Janine zu einem der zu Demozwecken laufenden Computer. Allerdings waren sie schon zu oft hier gewesen. Man kannte sie. Sofort kam ein junger Verkäufer heran.

„Finger weg! Verschwindet hier, wir sind keine Kita.“

Gerrit ließ das von sich abblitzen. Er wusste, dass der Verkäufer ihn nicht rauswerfen durfte. Aber Janine zeigte mehr Temperament. Sie fühlte sich stark, wenn sie mit Gerrit zusammen war. Sie streckte dem Verkäufer die Zunge raus.

„Oh, Klasse“, sagte der prompt grinsend. „Leck mich, Kleine, da steh ich drauf.“ Dabei schwenkte er obszön die Hüften.

Janine wurde rot vor Scham und Gerrit blass vor Wut. Was glaubte dieser Kerl eigentlich, wer er war? Nur weil er so schnöselige Verkäuferklamotten anhatte, durfte der sich doch nicht alles herausnehmen! Gerrit machte einen Schritt auf den Verkäufer zu und rempelte dabei einen anderen Kunden an.

Janine wollte keinen Streit. Sie packte den widerstrebenden Gerrit mit überraschender Kraft und zog ihn mit sich davon. „Lass sein, hat doch keinen Sinn“, sagte sie leise zu ihm.

Gerrit sah noch, wie der Verkäufer mit einem Lappen das Gerät polierte, als hätte er es beschmutzt. Gerrit versuchte sich von Janine loszureißen, um zu dem Kerl hinzurennen und ihm einen Tritt zu verpassen. Aber da kam eine ältere Verkäuferin mit finsterer Miene auf die beiden zu. Offenbar war das eine Vorgesetzte, die den Vorfall beobachtet hatte. Schon ihr Aussehen genügte: Gerrit gab klein bei und folgte Janine.

So erniedrigt worden war er schon lange nicht mehr. Gerrit stellte sich vor, wie er fürchterlich Rache nehmen würde an dem Verkäufer. Und an dem Geschäft. Und überhaupt an allem auf der Welt. Aber zur Welt gehörte auch Thailand. Auf dem Weg hinunter ins Erdgeschoss kam ihm eine Idee, die ihn von seinem Zorn ablenkte: „Hier gibt es doch auch ein Reisebüro. Da gehen wir hin.“

Es waren keine Kunden in dem Reisebüro. Die einzige Angestellte blätterte gelangweilt in einem Katalog.

„Ich will einen ...“, begann Gerrit, aber er bekam von Janine einen Stoß und korrigierte sich: „Könnte ich bitte einen Prospekt von Thailand bekommen?“ Janine schämte sich nämlich, wenn Gerrit allzu unhöflich war. Oder jedenfalls das, was sie so empfand.

Die Angestellte musterte ihn. Dann zog sie wortlos ein buntes Heft aus einem Schuber und reichte es ihm hin. Anschließend vertiefte sie sich wieder in den vor ihr liegenden Katalog.

„Danke“, sagte Janine an Gerrits Stelle.

Draußen setzten sie sich auf das Geländer am Straßenrand. Sie sahen zur Straße hin, um die Sonne zu genießen.

„Da ist mein Vater jetzt“, sagte Gerrit. Er zeigte Janine die wunderschönen Strandbilder in dem Prospekt.

Sie deutete sofort auf die Preise: „Du, das kostet ja zehn Mal mehr als Mallorca.“

„Na, und? Ist eben viel schöner.“

Janine glaubte das nicht. Mallorca war nämlich ihr Traumziel. „Pfff!“, machte sie nur.

Gerrit sah auf seine Uhr und sprang auf: „Ich bin spät dran!“ Er rannte los.

„Warte“, rief Janine ihm nach.

„Beeil dich!“, schrie er zurück, ohne sich umzudrehen. Aber er wurde langsamer und ließ ihr Zeit, ihn einzuholen.

Yuri sah seine Chance gekommen, als sich der Junge mit dem Rücken zu ihm auf das Geländer setzte und in dem Prospekt blätterte. Für einen Moment war niemand in der Nähe. Wenn er dem Kerl jetzt einen kräftigen Tritt in den Rücken gab, würde der mitten in den Straßenverkehr kugeln!

Doch gerade, als Yuri den Fuß hob, sprang der Junge auf, rief seiner Freundin etwas zu und rannte davon. War Yuri erkannt worden? Hoffentlich nicht, denn er hatte noch einiges vor im Norden Neuköllns. Yuri wollte dafür sorgen, dass sein Name allgemein bekannt war, bevor man sein Aussehen kannte!

Gerrit aus Neukölln

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