Читать книгу Gerrit aus Neukölln - Manfred Rehor - Страница 7

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Kapitel 4

Schon von weitem sah Gerrit den gelben Rollwagen des Briefträgers vor der Haustüre stehen. Gerade noch erwischt! Das war jedes Mal ein Glücksspiel. Schließlich konnte Gerrit nicht den ganzen Vormittag auf der Lauer liegen. Oder genauer gesagt: Er wollte das nicht mehr tun. Früher, als er noch zur Schule gegangen war, hatte er oft Stunden geschwänzt, nur um an der Ecke auf den Briefträger zu warten. Aber den zusätzlichen Kick des Schuleschwänzens gab es nicht mehr. Gerrit verbrachte seine Zeit jetzt lieber angenehmer.

„Warte hier“, forderte er Janine auf. Bei schnellen Aktionen war sie ihm im Weg. Schon deshalb, weil sie bei jedem zweiten Schritt fragte, um was es eigentlich ging. Gerrit rannte weiter bis zum Hauseingang.

Mit einem gewaltigen Ruck drückte er Haustüre auf. Das war er so gewohnt. Er sparte sich gerne den Aufwand, den Schlüssel aus seiner Hosentasche zu kramen. Im Hausflur standen der Briefträger, die unvermeidliche Frau Schmitz und Mickey beisammen. Mickey trug einen Trainingsanzug und sah gar nicht wie ein Beamter aus. Alle drei starrten Gerrit überrascht an.

Gerrit erfasste die Lage mit einem Blick. Mickey hatte bereits mehrere Briefe in der Hand. Gerrit sprang ihn an, entriss ihm die Briefe und rannte davon. Mickeys Flüche und das Schimpfen von Frau Schmitz hallten ihm nach. Dann war er wieder auf der Straße. Für einen Moment blieb er stehen und sah die Briefe durch. Einer hatte einen hellblauen Luftpostumschlag.

In dem Moment war Mickey bei ihm: „Verdammt, gib her!“

„Hol ihn dir, wenn du kannst!“ Gerrit sprang beiseite. Er hielt triumphierend den Luftpostbrief hoch und warf Mickey die anderen Briefe ins Gesicht. Der versuchte instinktiv, sie zu fangen, und als sie auf dem Boden landeten, bückte er sich schimpfend nach ihnen. Das verschaffte Gerrit genügend Vorsprung, um hinter der nächsten Ecke zu verschwinden. Er rannte zurück zu Janine.

Doch die stand nicht mehr an der Stelle, wo Gerrit sie verlassen hatte. Das sah ihr nicht ähnlich. Normalerweise war sie die Zuverlässigkeit in Person. Gerrit rannte um ein weiteres Hauseck herum. Dort stieß er beinahe mit einem Mann zusammen, der sich mit Janine unterhielt.

„Hi, Gerrit“, sagte der Mann. „Was ausgefressen oder warum hast du es so eilig?“

„Nein, Joe“, schwindelte Gerrit. „Ich wollte nur Janine diesen Brief von meinem Vater zeigen.“

„Na, dann kommt doch mit in die Kiezmäuse, ich muss sowieso mit euch reden.“

Da gab es keine Widerrede. Joe Kürer war das bewunderte Vorbild von Gerrit. Joe war groß, hatte lange, gewellte Haare und den dazu passenden Rauschebart. Wie es sich gehörte, wölbte sich auch ein ziemlicher Bierbauch unter seinem T-Shirt. Er trug eine Lederjacke, die Jahrzehnte alt sein musste. Dazu eine amerikanische Sonnenbrille mit dicken Gläsern und Cowboy-Boots. Joe war nämlich, wie er tausend Mal am Tag erzählte, ein Biker. Oder jedenfalls einer gewesen. Bis die verdammten Kurpfuscher von Ärzten seine Wirbelsäule nach einem Unfall ruiniert hatten. Seitdem musste er das Motorradfahren bleibenlassen.

Leider war Joe außerdem Sozialarbeiter und von daher eine ziemliche Nervensäge. Sonst hätte Gerrit nichts dagegen gehabt, den ganzen Tag bei Joe im Jugendtreff Kiezmäuse zu verbringen.

Gerrit und Janine waren oft dort, weil es beide - aus unterschiedlichen Gründen - zu Hause nie lange aushielten. Seit sich Rosa mit Mickey eingelassen hatte, waren die Kiezmäuse zu Gerrits zweiter Heimat geworden.

Der Namen Kiezmäuse klang entschieden zu niedlich für ein Jugendcafé. Aber da Joe ihn sich ausgedacht hatte, protestierte keiner der Jugendlichen dagegen. Zur Straße hin war es ein Café mit ein paar Automaten mit Cola und heißen Getränken. Weiter hinten befanden sich die großen Tische. An denen konnten Schulkinder nach dem Unterricht ihre Hausaufgaben machen oder spielen. Das war ein Bereich, der überwiegend von türkischen Mädchen beherrscht wurde, während vorne die Jungs dominierten.

Joe ließ die Jugendlichen frei gewähren, solange sie keinen Ärger verursachten. Und zwar weder im Café noch in dessen Umgebung. Er hatte ihnen mehr als einmal klar gemacht, dass die Existenz der Kiezmäuse auch von der Toleranz der Nachbarn abhing.

Natürlich gab es noch mehr Sozialarbeiter in den Kiezmäusen, auch Frauen, die den Betrieb aufrecht hielten. Aber die spielten eigentlich keine Rolle. Für Gerrit nicht und auch für die anderen Besucher des Jugendcafés nicht. Für sie waren die Kiezmäuse und Joe ein und dasselbe.

In den Kiezmäusen setzten sich die drei um einen Tisch im vorderen Teil. Joe zeigte auf Gerrit: „Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?“

„Ich bin gestolpert.“

„Erzähl!“, forderte Joe und sah ihn erwartungsvoll an.

„Es gibt nichts zu erzählen.“ Gerrit saß da und wusste, dass er wie ein trotziges Kind wirkte, aber er konnte nichts dagegen tun. Es war schwer genug, Joe etwas zu verheimlichen. Aber dann auch noch so tun, als wäre nichts, dazu reichten seine Verstellungskünste nicht.

„Dann erzähle ich euch etwas. Wird euch interessieren. Einverstanden?“ Das war der typische Sozialarbeiter-Tonfall.

Bei Joe sagte man nicht nein. Also nickte Gerrit ergeben, auch wenn ihm der Brief seines Vaters in der Tasche brannte.

„Man kann es nicht leugnen“, fuhr Joe fort, „Neukölln ist nicht gerade ein vornehmer Bezirk. Aber das wisst ihr besser als ich. Wo Menschen wenig haben, sind sie besonders anfällig für Versuchungen. Zum Beispiel, um auf nicht ganz legalem Weg an etwas Wohlstand zu kommen. Ist auch verständlich, aber eben nicht in Ordnung. Und dann sind da diejenigen, die das ausnutzen. Es gibt hier in der Gegend miese Typen, die sich für die Größten halten und andere die Schmutzarbeit machen lassen. Kennt ihr bestimmt auch welche.“

Gerrit schüttelte möglichst überzeugend den Kopf. Janine nickte schüchtern.

„Ach, nie gesehen?“ Joes Tonfall machte klar, was er von Gerrits Verstocktheit hielt: Nichts. „So Angeber mit Goldkettchen und dickem Auto? Gerrit, man könnte glauben, du läufst blind durch die Gegend. Diese Typen machen alles, was Geld bringt. Hehlerei, Drogen, solche Sachen.“

„Na, und?“, fragte Gerrit scheinbar unbeteiligt.

„Wer da mitmacht, ist immer der Dumme. Denk mal drüber nach.“ Joe runzelte die Stirn und sah Gerrit streng an. „Mitläufer sind die Dümmsten von allen!“ Er stand auf und ging nach hinten zu den Schulkindern.

„Machst du so etwas?“, fragte Janine leise.

„Nerv jetzt nicht“, lenkte Gerrit ab. Triumphierend zeigte er ihr den Brief: „Diesmal hat es geklappt.“

„Was ist das?“

„Ein Brief von meinem Vater, was sonst. An mich. Meistens zerreißen Mama oder der Bulle die Briefe. Nur ab und zu kann ich einen in Sicherheit bringen.“

„Was schreibt er denn?“

„Warte.“ Gerrit riss den Umschlag auf, wobei er darauf achtete, die bunte Briefmarke nicht zu beschädigen. Er überflog das Schreiben und jubelte: „Geil! Spitze!“

„Was ist g..., ich meine, Spitze?“ Janine hatte wegen ihrer Erziehung Probleme mit manchen Worten.

„Mein Vater fragt, ob ich Teilhaber in seiner Firma werden will. Wenn ich das nötige Geld habe, darf ich zu ihm nach Thailand kommen. Ich habe ihm ja schon seit Monaten Geld geschickt, aber nicht viel.“

„Geld? Davon hast du mir nie etwas erzählt.“ Janine setzte ihr erwachsenes Gesicht auf und fragte: „Woher hast du das?“

„Nein, so ist das nicht, ich meine es doch ganz anders“, behauptete Gerrit. Schnell kehrte er zum eigentlichen Thema zurück: „Jetzt hat er eine Firma gegründet und braucht einen Partner. Toll, was?“

„Was ist denn das für eine Firma? Wie viel Geld will er denn haben?“

„Zwanzigtausend.“

„Da stimmt doch etwas nicht. Wer verlangt schon so viel Geld von seinem Sohn, nur damit der zu einem darf. Als Vater, meine ich. Es würde Jahre dauern, um so viel zusammenzubekommen. Selbst wenn du eine Arbeit hättest. Das muss er doch wissen.“

„Ach, was. Das schaffe ich. Glaubst du nicht? Das schaffe ich! Hier, das ist er.“

Er gab Janine ein Foto, das dem Brief beigelegt war. Es zeigte einen schmächtigen Mann Mitte vierzig, der eine sehr junge Thailänderin im Arm hielt. Sie standen an einem Straßeneck vor einem Imbiss. Der sah aus wie einer dieser „Glasnudeln mit Sprossen“-Verkaufsstände auf den Berliner Straßenfesten. Nur der Text der Schilder war nicht in Deutsch. Gerrit fand das faszinierend, merkte aber gleich, dass Janines Aufmerksamkeit etwas Anderem galt: dem Mädchen.

Es war etwa so alt wie sie. Höchstens. Und es sah nicht besonders glücklich aus, wie es da so von dem Mann an sich gedrückt wurde, als wäre es sein Schatz. Janine starrte das Bild an und fragte: „Wer ist das?“

Gerrit nahm es ihr wieder weg. „Keine Ahnung. Von der schreibt er nichts.“

„Also ich weiß nicht ...“

Gerrit sah durch das Fenster von der Straße her zwei seiner Freunde kommen. Sie hatten genau solche Sporttaschen bei sich, wie sie ihm in der vergangenen Nacht gestohlen worden war. Jetzt galt es, Janine loszuwerden, damit er mit seinen Freunden offen reden konnte.

„Was weißt du nicht?“, fragte er sie genervt. „Es ist übrigens Mittag. Musst du nicht gehen?“

„Ach, nichts. Ja, ich muss nach Hause. Vater kommt sonst auf falsche Gedanken.“

„Dieser Spinner. Tschüs. Bis morgen.“ Gerrit war nicht bereit, sich auf ein Gespräch über die Probleme einzulassen, die Janine mit ihrer Familie hatte.

Janine ging beleidigt hinaus, vorbei an Gerrits Freunden.

Gerrit begrüßte die beiden mit Handschlag. Mike und Werner zogen sich jeder eine Cola aus dem Automaten und setzten sich zu ihm.

Die drei Jungs verhielten sich möglichst unauffällig. Man musste vorsichtig sein, wenn man einer illegalen nächtlichen Beschäftigung nachging. Besonders, wenn man sich direkt unter Joes Augen traf, um darüber zu reden.

„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Mike und zeigte auf Gerrits Gesicht.

Gerrit berichtete von dem Überfall in der Nacht. Aber leise, damit außer seinen beiden Freunden niemand etwas hören konnte. „Wenn der Bulle nicht dazwischen gekommen wäre, hätte ich die drei fertiggemacht“, behauptete er abschließend. „Aber nun sind die Sachen und das Geld weg.“

„Schlimm. Das wird Ahmed nicht gefallen.“ Mike schüttelte sich. „Bin froh, dass mir das nicht passiert ist.“

Gerrit war immer der erfolgreichste Hehler der drei gewesen, auch wenn er der kleinste war. Sie sahen in ihm so etwas wie ein Vorbild, was die dunklen Geschäfte anging. Gerrit hatte befürchtet, ihr Respekt vor ihm würde sinken, wenn sie von seinem Pech erfuhren. Nun erkannte er, dass sie um so beeindruckter waren. Was vielleicht an der Art lag, wie er davon erzählt hatte.

„Wie willst du Ahmed ...“, begann Werner.

„Still!“ Gerrit hörte, wie Joe sich näherte.

Der Sozialarbeiter klirrte bei jedem Schritt wegen der Metallketten und der Abzeichen an seiner Bikerjacke. Sein Geldbeutel war durch eine Gliederkette am Gürtel befestigt, die ausgereicht hätte, einen Kampfhund zu bändigen. Joe zog sich einen Stuhl an den kleinen Tisch und setzte sich zu ihnen. „Alles klar?“

„Alles“, behaupteten Mike und Werner einstimmig.

Gerrit nickte nur.

„Glaube ich euch aber nicht. Was ist in euren Taschen?“

Gerrit und seine Freunde wechselten Blicke. Sie schwiegen einen Moment und fingen dann an, verlegen zu lachen.

„Leute, so geht das nicht“, brummte Joe. Diese Tonlage war gefährlich. Er setzte sie nur ein, wenn er sich persönlich beleidigt oder angegriffen fühlte. „Ich warte.“

Nun galt es für Gerrit, seinen Freunden aus der Schwierigkeit zu helfen und Joe nicht zu sehr zu verärgern. Deshalb begann er, Unsinn zu faseln. Meist ging Joe auf solche Scherze ein und eine Krise konnte überwunden werden. „Mike sammelt Zombies“, behauptete Gerrit scheinbar aus vollster Überzeugung.

Gelächter von Mike und Werner belohnte ihn. Er rief mit seinen Freunden um die Wette: „Und Werner hat Gummibärchen drin - Videos - tausend Kondome.“

„Ey, Angeber!“

„Also gut. Hundert.“

„Hundert Gummibärchen vielleicht.“

Es klappte: Joe begann zu grinsen. Die Jungs lachten laut, aber es klang unecht. Um so eifriger machten sie weiter.

„Also im Ernst“, sagte Joe schließlich. „Macht keine krummen Dinger. Wir können es uns nicht leisten, dass die Kiezmäuse einen schlechten Ruf bekommen. Wer sich nicht an die Regeln hält, gegen den verhänge ich ein Hausverbot, verstanden?“

Kopfnicken war alles, was er erntete. Zweifelnd fuhr er fort: „Mir graut vor dem Tag, an dem die Polizei hier auftaucht und einen von euch mitnimmt. Dann können wir dichtmachen.“

„Diese Scheißbullen sind doch zu allem zu dämlich“, behauptete Gerrit.

„Und du musst es wissen“, stimmte Werner ihm zu.

„Übrigens, Gerrit, für dich habe ich etwas“, sagte Joe. Er stand auf, ging nach hinten und kam mit einem zusammengefalteten Poster zurück. Er entfaltete es und zeigte es herum: Das Bild zeigte eine exotische Strandlandschaft. Darunter stand in verschnörkelter Schrift das Wort „Thailand“.

„Schenke ich dir“, sagte Joe. „Du träumst ja schon lange davon, mal von hier weg zu kommen.“

Gerrit bedankte sich artig. Joe ging nach hinten und Gerrit erklärte seinen Freunden: „Mein Vater lebt dort. Er hat mich eingeladen. Ich kann zu ihm kommen. Aber ich brauche ne ganze Menge Geld.“ Er zog den Brief heraus. Die Jungs steckten die Köpfe zusammen und unterhielten sich leise.

Kurze Zeit später ließ das Aufheulen eines Motors Gerrit hochrucken. Ein schwarzer BMW hielt vor den Kiezmäusen. Laute türkische Musik schallte aus den offenen Seitenfenstern. Am Steuer saß ein fünfunddreißigjähriger Türke mit Goldkettchen, gelglänzenden Haaren und Sonnenbrille: Ahmed!

Gerrit warf einen prüfenden Blick auf Joe. Der hatte nichts bemerkt - oder tat zumindest so. Gerrit stand auf und nickte seinen beiden Freunden zu. Beinahe hätte er vor Aufregung das Thailand-Poster vergessen. Er ging zurück, nahm es mit, dann marschierten alle drei nach draußen.

Vor dem Eingang der Kiezmäuse blieben sie stehen. Gerrit, der sich für alles zuständig fühlte, was mit Polizei zu tun hatte, sah sich um. Sein Blick war durch das Zusammenleben mit Mickey geschärft. Ihm entging niemand, der auch nur entfernt ein Polizist hätte sein können. Die Luft war rein: Kein Uniformierter war zu sehen und auch niemand, der wie ein Beamter in Zivil aussah.

„Okay“, sagte er. „Keine Gefahr.“

Werner ging zu dem schwarzen BMW. Er öffnete seine Tasche und reichte Ahmed durch das Wagenfenster ein in Zeitungspapier gewickeltes Bündel Geldscheine hinein. Dafür bekam er eine halbvolle Einkaufstüte, die er schnell in seiner Tasche verschwinden ließ. Dann war Mike dran, bei dem dasselbe Ritual ablief.

Beide hatten das in den letzten Wochen schon oft gemacht. Aber sie fühlten sich ersichtlich unwohl dabei. Gerrit fiel das heute zum ersten Mal auf, weil er selbst Schiss davor hatte, zu Ahmed zu gehen. Obwohl der Türke bisher immer freundlich zu ihnen gewesen war und auch nicht in dem Ruf stand, gewalttätig zu sein.

Gerrit kontrollierte weiter die Straße. Nicht nur, weil er sich dazu verpflichtet fühlte, sondern auch um seine Nervosität nicht Oberhand gewinnen zu lassen. Er war sich nicht sicher, wie Ahmed das aufnehmen würde, was er zu berichten hatte. Denn es ging jetzt nicht nur darum, den Verlust der Ware und des Geldes zu beichten. Er musste Ahmed auch um einen einträglicheren Job bitten. Gerrit wollte so schnell wie möglich das Geld für seinen Vater zusammenbringen.

Schließlich war er dran. Mit klopfendem Herzen ging er zu dem Wagen und begrüßte Ahmed. Der hielt den Kopf schief, vermutlich, weil er bemerkte, dass Gerrit keine Tasche dabei hatte.

„Ich bin letzte Nacht überfallen worden“, erklärte Gerrit. „Alles weg.“

Ahmed zeigte zur Beifahrerseite. „Steig ein.“

Gerrit öffnete mit schweißnasser Hand die schwere Wagentür und setzte sich auf den lederbezogenen Sitz. Er traute sich nicht, von sich aus etwas zu sagen. Also starrte er vor sich hin und wartete ab.

Ahmed drehte die Musik leiser und sah auf die Straße. Man konnte glauben, der Verkehr sei das Interessanteste, was er seit langem gesehen hatte.

Gerrit war vorbereitet auf Ahmeds Fragen, für die er sich schon tausend Antworten zurechtgelegt hatte. Aber Ahmed fragte nicht. Schließlich hielt es Gerrit nicht mehr aus und er platzte heraus: „Drei Typen waren es. Ich war eigentlich schon durch mit meiner Tour.“

„Haben sie was gesagt?“

„Wenig.“ Mit dieser Frage hatte Gerrit nicht gerechnet. Was spielte es schon für eine Rolle, was diese Typen zu reden hatten? „Aber sie hatten so einem komischen Akzent“, fügte er noch hinzu.

Ahmed nahm die Sonnenbrille ab und starrte Gerrit in die Augen. „Russisch, oder was?“

Gerrit wusste nicht, wie Russisch klang, also sagte er einfach: „Ja.“

Nachdem Ahmed die Sonnenbrille wieder aufgesetzt hatte, stellte er fest: „Nicht gut.“

„Ich kann nichts dafür“, rechtfertigte sich Gerrit. „Sie haben mich beobachtet und verfolgt und ...“

„Klar, kommt vor“, unterbrach ihn Ahmed. „Ersetz mir den Schaden und wir machen weiter wie bisher. Tausend und alles ist korrekt geregelt.“

„Tausend Euro? Aber die habe ich nicht!“

„Dann besorg sie dir.“ Ahmed stellte die Musik wieder lauter und deutete mit der Hand zur Beifahrertür.

„Ahmed, ich wollte dich noch um etwas bitten“, begann Gerrit.

„Erst zahlen.“

„Es geht um meinen Vater.“

„Gibt‘s den noch?“

Gerrit wunderte sich, dass Ahmed seinen Vater kannte, ging aber nicht darauf ein. „Er ist in Thailand und hat mir angeboten, zu ihm zu kommen. Aber ich brauche ziemlich viel Geld dafür.“

„Wenn‘s um deinen Alten geht, könnte ich vielleicht etwas regeln. Aber es bleibt dabei: Bezahl mir den Schaden, dann reden wir weiter.“

Gerrit stieg benommen aus und ging zu seinen Freunden, die gespannt vor den Kiezmäusen warteten. Er setzte an, um ihnen zu erzählen, was für eine astronomische Forderung Ahmed gestellt hat. Da hupte der BMW. Gerrit ging zurück und beugte sich zu Ahmed hinunter.

„Auch wenn ich deinen Alten von früher kenne: Geschäft ist Geschäft, das gilt auch für dich. Also: Keine Ausreden, keinen Cent weniger und Zahlung in zwei Tagen, verstanden?“, sagte Ahmed. Dann gab er Gas und der dicke Wagen rollte langsam davon.

„Also, was ist?“, drängelte Werner, da Gerrit nichts sagte.

„Nichts“, behauptete Gerrit. Aber dann brach es aus ihm heraus. „Tausend Euro will er haben, dann darf ich weiter mitmachen.“

„Echt hart“, gab Mike zu. „Was wirst du tun?“

„Das Geld besorgen, was sonst?“

„Dann fang mal schnell an damit.“

Sie drehten sich um und wollten zurück in die Kiezmäuse. Aber es gab kein Zurück. Joe lehnte breit in der Tür. An ihm war kein Vorbeikommen.

„Ich habe euch gewarnt“, sagte Joe. „Verschwindet.“

„Aber Joe ...“ Gerrit wurde blass. Die Kiezmäuse waren sein zweites Zuhause. Das durfte nicht sein, dass Joe ihn rauswarf.

„Wenn ihr auf Drei nicht weg seit, setzt es Prügel“, drohte Joe. „Eins ...“

Die Jungs machten kehrt und gingen mit gesenkten Köpfen davon. Eine ganze Weile sagten sie gar nichts. Dann begannen sie zu schimpften auf Joe und dessen Ungerechtigkeit. Obwohl jedem von ihnen klar war, bei wem die Schuld lag: bei ihnen selbst. Und dann redeten sie über Geld. Das Geld, das sie für Ahmed verdienten. Den kleinen Anteil, den sie davon behalten durften. Und was sie machen würden, wenn sie eines Tages ganz viel davon hatten. Nur Gerrit dachte schon weiter.

Gerrit aus Neukölln

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