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Unerhörte Botschaft

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Das Haus zwischen den zwei großen Zedern sieht eigentlich ganz freundlich aus. Die mit wildem Wein bewachsenen gelben Klinkerwände, die geschwungenen schmiedeeisernen Gitter vor den Fenstern (in Herzform) und die Sandsteinornamente über dem Balkon (Rosetten, in deren Mitte ein Kopf mit edlem Profil traurig in den Vorgarten schaut) geben ihm einen etwas altertümlichen Anblick, aber die Glyzinien, die sich um die Regenrinnen ranken, und die hohen Hortensiensträucher davor sind gerade in voller Blüte und grüßen den Besucher schon von Weitem in einladenden Farben.

Die Bewohnerin allerdings – allem Anschein nach die einzige Seele in diesem Haus – ist alles andere als einladend. Bei meinem ersten Klingeln an der Gartenpforte hatten die durch die Gegensprechanlage gebellten Worte »Wer ist da?« mich nicht nur innerlich zusammenzucken lassen. Noch bevor meine Vorstellung zu Ende war – dass ich von der Anwaltssozietät Trost & Partner komme und eine wichtige Nachricht für sie habe –, knackte es in dem kleinen Lautsprecher, und von da an war Funkstille.

Die Sozietät, in der ich angestellt bin, hat mir den strikten Auftrag gegeben, den Brief nur persönlich zu überreichen. Ich darf ihn nicht einfach in den Briefkasten werfen, ihn keinesfalls unter der Eingangstür durchschieben oder ihn gar bei Nachbarn abgeben. Das ist bei uns eine Art unumstößliches Gesetz. Nicht dass es juristische Gründe für die persönliche Übergabe gäbe – es hat einfach mit dem Selbstverständnis unserer Kanzlei zu tun, wie es von ihrem Gründer formuliert wurde: »Wir sind keine Paragrafen-Automaten. Wir haben es mit Menschen zu tun. Alles, was diesem Grundsatz dient, ist erlaubt. Alles, was den Menschen aus den Augen verliert, ist verboten.«

Was habe ich in den letzten drei Wochen nicht schon alles unternommen, um dieser Frau die wahrscheinlich beste Nachricht ihres Lebens persönlich zu überbringen. Zu allererst versuchte ich sie anzurufen, um meinen Besuch anzukündigen, aber die einzige Telefonnummer, die ich auf einem alten Briefbogen in der Korrespondenz ihres Bruders fand, war tot – »Kein Anschluss unter dieser Nummer«. Im Telefonbuch war sie nicht gelistet, und auch die Internet-Suchmaschinen gaben keine Nummer her. Gespräche mit den Nachbarn (die genauso ratlos waren wie ich) ergaben, dass sie wohl aus Sparsamkeit alle Kommunikationswege gekündigt hatte, weil die hohen Hypotheken auf ihrem Haus ihr zu schaffen machten.

Ich hatte nach dem ersten erfolglosen Versuch sicher zwanzigmal geklingelt, aber keine Antwort mehr bekommen. Rund-um-die-Uhr-Wachen vor dem Haus hatte ich durchgehalten – in der Hoffnung, ich könnte sie bei einem nächtlichen Spaziergang erwischen. Bis zu Lautsprecherdurchsagen von meinem Wagen aus war ich gegangen (ich hatte mir extra ein batteriegetriebenes Megafon ausgeliehen), aber vielleicht war sie ja im Laufe der Jahre schwerhörig geworden. Auf eine große Kastanie am gegenüberliegenden Straßenrand war ich abends geklettert und hatte im mühsam erlernten Morse-Alphabet Taschenlampen-Lichtsignale in die Fenster gesendet. In Höhe dieser Fenster hatte ich tagsüber dann Luftballonaktionen veranstaltet, um auf mich aufmerksam zu machen, und große Poster (»Sie sind reich!« und »Nachrichten von Ihrem Bruder«) hatte ich mir vor den Bauch und auf den Rücken geschnallt und als Sandwich-Man die Straße hinauf- und hinuntergetragen. Ich hatte zwei kleine Skateboard fahrende Jungen mit Kaugummis bestochen, damit sie klingelten und mit ihren unverfänglichen Stimmen die Bewohnerin zum Öffnen bewegten. Aber auch deren Versuche wurden ignoriert. Und die Polizei, die ich gebeten hatte, mir Einlass zu verschaffen, hatte abgewinkt: Das sei nur zulässig, wenn eine eindeutige Straftat vorliege oder Gefahr im Verzug sei.

»Frau Renata Dauth« steht auf dem Umschlag, und wenn Frau Renata Dauth wüsste, was dieser Umschlag enthält, würde sie wahrscheinlich die Haustür aufreißen, mir den Umschlag aus der Hand schnappen, mich herzen … Köpfen würde sie mich jedenfalls ganz sicher nicht – wie es angeblich den Überbringern schlechter Botschaften im Mittelalter erging. Aber sie gibt mir nicht einmal die Chance, ihr die gute Botschaft zu überbringen. Ihr Bruder Rex, von dem sie in den Kriegswirren getrennt wurde und der bei Verwandten in den U.S.A. aufwuchs, hat sie zur Alleinerbin seines beträchtlichen Vermögens eingesetzt – und zur Empfängerin einer hohen Lebensversicherung. Sagenhafte 3,16 Millionen Dollar beträgt die Gesamtsumme, die bereits auf einem eigens für sie eingerichteten Konto liegt und die sie angesichts der Hypotheken auf ihrem Haus sicher gut gebrauchen könnte.

Wie sein Anwalt John Evans uns mitgeteilt hat, ist Rex ein überaus fleißiger Mensch gewesen, hat früh das Zimmermannshandwerk erlernt und im Laufe der Jahre im Nordosten der Staaten eine große Firma aufgebaut, die sich auf erschwingliche Häuser für die unteren Einkommensschichten spezialisiert. Der Name »Whosoever Inc.« deutet bereits an, dass jedweder Mensch auf der Suche nach einem Zuhause darauf vertrauen kann, ein solches günstig gebaut zu bekommen. Dass das Unternehmen trotz der sozialen Niedrigpreise noch Gewinn macht, liegt einfach an der Menge der Bauprojekte. In den Jahrzehnten, in denen Rex, ohne dass seine Schwester etwas davon mitbekam, das jetzt ihr zustehende Geld erarbeitet hat, hat er wohl seine Gesundheit ruiniert – hat er sich für sie geopfert. Vor drei Monaten ist er gestorben, aber durch seinen Tod könnte Renata Dauths Leben jetzt noch einmal richtig durchstarten.

Ich werde dranbleiben – auch nach diesem wieder mal frustrierenden Tag. Es würde mir ja schon genügen, wenn sie mich und meine Botschaft nicht länger ignorierte, und dafür muss ich mir halt noch etwas mehr Mühe geben. Ich habe da immer noch ein paar Ideen in der Hinterhand. Im Fortgehen (für heute) träume ich wieder davon, dass eines Tages das eigentlich Selbstverständliche passiert: dass die arme reiche Frau aus dem gelben Haus auf die Straße stürzt, hinter mir herrennt und ruft: »Halt – bleiben Sie doch stehen!« Schon oft habe ich mir diese Szene vorgestellt, und in Gedanken kenne ich auch schon die Begleitmusik: Das eiserne Gartentor wird genau so singen und eilige Schritte werden genau so auf den Bürgersteig trommeln, wie ich es jetzt gerade hinter mir höre.


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