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Drei Rosen
ОглавлениеTatsächlich … eine Rose. Stephan tritt ein paar Schritte zurück und legt den Kopf in den Nacken, um das riesige Glasfenster noch besser in den Blick zu bekommen. Rund ist es, und es hat so etwas wie Blütenblätter: sechzehn Segmente, die von der Mitte aus immer breiter werden. Die feingliedrigen Steinrippen zwischen den Glaselementen geben dem Ganzen ein strenges, ordentliches Aussehen.
Als er eben im Bus seine Sitznachbarin gefragt hat – eine anscheinend frisch vom Friseur gekommene mittelalterliche Dame mit einer eleganten, randlosen Brille –, ob sie wüsste, was das Münster mit Rosen zu tun haben könnte, hat sie fast aufgeregt geantwortet: »Haben Sie noch nie die Fensterrose über dem Haupteingang gesehen? Fünfzehn Meter im Durchmesser, und wenn Sie die erst von innen sehen – ein absoluter Traum von Farben. Jedenfalls bei Sonnenschein.« Bevor sie weiter schwärmen konnte, hat der Bus am Münsterplatz gehalten, und er konnte sich nur hastig bedanken.
Stephan ahnt, dass dieses Fenster aus dem Inneren des Münsters betrachtet völlig anders aussehen wird, und als er dann durch die kleine Tür in dem wuchtigen Portal das hohe, dunkle Kirchenschiff betreten hat und sich umdreht, verschlägt es ihm fast den Atem. Die Rose scheint in einer Farbkaskade zu explodieren – wie eine der Schlussraketen beim Silvesterfeuerwerk. Kräftiges Blau, zartes Grün und strahlendes Gelb kämpfen um die Vorherrschaft, wirken aber dann doch wunderbar zusammen. Das Gelb ähnelt dem der drei Rosen, die er eben spontan in einem kleinen Blumengeschäft an der Längsseite des Münsterplatzes erstanden hat und jetzt, in Folie eingepackt, in der Hand hält.
Aber dies kann nicht der vorgeschlagene Treffpunkt sein, denn dort hinauf kommt man wahrscheinlich nur mit einem Kran, und außerdem geht es in Claras SMS ja um mehrere Rosen. »13 Uhr im Münster bei den 3 Rosen« hat sie geschrieben. Eine hat er gefunden, aber wo sind die anderen?
»Drei Rosen?«, fragt der freundliche Rentner an der Information zurück. »Keine Ahnung. Ich kann Sie höchstens ins südliche Seitenschiff schicken. Da hinten rechts. Da gibt es zwar keine drei Fensterrosen, aber zwei kleinere, die den Alten und den Neuen Bund darstellen.«
»Wie bitte? Was stellen die dar?«
Sein Gegenüber lächelt. »Also, man kann auch sagen: das Alte und das Neue Testament, den ersten und den zweiten Teil der Bibel. Sie erkennen auf dem linken Fenster ein paar Patriarchen des Alten Testaments und eine Reihe von Opferszenen. Auf dem rechten sehen Sie Christus und die vier Evangelisten und mehrere Figuren, die die christlichen Tugenden darstellen. Der Glaskünstler wollte mit dem linken Fenster wohl sagen, dass die Menschen seit jeher versucht haben, sich mit guten Taten bei Gott einzuschmeicheln. Als wollten sie mit ihren Opfern eine Treppenstufe nach der anderen Richtung Himmel steigen. Das rechte Fenster zeigt das Kontrastprogramm: Seit Christus bekommen wir den Zugang zu Gott geschenkt, ohne dass wir ihn uns erst verdienen müssen. Weil Gott jedes seiner Geschöpfe vorbedingungslos liebt, bietet er uns sozusagen einen Aufzug in den Himmel an, in den wir nur einsteigen müssen. Aber ich muss mich wohl entschuldigen – war das jetzt zu viel Theologie für Sie?«
»Nein – ist schon in Ordnung. Vielen Dank für die Auskunft. Das klingt alles sehr interessant, und ich werd mir das ganz bestimmt noch anschauen. Aber im Augenblick such ich erst mal dringend eine Stelle im Münster, wo es genau drei Rosen gibt. Da hat sich nämlich meine Freundin mit mir verabredet. Ich bin extra früh hier angekommen, um sie nicht zu verpassen.«
Der Rentner schaut zunächst ein bisschen säuerlich – wozu hat er sich die Arbeit seiner ausführlichen Erklärung gemacht? –, nickt aber dann verständnisvoll. »Ja, manchmal drängt sich das richtige Leben vor die Theologie. Aber da fallen mir gerade noch die Rosen am Dachsims auf der halben Höhe des Südturms ein. Das sind Ornamente aus Sandstein. Ihre Freundin muss ziemlich gute Kondition haben, wenn sie sich mit Ihnen da treffen will. Bis dorthin sind es – warten Sie, ich zähle die Treppenabsätze – ungefähr hundertsechzig Stufen.«
»Ziemlich gute Kondition.« Da hatte er recht. Stephan kommt schon nach achtzig Stufen ins Schwitzen. Ab und zu gibt es kleine Fenster auf dieser engen Wendeltreppe, oder auch mal winzige Balkone mit Sicherheitsgeländern, von denen aus man einen grandiosen Überblick über die Dächer der Altstadt hat. Die Menschen, die sich durch die Straßen drängen, sehen von oben immer kleiner aus, je höher er steigt. Weil er vor lauter Eindrücken vergessen hat, die Stufen zu zählen, bleibt er mit seinen Blumen in der Hand auf jedem der Balkone kurz stehen und beugt sich nach rechts und nach links, um vielleicht schon Claras Rosen zu entdecken.
»Ja!« Stephan stößt einen kleinen Jubelschrei aus – so laut, dass die hinter ihm im Treppenhaus nach oben steigenden chinesischen Touristen stehen bleiben und die Hälse nach draußen recken. Dieses Ornament ist eindeutig eine Rose. Einen knappen Meter daneben gibt es noch eine. Und noch eine. Er muss sich schon weit um den Eckpfeiler beugen, um sie alle drei im Blick zu haben. Zwei sind noch ziemlich vollständig und lassen die meisten der gemeißelten Blütenblätter erkennen, aber an der dritten hat die Zeit schon sichtbar genagt. Dem Sandstein, aus dem das Münster und seine Dachverzierungen gebaut sind, haben nicht nur Wind und Wetter vergangener Jahrhunderte, sondern auch der saure Regen der Gegenwart so zugesetzt, dass die Rosen genau wie die teils fröhlich, teils furchterregend dreinschauenden Wasserspeier langsam ihre Konturen verlieren.
Wie spät ist es? Das Glockenspiel mit den im Kreis wandernden Aposteln um halb eins ist lange schon vorbei – es könnte jetzt kurz vor eins sein. Die tausend Geräusche des Markttreibens unten auf dem Münsterplatz, die schrillen Schreie der um den Turm kurvenden Schwalben und das dunkle Gurren der Tauben auf den Wasserspeiern vermischen sich zu einem Rauschen, in dem er glaubt, ganz allein zu sein. Deshalb zuckt er zusammen, als sich von hinten zwei Hände auf seine Augen legen. Klar: Clara. Er hört sie lachen, greift nach ihren Händen, und noch während er sich umdreht, nimmt sie ihn in die Arme und sie geben sich einen Begrüßungskuss. In ihrem violetten Hosenanzug und den weißen Joggingschuhen sieht sie zum Anbeißen aus.
»Schön, dass du da bist«, sagt er und überreicht ihr mit einer kleinen Verbeugung die drei mitgebrachten Rosen in der Folie. »Ich bin ziemlich stolz, dass ich dieses Eckchen gefunden hab. Weißt du, dass ich für dich die ganze Kirche durchforscht hab? Und ohne Aufzug hier hochgekeucht bin? Wozu hast du dir denn diese Übung bloß ausgedacht? Dafür müsste ich eigentlich in deiner Wertschätzung um hundertsechzig Stufen gewachsen sein und jetzt noch einen Kuss bekommen.«
Er bekommt ihn. Sie legt den Kopf ein bisschen schief und lächelt. »Vielleicht wollte ich einfach mal deine praktische Intelligenz kennenlernen und dir die Gelegenheit geben, deine Wadenmuskeln zu testen. Aber glaub bloß nicht, dass ich dich erst jetzt, wegen dieser heldenhaften Leistung, mag, oder wegen dieser wunderschönen Blumen. Ich mag dich, weil du du bist und weil ich dich eben mag.« Sie sagt das so, als sei kein Widerspruch möglich.
»Auf alle Fälle spür ich den Aufstieg schon jetzt in meinen heldenhaften Waden, und die ganze Kletterei hat mich auch ziemlich hungrig gemacht. Sag mal – hast du auch so einen Appetit auf Mittagessen? Ich lade dich ein.«
Clara nickt. »Ja – ich hab gewaltigen Hunger. Und nein – das mit der Einladung übernehme ich. Vorschlag: Wir gehen hoch auf die Aussichtsplattform und nehmen von dort aus das andere Treppenhaus nach unten. Mit dem 15er-Bus sind wir dann in einer Viertelstunde bei mir in der Wohnung. Da steht schon eine leckere Ratatouille auf dem Herd, die ich nur noch warm machen muss. Dazu hab ich einen Edelzwicker kalt gestellt, aber wenn du willst, können wir auch Hagebuttentee trinken – an so einem Rosentag.«