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Abstellmöglichkeit

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Endlich. Endlich waren wir ihn los. Um ganz sicher zu gehen, versuchte Johanna aus dem zweiten Stock (links), den Schlüssel noch einmal umzudrehen. Aber der Eingang zum Keller war bereits doppelt verschlossen. Durch diese Tür konnte er nicht wieder entkommen.

Einige klatschten einander ab, als seien sie Sportler, die gerade einen schmutzigen Sieg über die Mannschaft des Lokalrivalen errungen hatten. Und auf allen Gesichtern war eine große Erleichterung zu lesen.

Es war aber auch nicht zum Aushalten gewesen! Jahrelang schon hatte er alle im Haus mit seinen Nadelstichen terrorisiert, alle litten wir darunter, und hilflos mussten wir mit ansehen, wie ihm immer neue Schikanen einfielen. Dabei war er ja nur ein Mieter unter vielen, hatte keinerlei übergeordneten Rechte oder Befugnisse und wäre bei einer anderen charakterlichen Veranlagung sicher ein angenehmes und angesehenes Mitglied der Hausgemeinschaft gewesen. Aber leider stand dem eine unerklärliche Unberechenbarkeit im Wege – aus der Sicht mancher Mitbewohner vielleicht sogar eine eingefleischte Boshaftigkeit. Er schien es auf nichts anderes anzulegen, als den einzelnen Mietern und dem ganzen Haus zu schaden, wo er nur konnte. Alle stöhnten.

Wenn Alex, der Malermeister aus dem zweiten Stock (rechts), obwohl es die Hausordnung untersagte, einmal während der in der Hausordnung festgeschriebenen Mittagsruhe zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr Tuba übte, konnte er todsicher damit rechnen, dass umgehend ein Besenstiel von unten an den Fußboden klopfte. Und als Herbert, der Buchhalter aus dem Erdgeschoss (links), um elf Uhr abends aus lauter Begeisterung über seine neue Bohrmaschine versuchte, seinen Badezimmerspiegel anzudübeln, klingelte nach zwanzig Minuten die Polizei an der Tür und kündigte ein Bußgeld an. Wer hatte die wohl verständigt?

Als hätte er nichts anderes zu tun, schaute er durch den Spalt zwischen seinen Vorhängen auf die Straße und kontrollierte mit einem Notizblock in der Hand die Einhaltung der Straßenverkehrsordnung. Vor allem die Falschparker hatte er im Visier – ob es die waren, die die geforderten fünf Meter Abstand von der Straßenecke nicht einhielten, oder jene, die halb vor einer Einfahrt parkten oder auf der falschen Straßenseite (wie es Petra aus der linken Wohnung im ersten Stock gern tat). Mit seinen Notizen hängte er sich dann umgehend ans Telefon und erstattete Anzeige gegen die Verkehrssünder. Darüber stöhnten nicht nur die Betroffenen, sondern auch die Polizisten, die er herbeizitierte und die das Fehlverhalten prüfen und für Lappalien Strafzettel ausfüllen mussten.

Ob seine Pedanterie genetisch angelegt oder vielleicht in seinen langen Jahren als Bürobote im Landesamt für Gewässerverwaltung erworben worden war, kümmerte uns alle wenig. Sein Verhalten nervte einfach, und selbst wenn er mit seinen juristisch erhobenen Zeigefingern objektiv recht hatte, empfanden wir jeden einzelnen Fall als persönlichen Angriff. Irgendwie war er unser personifiziertes schlechtes Gewissen.

Als er eines Tages wieder mit seinem Notizbuch aus dem Haus gegangen war – wahrscheinlich, um die Abfallcontainer nach nicht sachgerecht sortiertem Müll zu durchsuchen –, begann der Aufstand. Bruno, der Pensionär aus der rechten Wohnung im Erdgeschoss, stieg Treppe um Treppe nach oben und klingelte an jeder Wohnungstür. »Können wir diesen Spuk nicht endlich abstellen?«, fragte er. »Kommt ihr mit? Wir warten unten an der Tür, und wenn er wieder ins Haus kommt, sperren wir ihn in den Keller.«

In den Keller. Na ja, was man so Keller nennt. In den Vermietungsanzeigen, die uns alle ins Haus gelockt hatten, waren von der Wohnungsbaugesellschaft Größe und Zuschnitt der einzelnen Wohnungen angegeben worden, und dann hatte da etwas von »Abstellmöglichkeit im Keller« gestanden. Damit waren die Lattenverschläge gemeint gewesen, in denen man Dinge unterbringt, die nicht jeden Tag gebraucht werden, aber die man dennoch aufheben will. Winterreifen und Skischuhe lagerten da, zusammengefaltete Sonnenschirme, Luftmatratzen und Weihnachtsdekorationen. In den meisten Verschlägen standen Kisten mit Wasser, Saft, Wein und Bier und Regale mit haltbaren Lebensmitteln.

Die meisten schauten Bruno zunächst konsterniert an, und einige waren erst nach intensiver Überredung bereit mitzumachen. Aber andere stimmten sofort zu und sagten, dass sie das schon lange selbst geplant hatten, und schließlich standen wir alle unten im Eingangsflur des Hauses.

»Er kommt!« Die Pretzels aus dem dritten Stock (links) hatten ihn entdeckt, wie er zufrieden von der Abfallecke auf unser Haus zuschritt. Wahrscheinlich hatte er ein paar Übeltäter ausfindig gemacht. Kaum hatte er das Haus betreten, da packten ihn kräftige Hände an den Armen und hielten ihn fest. Wir schoben ihn vom Treppenabsatz und in Richtung Untergeschoss. Trotz seiner anfänglichen Gegenwehr war es eigentlich recht einfach, ihn die Kellertreppe hinunterzudrängen.

»Sperrt ihn in seinen eigenen Verschlag«, rief der sonst eigentlich immer sehr friedfertige Bankangestellte Mehmet aus dem dritten Stock (rechts).

»Würden wir ja gern«, sagte Bruno. »Nur müssten wir dazu seinen Schlüssel haben. Er ist ja der Einzige, der bei sich immer zusperrt. Aber es reicht sicherlich, wenn wir die Eingangstür zum Kellerbereich abschließen. Wenn er Hunger hat, kann er sich ja an unsere Marmeladengläser und die Konservendosen mit den Fertigsuppen machen. Wir müssen wohl damit leben, dass er uns die Vorräte stiehlt, aber wir können so immer sagen, er sei gut versorgt.«

»Das ist doch glatte Freiheitsberaubung, was wir hier begehen. Dafür könnten wir in den Knast kommen.« Mehmets Frau Annedore, die immer etwas ängstliche Lehrerin, sah wohl ihren Beamtenstatus gefährdet und sich selbst schon hinter Gittern und ließ sich nur mühsam von Alex beruhigen.

»Entschuldige mal: Freiheitsberaubung ist ja wohl das, was er uns jetzt jahrelang angetan hat«, sagte er. »Er hat uns ständig unserer Entscheidungsfreiheit beraubt. Wir konnten nicht mehr tun, was wir wollten und was wir für richtig hielten, sondern wurden ständig ermahnt, bevormundet, drangsaliert und angeschuldigt.«

Was war das für eine Erleichterung nach dieser Aktion! Jetzt herrschte endlich Ruhe im Haus. Keine ständigen Erinnerungen mehr an unsere Pflichten, an die Hausordnung, an die gesetzlichen Regeln des Zusammenlebens. Niemand bekam mehr ständig seinen moralischen Puls geprüft. Alle atmeten wir auf, und vielleicht leisteten sich gerade deshalb so viele von uns umgehend so viele Verstöße gegen die Haus-, die Umwelt- und die Straßenverkehrsordnung.

Alex übte in der Mittagspause wieder seine Tuba und sagte, zur Rede gestellt, dass am nächsten Sonntag eine Konzertaufführung seines Blasorchesters Jericho Brass bevorstünde. Da ginge doch wohl das Recht auf gute Unterhaltung des Publikums über kleinliche Individualbeschwerden. Annedore, die sonst immer vorbildliche Müllsortiererin, wurde beobachtet, wie sie drei Weinflaschen in der Biotonne versenkte, nur weil ihr der Weg zum Glascontainer zu weit war. Auf der Straße wurde kreuz und quer geparkt, und niemand störte sich dran. Und Herbert zuckte lediglich mit den Schultern, als ihn eine junge Mutter darauf hinwies, dass sein halb auf dem Bürgersteig abgestellter Wagen ein unüberwindliches Hindernis für ihren Kinderwagen darstellte.

Aber alles das nahmen wir mehr oder weniger achselzuckend hin. Was uns viel mehr verstörte, war die Tatsache, dass am späten Nachmittag die Heizungen im Erdgeschoss und im ersten Stock nicht mehr funktionierten, und mit jeder weiteren Stunde ein weiteres Stockwerk hinzukam. Da hatte wohl unser Kellerinsasse die entsprechenden Regler entdeckt. Herbert schlug vor, die Heizungsfirma kommen zu lassen, aber wir anderen waren skeptisch. Dann würden wir ja die Tür zum Kellerflur öffnen müssen, und er hätte die Chance zu entkommen. Außerdem sei es ja noch nicht Winter und eine kalte Dusche am Morgen sei doch ziemlich erfrischend.

Dass unsere Lebensmittelvorräte nicht mehr zugänglich waren, empfanden wir als ärgerlich, und es machte wohl kurzfristig das Leben etwas teurer. Aber das ließ sich bestimmt eine Weile durch nachbarschaftliche Aushilfe regeln, und die Supermärkte hatten ja von morgens bis abends geöffnet. Petra meinte sogar, sie sei jetzt motiviert, nicht mehr so viele Dosen zu öffnen, sondern mehr frisches Gemüse auf dem Wochenmarkt zu kaufen.

Nach dem Ausfall der Heizung hatten wir gedacht, dass damit die Sabotagemöglichkeiten erschöpft seien, aber wir wurden eines Besseren belehrt. Am frühen Abend erschien auf verschiedenen Computerbildschirmen die Meldung »Kein Internet. Versuchen Sie Folgendes: Prüfen Sie Netzwerkkabel, Modem und Router.« Andere meldeten schlicht: »Sie sind zurzeit offline.« Anscheinend hatte er die Datenleitung entdeckt, die vorn an der Kellerwand ins Haus kam, und den Verteiler lahmgelegt. Auf jedem Stockwerk hörte man die Türklingeln und dann die Fragen: »Habt ihr auch kein Internet?« – »Kann ich mal von euch aus eine Mail verschicken?« – »Was meint ihr, wie lange diese Funkstille noch dauert?« Und allen im Haus dämmerte die Erkenntnis, in welchem Maße wir inzwischen digital abhängig waren.

Aber richtig ärgerlich wurde es am späteren Abend. Da war er wohl bei den elektrischen Schaltkästen im hinteren Bereich des Kellers angekommen, und es gingen im Stundentakt etagenweise die Lichter des Hauses aus. Aus der Wohnung von Bruno, der wegen seiner Gehörprobleme seinen alten Fernseher immer auf voller Lautstärke laufen ließ, kam kein Ton mehr. Er hatte zuerst missmutig, dann verzweifelt seine Fernbedienung traktiert, aber es hatte sich nichts auf dem Bildschirm gerührt.

Am nächsten Morgen war Jürgen Pretzel, nachdem sein Elektorasierer keinen Mucks getan und er sich beim ungewohnten Nassrasieren geschnitten hatte, dann auch noch nicht mal mehr in der Lage, seinen Computer hochzufahren, um das WLAN zu prüfen. Luise Pretzel wollte für ihr Frühstücksmüsli ein paar von den Himbeeren aus dem Tiefkühlfach auftauen, aber sie kam zu spät. Sie waren schon aufgetaut. Und mit ihr das halbe Hähnchen, die zwei Pizzen, die Erbsen und das Vanilleeis. Mehmet musste sich auf den Weg in den nächsten Waschsalon machen, weil seine Waschmaschine nicht mehr lief, und Petras Staubsauger blieb stumm, als sie den Erdnussschalen auf dem Teppich zu Leibe rücken wollte.

Das Wort »Abstellmöglichkeit« aus den Wohnungsanzeigen bekam für uns an diesen beiden Tagen unversehens eine ganz neue Bedeutung. Wir hatten unser schlechtes Gewissen entsorgt, indem wir es in den Keller verdrängt hatten, aber das hatte uns keineswegs Ruhe verschafft.

Die Krisenversammlung heute, am Tag nach unserer Wegsperr-Aktion, ist denn auch hochemotional. Vermutlich geht es dem Gefangenen inmitten der Lebensmittelvorräte unserer Hausgemeinschaft prächtig. Wir können uns lebhaft vorstellen, wie er auf einem der bequemen Campingstühle aus Petras Verschlag sitzt, eine Dose mit getrüffelter Gänseleber aus den Beständen von Johanna öffnet und sich den teuersten Wein aus den Regalen von Alex einschenkt. Annedores Box mit den Adventskerzen reicht ihm wahrscheinlich noch lange für die Beleuchtung.

Schon eineinhalb Stunden sitzen wir jetzt hier, und die Gräben zwischen dem »Weitermachen«-Lager und den »Das-ist-jetzt-genug«-Stimmen werden minütlich tiefer. Vor allem ist der Ton rauer geworden, und die gegenseitigen Vorwürfe werden schriller. Ruhe im Haus sieht anders aus. Scheinbar lässt sich unser Gewissen nicht einfach abstellen, indem wir es in den Keller sperren. Ganz im Gegenteil. Seit wir es aus unserem Leben verdrängt haben, stellt es unser Leben ab. Stück für Stück.


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