Читать книгу Tinas Tagebuch - Manfred Siebler - Страница 5

Kapitel 1

Оглавление

Wieder bei den Eltern

Hier schreibe ich zum ersten Mal in mein Tagebuch, es ist der 3. März 1983, aber ich will schon ab dem 1. Februar ‘83 berichten.


Jetzt habe ich die Scheiße: Vom Heim rausgeschmissen, zu Hause eingesperrt.

War's dann nicht noch im Heim besser als hier unter der mich ständig beobachtenden, völlig gestörten Mutter?

Seit ich wieder zu Hause bin, darf ich nicht mehr alleine weggehen und bin nur noch in der versifften Wohnung, und das mit ganzen fünfzehn Jahren! Eigentlich doch schon fast erwachsen!

Seit ich zum ersten Mal meine Tage hatte, faselt meine Alte ständig was von Kinderkriegen, wenn ich nicht aufpasse, und all so einen Scheiß. Hätte sie mir lieber gesagt, was ich tun soll, wenn ich Blutungen bekomme, und was das für mich bedeutet.

Stundenlang stehe ich am Fenster meines Zimmers und schaue auf den Sportplatz, der sich direkt hinter unserem Haus befindet.

Mein Zimmer?

Eigentlich ist das gar nicht mein Zimmer, sondern das Esszimmer; mir gehört nur das Klappbett, und das auch nur abends, wenn es ausgeklappt ist.

Meine Klamotten sind in einer Vitrine, die ganz klein ist mit Glastüren, sodass man alles sehen kann. Die gläserne Tina, das ist doch ein guter Vergleich, oder?

Was sich auf dem Platz abspielt, wenn ich aus dem Fenster schaue, sind mal ein paar kickende Jungs, mal eine Mannschaft vom Verein. Aber was bringt mir das? Wo ich Sport sowieso nicht leiden kann.

Meine Mutter säuft den ganzen Tag über einen Wodka nach dem anderen. Damit wir nichts merken, hat sie das Zeug in eine Wasserflasche gefüllt und zu dem Spülmittel unter der Spüle gestellt.

Obwohl ich mich den ganzen Tag fast ausschließlich in meinem „Esszimmer“ aufhalte, bilde ich mir ein, es sei mein Zimmer.

Gleich am ersten Tag nach dem Heim habe ich meine „Alte“ beobachtet, wie sie den Schnaps in die Wasserflasche abgefüllt, versteckt und die leeren Flaschen zum Müll gebracht hat.

Jetzt ist mir schon klar, warum sie so schnell ausflippt und dann herumtobt ohne Ende.

Meist habe ich das Klappbett aufgeklappt, meine Mutter will das nicht, doch ich mache ja immer meine Zimmertüre zu, sodass sie es nicht dauernd vor Augen hat. Dann lege ich mich auf das Bett, mache die Augen zu und höre Heavy Metal. Das bringt mich weg von der Scheiße hier. Möglichst laut aufdrehen, das zieht so richtig rein.

Meiner Mutter ist das immer zu laut, sie rennt dann zu mir ins Zimmer, wie von Furien gehetzt, und dreht die Musik leiser. Die anderen im Haus hätten schon bei dem Vermieter angerufen und sich beschwert.

„Lungere nicht immer da herum und mach was“, das war dann ihr Kommentar. Was ich machen soll, sagt sie aber nicht. Raus darf ich nur mit Struppi, unserem Rauhaardackel. Und das auch nicht länger als eine halbe Stunde, sonst gibt’s Stress mit ihr. Was soll ich also groß machen außer herumlungern?

Wenn ich die Lautstärke aufdrehe und die Bässe das Glas der Vitrine erzittern lassen, finde ich das richtig geil. Das baut mich immer wieder so richtig auf….

Als meine Alte vor ein paar Tagen einkaufen ging, schraubte sie die Sicherungen heraus und nahm sie mit, damit ich keine laute Musik machen konnte. Aber ohne mich! Ich drehte einfach vom Nachbarn die Sicherungen heraus, schraubte sie bei mir wieder ein, und dann ließ ich’s richtig krachen.

Als die Mutter zurückkam, traf sie die Nachbarin, die bei der Wohnungsgesellschaft angerufen hatte, damit die den Hausmeister schickt zum Nachsehen, warum sie keinen Strom hat. Bei der Gelegenheit beschwerte sie sich gleich wegen meines lauten Gedröhnes.

Meine Mutter hat gleich gemerkt wie der Hase lief, als sie ihre Sicherungen wieder eindrehen wollte.

„Du hast jetzt gleich mal zwei Wochen Hausarrest bei dem Scheiß, den du wieder gebaut hast“, brüllte sie wutentbrannt.

Ob die sich selbst zuhört? Hausarrest, wo ich doch sowieso hier eingesperrt bin!

„Du kannst mich mal am Arsch lecken, du miese Schnapsdrossel!“, schrie ich zurück.

Da rannte sie hinter mir her und wollte mich wieder schlagen, aber ich hielt die Tür zu „meinem Zimmer“ von innen zu – und nichts wurde es mit dem Verprügeln.


11.02.1983

Mit der alten Schnapsdrossel bin ich natürlich noch nicht genug gestraft, ich muss auch noch drei Brüder haben. Sie heißen Peter, Georg und Hans. Nachmittags ist es dann nicht mehr so langweilig, da kommen meine Brüder von der Schule.

Georg ist in der siebten Klasse Hauptschule und muss, wie mein Bruder Peter, jeden Tag ins Nachbar-Kaff fahren, da es bei uns nur eine Grundschule gibt.

Peter ist schon einmal sitzen geblieben und geht jetzt in die neunte Klasse.

Mein dritter Bruder Hans war schon vor Mittag hier, seine Grundschule ist bei uns im Dorf und heute ist die letzte Stunde ausgefallen.

Mit den Dreien verstehe ich mich nicht so richtig, die verpetzen alles der Mutter; die glaubt alles, und hackt dann auf mir herum. Auch werden sie immer als Spione eingesetzt, um hinter mir her zu spionieren. Aber es ist immer noch besser, mit denen zu streiten, als mit der Mutter zu reden. Die ist mir einfach zu dumm, die Alte.

Jetzt habe ich meine Kleider alle in die Vitrine eingeräumt, nachdem ich sie tagelang im Koffer hatte. Beim Einräumen merkte ich, dass ich fast nichts Neues habe. Alles altes Zeug und keine Markenklamotten. Das passt zu mir. So unscheinbar und nichtssagend wie ich selbst sind auch meine Kleider. Wenn ich meine Haare nicht jeden Tag waschen würde, fortlaufend bürsten und lang auskämmen, hätte ich überhaupt nichts, was mich ausmacht. Ich trage sie in der Mitte gescheitelt, sie sind glatt und braun und gehen mir bis auf die Schultern, der Pony verdeckt meine Augen fast ganz und ich kann mich gut dahinter verstecken. Meine Nase finde ich zu dick, die Lippen zu schmal, alles Mist. Meine drei Brüder sind größer als ich, aber ich bin immer noch größer als meine Mutter. Meine Brüste finde ich eher zu groß, im Heim musste ich sie immer verteidigen, die Jungs wollten immer anfassen. Alles Schweine. Meist trage ich Hosen und einen Strickpulli, hat alles die Frau gekauft, die meine Mutter ist. Also zusammengefasst: ich bin außen wie innen eine Niete. Wer sollte mich da auch lieben? Kein Schwein. Wie soll ich da jemandem auffallen, einem Kerl, der was bringt? Vielleicht bekomme ich meinen Vater dazu, etwas Kohle rausrücken, mir wenigstens das Geld für zwei oder drei Teile zu geben, damit ich mir was Schönes zum Anziehen kaufen kann. Aber der ist ja ein Ausländer. Der ist zwar schon lange Zeit in Deutschland, aber trotzdem nimmt er den Deutschen die Arbeitsstelle weg. Wir haben doch schon genug Arbeitslose und wenn die vom Ausland noch alle kommen, haben wir selbst keine Arbeitsstellen mehr.

Dauernd erzählt er mir, wie die Kinder in Rumänien leben, und dass ich meine Ansprüche endlich herunterschrauben soll. Wenn der abends nur früher nach Hause käme! Es ist immer so zehn oder elf Uhr und dann ist er in seinem Suff nicht mehr ansprechbar. In der Kneipe kann ich auch nicht mit ihm sprechen, denn da ist er ja angeblich nicht. Er sagt dann immer, er müsste so lange schaffen, dabei wissen wir ja alle, dass das nicht stimmt. Vielleicht geht’s am Sonntag, wenn er vom Frühschoppen zum Essen nach Hause kommt. Dann haue ich ihn an für Klamottengeld. Mal sehen.

Was ich mir sonst noch kaufen müsste, wären Shampoo, Duschgel, einen neuen Kamm – und überhaupt habe ich fast nichts mehr an Kosmetikartikeln, seit ich aus dem Heim weg bin. Entweder wurde es dort geklaut oder ich hab es verschenkt. Mit Nichts, was mit einem Heim zu tun hat, will ich auf Lebzeiten nochmal etwas zu tun haben. Vor allem will ich keine Nonne mehr sehen, solange ich lebe, diese falschen Schlangen! Das werde ich mir nie mehr antun. Aber Geld bekomme ich hier so schnell keines. „Dein Vater verdient nicht viel, es reicht ja kaum zum Essen Kaufen“, das ist immer die gleiche Antwort, wenn ich was von der Alten will. Aber für andere Dinge reicht es immer, oder wo kommt der Schnaps her?! Auf jeden Fall muss ich an Kippen rankommen; schon so drei Jahre rauche ich, ohne dass die Eltern es wissen. Ein Fünfmarkstück werde ich der Alten schon aus dem Geldbeutel klauen können. Ich muss nur höllisch aufpassen, dass sie mich nicht dabei erwischt.


12.02.1983

Heute habe ich endlich alles eingeräumt und das Zimmer sauber gemacht. Danach ging's ab in die Wanne. Das war richtig geil, das warme Wasser, der Schaum, und jetzt hätte ich nur noch eine Zigarette gebraucht. Aber das ging ja leider nicht. Als wüsste die Alte, was ich vorhabe, gibt sie mir keine Gelegenheit, an ihren Geldbeutel zu kommen.

Plötzlich ging die Tür auf und Peter kam herein, eigentlich war er ja zu der Zeit in der Schule, weiß Gott warum der jetzt da war.

„Raus aus dem Bad, du Depp“, rief ich ihm zu.

„Ich muss nur schnell pinkeln und bin dann wieder weg. Was soll ich dir denn weg glotzen?“

„Du sollst sofort die Fliege machen, hättest in der Schule gehen können!“

„Scheiße“, sagte er und ging laut schimpfend raus.

Der nervte noch eine ganze Weile, doch ich ließ mir Zeit.

Als ich aus dem Bad kam, machte mich meine Mutter total dreckig an: „Du kannst den Jungen doch nicht so lange warten lassen, der pisst sich doch die Hose voll. Du stellst dich an wie die Prinzessin auf der Erbse. Mit dir werd‘ ich noch verrückt, du Miststück. Das ist doch schließlich dein Bruder!“

„Bis ich den Arsch reinlasse, kannst du lange warten. Der glotzt immer so, als ob es bei mir was zu sehen gibt.“

„Peter schaut dir schon nichts ab.“

So ging das hin und her und ich hätte ihr fast noch gesagt, dass Peter sich danach bloß noch einen runterholt, wenn er mich nackt in der Wanne sieht. Aber ich ließ es bleiben, sonst dreht die mir noch ganz durch.


04.03.1983

Heute ist Freitag und ich bin schon den ganzen Tag hibbelig, ich muss raus aus diesem Knast, wo einem jeder auf den Sack geht. Die Alte hat sich schon wieder zugedröhnt, Peter und Georg sind bei irgendwelchen Kumpels, Hans spielt im Kinderschlafzimmer, obwohl da eigentlich kein Platz zu Spielen ist, schließlich schlafen da alle drei Jungs, und Vater ist, wie immer, nicht hier. Jetzt habe ich fast den ganzen Monat nichts geschrieben. Alles so trostlos, nichts läuft, und ich bin jeden Tag der Bande von Familie ausgeliefert, die alle gegen mich sind. So viel Arschlöcher um mich herum, wie soll ich das auf Dauer aushalten? Nur Struppi hält zu mir. Und ihm habe ich es zu verdanken, dass der heutige Freitag mein Glückstag ist. Aber der Reihe nach.

„Kann ich mit Struppi Gassi gehen?“, fragte ich die Alte. „Ja, aber nicht wieder ewig wegbleiben“, antwortete sie mir. Jetzt endlich: Ein schneller Griff in den Geldbeutel und zack, fünf Mark ergattert. Struppi bellte die ganze Strecke bis zur Kneipe, wo mein Alter saß und sich volllaufen ließ. Mich konnte er nicht sehen, weil der Zigarettenautomat im Gang der Kneipe hängt. Vor der Kneipe, direkt am Eingang, lehnte sich so ein Typ gegen den Rahmen, schwarzhaarig, lange gepflegte Haare, mit Gel nach hinten gekämmt lagen die eng an und glänzten ganz toll. Richtig toll… Ich musste unbedingt mit ihm ins Gespräch kommen und fragte ihn, ob er mir Feuer geben könnte. Er hatte ein Feuerzeug, das man ganz einfach und lässig mit dem Daumen bedienen kann. Der erste Zug seit dem Heim, das war sooo entspannend.

„Du von hier“, fragte er mich in gebrochenem Deutsch.

Mein Herz rutschte schlagartig in meine Hosentasche, der sprach doch tatsächlich mit mir.

„Ja, gehe mit Struppi raus. Damit der kacken kann“, sagte ich zu ihm. Hab ich das wirklich gesagt?! Peinlicher ging es ja nicht mehr.

Aber der sprach trotzdem mit mir, so einem Gänschen mit fünfzehn Jahren. Jetzt bloß nicht zu kindisch sein, ich zog an meiner Zigarette und blies den Rauch so gekonnt aus, dass ich mir ein paar Jahre älter vorkam.

Er sagte was, aber ich war immer noch so verdattert, dass ich nicht verstand, was er wollte.

Er wiederholte seine Frage: „Willst du spielen, ich zahl.“

Er meinte wohl den Spielautomaten, der im Eingang der Pinte hing.

Ich nahm die Mark, die er mir gab, und warf sie ein. Kaum zu glauben, es klickte zwanzig Mal und ich hatte das Geld für vier Schachteln Kippen!

„Wenn das nicht OK ist“, meinte mein Gönner. Ich sag ja, heute ist mein Glückstag! Und dieser Typ brachte mir Glück, das spürte ich gleich.

Er wollte mir einen ausgeben, aber da war doch mein Alter drin, und es hätte eine irre Szene gegeben, wenn der mich gesehen hätte – noch dazu mit einem Mann. Aber ich wollte auch nicht wie ein Baby wirken! Oh Je… Irgendwie musste ich den Typen ablenken.

Er zündete sich eine neue Kippe an und gab sie mir. Ich fragte ihn, wo er denn wohnte, und er schüttelte nur den Kopf. Nachdem er auch auf andere Fragen nur mit Achselzucken oder Hochziehen der Augenbrauen reagierte, war mir klar, dass der mich nicht verstand.

„Dein Name?“, versuchte ich es weiter.

Er antwortete mit: „Toni.“ Und: „Italiano.“

Also war er Italiener, der lässige Typ. Mein Gott, der interessiert sich doch nicht gar für mich! Was will der mit mir?

Plötzlich hörte ich die Stimme meines Vaters in meinem Kopf, der ist zwar Rumäne, aber die kommen ja alle irgendwie aus dem Süden. Ist der Toni dann nicht auch ein Ausländer? Wieder so ein Typ, der den Deutschen die Arbeitsstelle wegnimmt? Scheiße, Scheiße, Scheiße – aber halt: Sind die Italiener nicht alle Katholiken? Dann zählt er ja gar nicht zu den Scheißkerlen von Ausländern, die besser in ihrem Land leben sollten. Oder bringe ich da was durcheinander? Ach, völlig egal: Ausländer hin oder her, da war ein richtiger Mann und der redete mit mir. Scheiße war nur mein Hund, der störte ohne Ende. Struppi ging mir echt auf die Nerven, bellte die ganze Zeit, wollte wohl mit mir spazieren gehen. Toni ging dann mit mir und Struppi die Straße entlang, wir rauchten beide wie die Weltmeister eine nach der anderen. Wir brauchten nicht zu sparen, denn Toni hatte genug dabei. Dazu tranken wir gemeinsam aus der Bierflasche, die Toni bei sich hatte. Es war, als hätten wir das schon tausende Male gemacht.

Eigentlich ist er ja ein alter Mann für mich, er muss ja mindestens achtzehn Jahre alt sein, sonst hätte er keinen Führerschein. Wir kamen zu seinem Auto, ich glaubte es nicht: Ein Ferrari! Da fuhr einer wie er einen roten Ferrari und lud mich ein, mit ihm zusammen eine Runde zu fahren. Beim Einsteigen riss sich Struppi los und rannte davon. Ich bekam gar nicht so richtig mit, dass er jetzt weg war. Ich hatte nur noch Augen für Toni und bekam nichts mehr außenrum mit. Wir fuhren auf die direkt an unseren Ort angrenzende Autobahn und er drehte richtig auf. Mein Gott, mir wurde fast schwindlig von der Raserei. Toni wollte immer weiterfahren, aber ich wollte wieder zurück, denn ich hatte endlich bemerkt, dass wir Struppi nicht dabeihatten.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Toni dann tatsächlich zurückfuhr. Er setzte mich wieder an der Kneipe ab. Er hat mir dann noch geholfen, meinen Hund zu suchen – was für ein klasse Typ! Der dumme Hund war doch tatsächlich zurückgelaufen und stand vor unserem Haus, zitternd vor Angst. Toni ging dann rauchend zu seinem Auto zurück, wir wollten uns am nächsten Tag um die gleiche Zeit wiedersehen.

Meine Mutter hat natürlich nichts bemerkt, sie schaut fernsehen und ich glaube, sie ist schon wieder high.


10.03.1983

Die nächsten Tage ließ sie mich nicht mehr weg, hatte ihr doch tatsächlich die dämliche Nachbarin erzählt, Struppi hätte eine ganze Weile vor dem Haus gewinselt und von mir sei nichts zu sehen gewesen. Haben die Arschlöcher eigentlich alle kein eigenes Leben? Müssen die hinter mir her spionieren und mich auf Schritt und Tritt kontrollieren? Ich habe so die Schnauze voll von diesen Aasgeiern hier. Der einzige Lichtblick ist Toni, aber wie soll ich mich jetzt mit ihm treffen können? Ist einfach alles scheiße hier…


17.03.1983

Heute nahm mich meine Mutter mit zur einzigen Bäckerei in unserem Ort. Die suchen nämlich einen Lehrling. Die Bäckersfrau wollte mir eine Chance geben. Was der blöden Tunte gleich auffiel, waren meine Tätowierungen. Ich hatte die Ärmel leicht hochgekrempelt und meine Jacke ausgezogen, weil es so heiß war bei denen. Meine Alte hat aber gleich gesagt, da würden ihre Kunden sicher nichts von mitkriegen, ich würde immer nur Oberteile mit langen Ärmeln tragen. Wenn die Bäckersfrau wüsste, dass ich einen riesigen Adler auf dem Rücken und mehrere Phantasiegestalten auf beiden Armen habe würde sie doch glatt ausrasten. Nichts wäre es mit der Stelle hier.

Überzeugt von mir hat die Bäckerin nicht gewirkt, doch sie beließ es dabei.

Eigentlich kann ich es als Verkäuferin einmal probieren. So schwer kann das doch nicht sein. Stehe hinter der Theke und gebe den Kunden, was sie wollen. Mit Quatschen muss ich ja nicht unbedingt glänzen. Die kenne ich ja meist gar nicht und mit Fremden quatsche ich auf der Straße auch nicht. Was soll’s also, was ist daran auch noch groß zu lernen? Ich soll morgen gleich anfangen. Keine Ahnung, was das soll, ich habe so schnell keinen Bock, für jemanden die Dienstmagd zu spielen. Aber immerhin komme ich dann endlich mal wieder raus aus dem Gefängnis hier und kann, wenn ich es geschickt anstelle, vielleicht Toni nach Feierabend sehen… Er vermisst mich doch genauso wie ich ihn!


18.03.1983

Sechs Uhr aufstehen, Haare waschen, anziehen und dann ging es los. Zeit hatte ich noch genug, um gleich zwei Zigaretten zu rauchen, bevor ich mich in der Bäckerei meldete. Aufgeregt war ich bis zum Anschlag, hätte ich aber natürlich nie zugegeben. Frau Kolbus, das war der Namen der Chefin, hat sicherlich schon die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie endlich jemanden hat, den sie schikanieren kann. Erstmal musste ich die Hände waschen, dann eine Schürze anziehen, dann schleppte ich den ganzen Tag Brot und so Zeug von der Backstube in den Verkaufsraum. Kaum hatte ich mal nichts zu tun: Hände waschen. Ich kam mir vor wie eine dreckige Schlampe. In der Mittagspause machte ich erstmal einen Umweg auf dem Nachhauseweg, damit ich endlich eine rauchen konnte. Das war richtig gut und mehr als überfällig bei dem Stress. Einmal wieder tief durchatmen. Meine Mutter hatte natürlich wieder nichts gekocht, also musste ich so ein trockenes Brötchen runterwürgen. Die hat überhaupt nicht gefragt, wie es war, kein Wort, nur dass ich nach Feierabend gleich nach Hause kommen soll. Toll, wo ich doch endlich Toni treffen wollte. Mittags gab es dann richtig Stress, weil ich mit dem Korb voller Brötchen stolperte und der ganze Inhalt in den Verkaufsraum fiel. Zwei Kundinnen haben sich dann richtig aufgeregt als sie sahen, dass ich die Brötchen einfach in die Fächer räumen wollte. Die wären ja auf dem Boden gewesen und wer weiß was auf dem Boden alles an Bakterien und so wären. Mein Gott, man kann’s auch übertreiben! Wenn die wüssten, wie es bei uns zuhause aussieht. Frau Kolbus tat zuerst so, als hätte sie nicht bemerkt, dass ich die Brötchen vom Fußboden in die entsprechenden Körbe legen wollte. Als die eine Kundin dann so aufdrehte, schrie sie mich plötzlich an, ich sei eine Schlampe und so ginge das nicht. Zur Strafe musste ich dann die Backstube ausfegen. Der Chef und sein Geselle hatten schon Feierabend, nur die Teigmaschine für den Sauerteig für den nächsten Tag lief noch. Ich hatte eine Wut ohne Ende, so eine Scheiße, wo war ich denn da hingeraten? Aber hätte mir ja denken können, dass das nichts wird, hat ja schließlich meine Alte rausgesucht. Als ich alles zusammengefegt hatte, habe ich den Inhalt der Schippe in die laufende Brotbackmaschine gekippt. Jetzt hatten sie ihre Scheiße. Blöd war nur, dass der Bäckermeister gerade zur Tür hereinkam. Alles Leugnen half nichts, Herr Kolbus war auf hundertachtzig. So etwas hätte er noch nie gesehen, ob mich der Teufel geritten hätte, sofort mit zur Chefin. Die drehte dann so richtig auf und ich konnte zusammenpacken. Die Probezeit ist beendet. Alles wegen einem bisschen Staub, Mehl und Dreck. Das hätte doch niemand bemerkt. Ich bin nicht gleich nach Hause gegangen, sondern hab mich in den Schlossgarten gesetzt und eine geraucht. Im Ort haben wir ein kleines Schloss, mit einem noch kleineren Garten, wo ich immer gerne hingehe, wenn mir alles zu viel wird.

Es war kaum zu glauben, aber Toni fuhr vorbei, bemerkte mein Winken in letzter Sekunde und fuhr rückwärts zu mir. Er muss einen siebten Sinn haben, wenn etwas mit mir nicht stimmt!

„Was machst du denn hier am Schloss, Ausgang und dann Hund?“ fragte er mich.

„Gut, dass du da bist, ich bin gerade gekündigt worden!“, sagte ich zu ihm, selbst noch fassungslos.

„Gekündigt, du doch gar keine Arbeit“, meinte er zu mir.

„Die Schlampe von Bäckerin hat mich grundlos rausgeworfen! Ich wollte dort eine Lehre machen und jetzt geht nichts mehr.“

Toni stieg aus und ich fiel ihm um den Hals. Er war da, jetzt war alles gut und ich fühlte mich gleich besser.

Toni nahm mich dann im Auto mit und wir düsten ein bisschen in der Gegend herum. Ich konnte ja sowieso erst nach Verkaufsschluss nach Hause kommen, sonst fiel das mit dem Rausschmiss gleich auf. Das Zetern meiner Mutter war das letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.

Zu Hause dann angekommen, erwartete mich meine Alte vor der Haustür, meine Brüder standen widerlich grinsend bei ihr.

„Du bist doch das größte Dreckstück, das mir je untergekommen ist”, schoss sie mir entgegen. „Wo warst du die ganze Zeit, und wer ist der Typ, der dich an der Ecke abgesetzt hat?“, fragte sie.

Sie wollte mich wohl mit Struppi nach Ladenschluss an der Bäckerei abholen und bekam dann von Frau Kolbus, die meine Mutter vor dem Laden stehen sah, brühwarm erzählt, was für eine Nummer ich wäre. Ich sag’s doch, die haben alle kein Leben. Der einzige Sinn besteht darin, mich fertigzumachen. Sie wollte mich nie wiedersehen, so einen Lehrling hätten sie noch nie gehabt.

Wieder Hausarrest und jetzt will die Alte wieder mit mir zum Jugendamt, mit mir sei ja doch nichts anzufangen. War ja klar, dass ich die Scheiße wieder ausbaden muss. Wäre mir aber alles egal, wenn ich bloß Toni wiedersehen könnte. Irgendwas muss ich mir einfallen lassen! In dem Loch hier geh ich noch ein. Was für ein verdammter Scheißtag!!!


18.04.1983

Heute ist mein Geburtstag. Mein Geburtstagsgeschenk war, dass ich trotz meines Hausarrestes mit Struppi Gassi gehen durfte. Zu gütig! „Wenn wir wieder nach Ludwigshafen zum Einkaufen fahren, bekommst du ein Paar Schuhe, aber richtige Schuhe und keine Turnschuhe. Dann hast du ein tolles Geschenk. So lange musst du eben noch warten.” So eine Scheiße erzählt die mir. Wann kommen wir denn nach Ludwigshafen zum Einkaufen? Die soll sich die Schuhe sonst wo hinschieben, von der will ich gar nichts, überhaupt nichts, dem alten ARSCHLOCH.

Die wollen mich sicher wieder in ein Heim schleppen, aber da bekommen die mich nicht mehr hin. Lieber lebe ich auf der Straße oder bei Toni, der muss doch auch irgendwo wohnen. Das ist eigentlich keine schlechte Idee.


25.04.1983

Die Sozialarbeiterin, die für uns zuständig ist, kam heute bei uns vorbei. Natürlich gab sie meiner Mutter Recht und ich war wieder die Gearschte. Sie hatte eine Adresse von einer anderen Bäckerei zwei Ortschaften weiter. Die wären dort ganz in Ordnung und ich würde nicht schikaniert werden. Als ob! Ich weiß doch, wie das wieder endet. Aber ich hab ja nichts zu melden. Also auf ein Neues. Gleich nach dem Wochenende fahren wir mit dem Bus zum Vorstellen.


04.05.1983

Vor ein paar Tagen habe ich also dort angefangen. Nicht gleich um sieben, wenn der Laden aufmacht, sondern eine halbe Stunde später, da vorher kein Bus fährt. Die Chefin meinte zwar, ich könnte doch mit dem Fahrrad fahren und so gleich zur Öffnungszeit da sein, aber die hat ja den Arsch offen! Das sind mindestens zwölf Kilometer und das mit dem alten Bock, den ich habe.

Heute musste ich in der Backstube helfen, weil der Lehrling krank ist. Das fing gut an, Mehl schleppen, Brote zum Abkühlen fahren, wieder reinholen in die Backstube, Teig mit einer so komischen Maschine teilen, auf eine Arbeitsplatte bringen und so weiter. Am Nachmittag durfte ich dann gnädigerweise im Verkaufsraum helfen. Brötchen eintüten, Brot einwickeln und Kuchenstücke einpacken.


05.05.1983

Die Chefin war heute alleine, denn die Verkäuferin hat kurzfristig Urlaub bekommen, ich glaube ihr Vater ist verstorben oder so. Die Hektik im Laden war deshalb nicht auszuhalten. Die sprach mit mir kein einziges Wort, gab nur ständig irgendwelche Befehle. Das kann ja noch heiter werden. Ich bin total kaputt und will nur noch schlafen.


06.05.1983

Heute verlief es nicht anders als bisher, mir tut der Rücken weh, die Knie zitterten und in den Armen hab ich Muskelkater. Abends wollte die Chefin mit mir nach Ladenschluss die Vitrinen auswaschen, die Regale sollten danach drankommen und dann noch die Schaufensterscheiben. Das könne man während des Tages nicht machen, daher abends. Mein nächster Bus fuhr erst zwei Stunden später, aber das fand meine neue Chefin nicht so wichtig, dann könne man ja noch in den Autos alles reinigen. Mit den beiden Firmenwagen wurden die Backwaren morgens wer weiß wohin gefahren. Die kam mir gerade recht, gleich zum Beginn der Probezeit auch noch Überstunden, die hat sie wohl nicht alle! Ich erzählte ihr, ich müsste pünktlich mit der Arbeit aufhören, denn meine Mutter wollte mit meinem Bruder Hans zum Arzt in die Abendsprechstunde, mein kleiner Bruder hat immer schnell Fieber und hustet wie verrückt. Da mein Vater krank zu Hause läge und stündlich eine bestimmte Arznei bekäme, müsste ich sie ihm geben, da meine Mutter ja selbst beim Arzt war.

Das kam nicht gut an, sie wollte sich überlegen, ob das mit uns zwei was werde, und so eine, die schon zu Beginn solche Zicken mache, eine Lehrzeit überhaupt nicht durchhalten könne. Aber sie ließ mich gehen. Geschafft.

Toni hatte mich noch in der Straße abgepasst und wir fuhren ein bisschen so herum.

Als es dunkel wurde, stellte er das Auto auf einen Parkplatz. Wir saßen im Auto und erzählten uns, was so alles war in der Vergangenheit, so gut es mit seinem Deutsch ging. Dabei kam er mir immer näher und schob seine rechte Hand ganz unauffällig um meine Taille und berührte so meine Brust. Es hat mich geschüttelt und ich zog mich zurück. Was sollte das? Die Berührung meiner Brust war aber erst der Anfang. Seine linke Hand war, und ich weiß gar nicht, wie es dazu kam, urplötzlich in meinem Schlüpfer. Erst wollte ich sie rausziehen, doch dann ließ ich es. Der denkt doch sonst, ich bin ein kleines Gänschen und macht vielleicht Schluss mit mir. Da musste ich jetzt durch. Dann küssten wir uns wie die Verrückten, meine Güte, Toni macht mich ganz scharf, sowas müssen wir öfters machen! Plötzlich waren die Bullen am Auto und wollten Tonis Papiere sehen. Ich hielt mich ganz still und drehte meinen Kopf weg, damit die nicht so genau hinsehen konnten. Wenn die mitgekriegt hätten, dass ich erst fünfzehn bin, hätten sie mich womöglich bei meinen Eltern abgeliefert. Nicht auszudenken, was dann passiert wäre. Und wie peinlich das vor Toni wäre! Aber sie gingen wieder und wünschten uns noch einen schönen Abend, die Arschlöcher.

Inzwischen war es zehn Uhr und ich hatte um halb sieben Schluss gehabt in der Bäckerei. Das konnte ich denen nicht erklären, wo ich die ganze Zeit war. Auch mein Alter ist ja zu der Zeit zu Hause und es gab bestimmt Dresche. So ein Scheiß, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Toni meinte, ich sollte dann eben mit ihm nach Hause gehen, schlimmer konnte es ja nicht mehr werden.

Also ab zu Toni. Ich schreibe das hier gerade, während er unter der Dusche ist. Mein Tagebuch nehme ich immer in der Tasche mit, damit es zu Hause niemand erwischt.

Jetzt ist er fertig, darum berichte ich beim nächsten Mal genauer, wie wir hier herkamen und wie es hier so aussieht. Jetzt genieße ich erst mal die Zeit mit Toni und versuche, die ganze andere Scheiße zu vergessen…


07.05.1983

So, jetzt habe ich Zeit, von der ersten Nacht bei Toni zu erzählen. Wir mussten uns durch die Hofeinfahrt schleichen, denn Toni darf niemanden nach Hause bringen. Er hat gar keine Aufenthaltsgenehmigung und auch polizeilich ist er nicht gemeldet. Ich weiß nicht so richtig, was ich davon halten soll. Aber eigentlich ist es auch egal, Hauptsache, er ist hier. Dann ging es weiter durch den Hof und in ein kleines Häuschen mit eigenem Eingang. In seinem Wohnraum schläft er auch, da es ansonsten nur noch eine Kochnische gibt und eine Toilette. Kaum waren wir im Raum, blieb mir das Herz stehen, ein Hund so groß wie ein Kalb kam auf mich zu.

„Toni, Hilfe, der macht mich alle“, rief ich lauter als Toni lieb war.

„Der nicht böse, der lieb.“ Ich klammerte mich an meinen Freund und wollte mit den Füßen den Hund wegstoßen, aber Toni drückte meine Füße immer wieder auf den Boden zurück.

„Schirokko“, rief Toni das Riesenvieh, und kraulte sein Ungetüm, bis es sich beruhigt hatte und sich auf seinem Schlafplatz hinlegte. So ganz traute ich dem Vieh nicht und hielt mich für den Rest des Abends im Schutz von Toni auf.

Später ging Toni noch mit ihm Gassi und wir legten uns in Tonis Bett.

Außer der Hose habe ich nichts ausgezogen. War doch irgendwie ganz komisch, was wir da machten. Toni schlief nur mit seinem Schlüpfer. Wir kuschelten uns eng aneinander, das Bett war nicht sehr breit. Mein Freund schraubte ganz schön wild an mir herum, mir wurde immer heißer. Die Hand in meinem Schlüpfer ließ ich ja noch zu, aber als er ihn ausziehen wollte, ging mir das zu weit. Ich hielt meine Hände vor meine Muschi und sagte immer wieder: „Bitte nicht, bitte nicht!“

Ich glaube, er hat mich irgendwie verstanden und wir schliefen dann später auch so ein.


20.05.1983

Die letzten Tage waren voll langweilig. Fernsehen, auf Toni warten und einmal am Tag mit dem Hund rausgehen. Angst hab ich immer noch vor dem Vieh, das sieht wirklich aus wie ein Wolf. Aber es lässt mich in Ruhe, wenn wir alleine sind. Nervös und aktiv wird es erst, wenn Toni nach Hause kommt. Wenn er nur nicht immer so spät kommen würde. Aber er sagt, er brauche das Geld, deswegen die Überstunden. Am Schönsten sind die Nächte, das Kuscheln und Knutschen. Aber es ist jede Nacht ein ständiges Abwehren gegen Tonis Angriff auf meine Unschuld. Ich spüre durch die Hose seinen Steifen, total riesig muss der sein, aber gesehen hab ich ihn noch nie. Will ich auch nicht!!!

Ich glaub, ich bin einfach noch nicht so weit, das erste Mal will ich ganz entspannt erleben, ganz toll, es soll das Größte sein in meinem Leben. Toni versteht das nicht so ganz, ich glaube, er hält es bald nicht mehr aus und ich muss nachgeben.


21.05.1983

Heute geht die Welt unter. Heute ist alles Scheiße. Heute bring ich noch einen um. Heute heule ich nur noch. Ob aus Wut oder Enttäuschung weiß ich nicht.

Ich kann nicht glauben, was passiert ist. Warum bin ich immer die Gearschte?

Aber von vorne, ich muss meine Gedanken ordnen: Toni hat mich zum Einkaufen geschickt. Putzmittel und so einen Scheiß, er hatte mir alles aufgeschrieben und ich bin dann los. Er meinte, es sieht mich schon niemand, ich könne ruhig gehen. Das kam mir schon komisch vor: die ganze Zeit wollte er, dass ich nicht nach draußen gehe, weil ich sonst gesehen werden könnte, und jetzt plötzlich kann ich doch raus.

Als ich nachmittags nach Hause kam, war es merkwürdig still. Kein Schirokko, kein Toni, keine Musik. Was war los?

Ich fand einen Zettel auf dem Tisch, auf dem „weg“ draufstand. Alle seine Klamotten, seine persönlichen Dinge von der Zahnbürste bis zum Rasierer, alles weg. Das Auto hatte ich auch nicht vor dem Haus gesehen. Wo ist er hin??

Ich heule schon die ganze Nacht, aber Toni bleibt weg, und ich hab nicht die leiseste Ahnung, wo der Arsch ist. Vor lauter Wut hab ich vom Geschirr jede Menge an die Wand geworfen, das Kopfkissen und die Bettdecke zerrissen. Jetzt sieht es hier aus wie bei den Vandalen oder wie die sich nennen… Geschieht ihm nur recht.


22.05.1983

Gegen Morgen habe ich dann vor lauter Ermüdung doch noch ein bisschen geschlafen. Was soll ich denn jetzt machen? Toni ist weg, ich bin alleine. Nach Hause gehen? Die Alte bringt mich um, ich bin ja schon seit Wochen ausgerissen und sie wissen zu Hause nicht, wo ich bin. Ob sie mich suchen? Ich glaube, das müssen sie, hatte damals schon die Heimleiterin gesagt, als ich dort ausgerissen war. Wegen der Aufsichtspflicht oder so. Na prima, dann kann mich also jederzeit die Polizei erkennen, wenn ich jetzt rausgehe. Aber hier bleiben kann ich auch nicht, die Vermieterin macht ja die ganze Zeit schon Theater. Als Toni noch da war, musste er sie ständig beruhigen und noch Geld drauflegen zur Miete. Hat sie gleich voll ausgenutzt, die Schlampe.

Ob ich zum Jugendamt gehe? Besser nicht, die stecken mich doch gleich ins Heim. Da hab ich keine Chance. Also doch zur Mutter? Ob die mich auch gleich ins Heim steckt?

Ich hab mich gerade am linken Arm geritzt. Toni hat ein ganz scharfes Messer, mit dem er den Fisch immer ausnahm. Das tat richtig gut, wie das Blut so langsam herausquoll. Deshalb hab ich mich gleich nochmal geritzt. Tat gar nicht weh und beruhigte mich unglaublich. Ich sah zu, wie das Blut so am Arm entlang floss, bis es dann auf den Boden tropfte. Der ganze Boden wurde rot. Ich wischte das Zeug auf und tupfte es auch am Arm weg. Toni hat große Pflaster in der Schublade, ich fand sie aber nicht, hatte der Dreckskerl alles mitgenommen. Was ich fand, war eine Binde, also wickelte ich mir die um die Schnittwunden. Dann legte ich mich aufs Bett und dachte nach. Was jetzt?

Heute ist Pfingsten und morgen Pfingstmontag, ein Feiertag, die Geschäfte sind zu und ich sitze hier dumm herum. Alleine mit der Vermieterin im Nacken.

Ein Ruck und ich habe beschlossen, ich gehe nach Hause. Schlimmer als früher kann es ja nicht werden, oder?


„Wo kommst du Schlampe jetzt her? Wenn du schwanger bist, dann hast du das verdient. Mit wem hast du denn rumgehurt die ganze Zeit? Glaub ja nicht, dass ich den Bangert großziehe!!“

So hat mich meine Alte begrüßt.

Ich ging wortlos an ihr vorbei und in mein Zimmer. Drehte den Schlüssel herum und warf mich auf das Klappbett. Vor der Tür stand meine Mutter, schrie und trommelte mit den Fäusten gegen die Türe. Ich habe mir die Ohren zugehalten und grenzenlos geweint. Warum hat sie mich nicht in den Arm genommen, mir über das Haar gestreichelt und war froh, mich lebend wiederzusehen?

Vorhin hat es dann geklopft. Ich schrie: „Fick dich, du alte Kuh! Lass mich endlich in Ruhe!“

„Tina, ich möchte ganz gern mit dir sprechen“, rief eine mir bekannte männliche Stimme. Es war Herr Schumann, der Arsch vom Jugendamt, der seine Kollegin vertritt oder so. Also geht’s wieder ab ins Heim, wie früher schon, dachte ich. Was anderes fällt denen ja nicht ein.

Er ließ nicht locker mit seiner Klopperei und dem Betteln, dass ich die Tür aufmachen soll.

Irgendwann stand ich auf, öffnete die Tür, und warf mich wieder aufs Bett.

Da saßen sie dann, meine Alte und der Typ vom Jugendamt. Es hörte sich für mich an wie ein Selbstgespräch der Beiden, als ob ich gar nicht im Raum wäre.

„Haaaaallo, könnt ihr auch mit mir reden, oder was soll das ganze Theater?“ rief ich, wischte mir die Tränen ab und setzte mich auf den Bettrand.

Die wollten dann erst mal wissen, wo ich in der letzten Zeit gewesen war. Aber das binde ich denen nicht auf die Nase, ich bin doch nicht blöd. Dann wollten sie noch wissen, wie ich mir das weitere Leben jetzt vorstelle. Woher soll ich das denn wissen? Sitzen hier und spielen sich auf mit ihren neunmalklugen Fragen! Und am Ende ist es sowieso wieder egal, was ich will. Da ist mir direkt der Geduldsfaden gerissen:

„Lasst mich einfach in Ruhe. Ich brauch euch nicht und eure beschissenen Lehren erst recht nicht!“

Es ging hin und her, wir kamen zu keinem Ende. Herr Schumann meinte noch, bevor er endlich ging, er hätte vielleicht eine Idee. Aber die müsste er erst im Amt abklären. Morgen würden wir wieder von ihm hören.

Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, schloss ich gleich wieder ab. Ich wollte keinen von denen mehr sehen. Nie mehr.

Als vorhin mein Vater nach Hause kam, wollte er mich sprechen. Er hat fast die Türe aufgebrochen, so wild war er, als ich nicht reagierte. Doch dann gab er auf. Der hatte den Kanal wieder ganz schön voll, wie auch meine Mutter. Hat sich offensichtlich nichts geändert hier.

Inzwischen ist es Nacht, eben hab ich mich in die Küche geschlichen und mir Brot und Wurst geholt. Mein Gott, hab ich einen Kohldampf! Im Kühlschrank war auch noch eine Flasche Bier, die ich gerade mit einem Zug leergetrunken hab. Jetzt geht‘s mir wieder gut, so langsam sollte ich auch mal versuchen zu schlafen.


25.05.1983

Heute um kurz vor elf stand der Sozialarbeiter wieder vor der Tür. Der hat doch auch nichts Besseres zu tun. Ich lag natürlich noch im Bett, da ist es schön warm und kuschelig und keiner will was von mir. Oder eben doch, wie der Sozialheini. Also hoch, aufschließen und an der Alten und dem Sozialarbeiter vorbei ins Bad. Erstmal duschen, Haare waschen und föhnen. Die beiden gingen mir ganz schön auf die Nerven, standen schon wieder vor der Tür und wollten, dass ich mich beeile. Ich hatte es aber gar nicht eilig. Wahrscheinlich hatte der Schumann wieder so ein hirnrissiges Heim gefunden, in das sie mich dann reinstecken wollten.

Irgendwann musste ich dann leider doch aus dem Bad raus und mich zu ihnen setzen.

„Hör dir mal an, was dir Herr Schumann vorschlagen will. Ich bin zwar nicht dafür und dein Vater sicher auch nicht, aber mal sehen, wie das genau aussieht, was das Jugendamt hier vorschlägt“, so meine Mutter.

Herr Schumann: „Ja, Tina, wir könnten dir eine eigene Wohnung geben und dich dort von einem Sozialarbeiter betreuen lassen.“

Na also: Geht doch. Können wir gleich machen und Toni kann dann bei mir schlafen. Wenn er denn wieder aufkreuzt, der Arsch. „Ja prima, wo ist die Wohnung?“, fragte ich.

„Vielleicht darf ich dir erst mal unsere ganzen Vorstellungen darlegen?“

„Ah, jetzt kommt’s, was ihr euch ausgedacht habt? Sicher irgend so eine Scheiße, da pfeif ich drauf.“

„Tina, jetzt reiß dich mal zusammen und sei nicht so unverschämt zu Herrn Schumann“, giftete meine Alte gestelzt dazwischen.

„Jetzt bitte ich dich mal, Tina, hör zu und dann reden wir darüber. Das mit der eigenen Wohnung geht natürlich nicht von heute auf morgen. Erst wohnst du bei einer Familie und wenn du reif genug bist, ziehst du in eine eigene Wohnung.“

„Scheiße, in eine Pflegefamilie gehe ich nicht, ich bin doch nicht bescheuert! Nie und nimmer!“

„Jetzt ist aber Schluss mit dem Gepiense. Du hörst mir jetzt bis zum Ende zu oder ich gehe wieder.“

Soll er doch gehen, ich brauch’ den nicht mit seinen irren Gedanken. Doch ich blieb ruhig und er sprach dann weiter: „Also, das ganze Projekt nennt sich Schutzhilfe und funktioniert so: du kommst erst in eine Schutzhilfe-Familie, die hat dir aber nichts zu sagen, außer es geht um Dinge, die sich in der Familie abspielen. Ein Sozialarbeiter von der Schutzhilfe regelt dann mit dir alles, was sonst deine Eltern regeln würden. Nach einer gewissen Zeit bekommst du dann eine eigene Wohnung und ordnest dein Leben dann von dort aus selbst. Hierbei unterstützt dich dann der gleiche Sozialarbeiter, der schon in der Familie für dich zuständig war. Kontakt mit den anderen Jugendlichen von der Schutzhilfe hast du regelmäßig bei Gruppenabenden, Freizeiten und anderen Aktivitäten. Dadurch wirst du erleben, dass es anderen jungen Menschen ähnlich ergeht wie dir. Was meinst du zu so einer Betreuung?“

Ich zuckte nur mit den Achseln, schon als er „Gruppenabend” und „Freizeit” erwähnte, hatte ich die Schnauze voll. Das war schon im Heim etwas, das ich hasste wie die Pest. Wohnung ist o.k., aber der ganze andere Scheiß kann mir gestohlen bleiben. Aber welche Wahl hab ich denn schon?

„Wenn Sie meinen, dann machen wir das. Alles ist besser als das hier.“

Da wollte mir die Alte natürlich wieder einen Strich durch die Rechnung machen. Hat sich mit dem Jugendamt-Typen rum gestritten, ob man in meinem Alter schon eine eigene Wohnung haben darf. Sie glaubt nicht, dass das geht, ich würde da machen, was ich wollte: Partys, nachts weggehen und schlafen bis in die Puppen. Selbst wenn, ist doch dann nicht mehr ihr Problem!

Herr Schumann ging und meine Mutter wollte das noch mit meinem Vater besprechen. Als ob sie den mal nüchtern antrifft! Na ja, bin gespannt, was er dazu sagt.


26.05.1983

Heute kam der Sozialarbeiter wieder und wir fuhren nach Mannheim zu der Familie, in der ich in Zukunft wohnen soll. Mein Vater hatte tatsächlich nichts gegen den Vorschlag einzuwenden.

Die haben ein großes Haus in einem Vorort von Mannheim. Der Sozialarbeiter, der mich von der Schutzhilfe betreuen soll, ist gleichzeitig der Familienvater der Schutzhilfe-Familie. Hilfe, ich glaube, die haben alle den Arsch offen! Was ist denn das für ein Durcheinander?!

Dann saßen wir alle auf einer Eckbank im Esszimmer. Die Hausfrau sieht nicht so aus, als ob sie mit mir klarkommen könnte. So groß wie ich, blond, Hausfrauen-Frisur, freundliches Gesicht – wird sich bald ändern, wenn ich mal einziehe –, Hausanzug. Ihr Mann ist ungefähr im selben Alter wie mein Vater, hat einen Bart, sah mich gleich so fordernd an, als ob ich machen sollte, was er will. Da kann er aber lang drauf warten! Ansonsten trägt er eine Brille, die er immer absetzt und auf den Tisch legt, Jeans und T-Shirt.

Als wir alle auf der Eckbank saßen, stellte uns Herr Schumann vor: Die Familie Schlosser hat drei eigene Kinder und manchmal noch zusätzlich bis zu fünf Kinder, die sie vom Jugendamt bekommen.

Ich dachte mir gleich: das ist je wie im Heim, einen ganzen Arsch voll Kinder. Da bleibe ich keine Stunde!

Dann haben sie alle gleichzeitig geredet und ich habe abgeschaltet. Da habe ich nichts mit zu tun. Was soll ich denn bei denen?! Die wollen doch bloß Kohle machen mit dem Zirkus hier.

Ich war wie erschlagen und wusste nicht, was ich machen sollte. Der Sozialarbeiter vom Amt war irgendwann weg und ich saß wie festgewurzelt auf der Eckbank. Den Kopf in beide Hände gestützt überlegte ich, ob ich gleich abhauen oder erst mal bleiben sollte.

In meinem Kopf ist gerade nur Chaos. Ich fühl mich irgendwie leer und allein, obwohl das Haus voller Leute ist. Schlossers haben sich zurückgezogen, haben wohl gemerkt, dass mich dieses ganze Familien-Getue hier überfordert. Ich muss jetzt erst mal meine Gedanken ordnen, schreibe vielleicht später weiter.

Tinas Tagebuch

Подняться наверх