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Kapitel 2
ОглавлениеDie Seifenblase mit der Lehrstelle
26.06.1983
Puh, jetzt ist schon wieder ein Monat vergangen seit meinem letzten Eintrag. Es ist mal wieder viel passiert! Aber zunächst nochmal zurück zu dem Tag, als ich bei Schlossers ankam:
Herr Schlosser kam nach einer Weile wieder zu mir in die Küche und meinte, ich könne ihn duzen, er sei der Marvin für mich. Alle von der Schutzhilfe würden sich duzen. Das kann er sich direkt an den Hut stecken, das ist mir viel zu persönlich. Ich kenn den doch überhaupt nicht. Dann überredete er mich, mein Zimmer anzusehen. Das liegt im ersten Stock und ist viel kleiner als unser Esszimmer zu Hause oder Tonis Zimmer. Meinen Koffer packte ich erst mal nicht aus. Bleibe ja nicht, dachte ich, also warum auspacken. Irgendwie bin ich tatsächlich eingeschlafen und habe Gott weiß wie lange geschlafen. Als ich nochmal aufwachte, schlich ich mich aus dem Haus, ohne dass mich jemand von denen sah.
Mit der Straßenbahn, die Haltestelle hatte mir der Typ vom Jugendamt bei der Herfahrt gezeigt, fuhr ich bis zum Bahnhof, von da ging es weiter bis zur Endstation in Ludwigshafen. Zum Glück hab‘ ich so einen guten Orientierungssinn! Woher ich den wohl habe? Von der Alten sicher nicht.
Ich hatte keine Fahrkarte, aber die erwischten mich nicht; wenn sie mich doch mal erwischen, soll doch das Jugendamt zahlen, die haben mich doch auch verschleppt. Von Ludwigshafen trampte ich weiter nach Maxdorf, das ist da in der Nähe. Bin gleich von einer Frau mitgenommen worden, fast bis zum Haus, in dem Herbert wohnt.
Herbert ist ein älterer Bruder von Peters Schulfreund. Er wohnt in einer Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern. Der ist vielleicht ein dufter Typ, mit dem hab ich mich schon immer ganz gut verstanden. Besser als mit seinem kleineren Bruder, diesem Vollidioten. Herbert hat mir schon ein paar Mal angeboten, wenn ich Probleme hätte, sollte ich einfach zu ihm kommen. Hier war ich nun also.
Herbert war zum Glück auch da und begrüßte mich ganz toll, mit Umarmen und so. Er erzählte mir, dass er gerade nach einem Job sucht, aber das wäre alles nichts: zu lange arbeiten, zu schwer, zu wenig Kohle und so weiter. Er sagt immer, er fände schon noch was Besseres. Er sucht schon einen Job, seit ich ihn kenne, und findet keinen. Seine Eltern finden das gar nicht lustig, aber das juckt ihn wenig. Das find’ ich echt gut an ihm. Wir rauchten dann, tranken Bier dazu und ich erzählte ihm, was die alle mit mir vorhatten. Er fand das mit der eigenen Wohnung ganz toll und meinte, ich sollte das auf jeden Fall annehmen. Abends schauten wir fernsehen und schliefen dabei auf seiner Couch ein. Es tat richtig gut, nicht alleine zu sein. Wenn ich nur wüsste, wo Toni gerade ist… Er geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf, der Scheißkerl.
Mitten in der Nacht wachte ich dann auf, machte den Fernseher und das Licht aus und deckte uns beide mit den herumliegenden Decken zu. Als ich morgens aufwachte, habe ich erstmal eine geraucht und wieder überlegt, was jetzt ging. Was sollte ich machen? Ich wusste es immer noch nicht. Scheißgefühl ist das. Herbert wachte dann auch auf, aber der konnte mir auch keinen Rat geben. Nach dem Kaffee, den er oben bei seinen Eltern holte, rief er einen Freund an, der uns dann nach Mannheim fuhr.
Ich habe geklingelt, weil ich noch keinen Schlüssel habe und mich nicht wie geplant ins Haus schleichen konnte. Hoffentlich bekomme ich einen, damit ich mich das nächste Mal, wenn ich über Nacht weg bin, unbemerkt in mein Zimmer schleichen kann. Irgendwelche Moralpredigten oder Hausregeln sind das letzte, was ich brauchen kann.
Frau Schlosser machte mir auf und sagte, dass sie sich freue, mich zu sehen, sie hätte schon ganz schön Angst um mich gehabt. Das glaubt die doch selbst nicht, wer hat schon Angst um mich. Ich bin denen doch allen egal. Ich glaub, die spinnen hier alle.
Sie sagte, es gäbe gleich Mittagessen und sie würde mich rufen, wenn es fertig sei.
Als erstes ging ich mal duschen. Das warme Wasser tat richtig gut! Dauernd klopfte es an der Badezimmertür, ständig wollte jemand rein. Aber das interessierte mich wenig. Auch als die Hausfrau durch die Tür rief, das Essen sei fertig, beeilte ich mich nicht sonderlich. Sollte die doch essen. Bis ich meine Haare geföhnt hatte und fertig war, dauerte es ganz schön lange. Dann zog ich neue Klamotten an, mein Zimmer liegt direkt neben dem Bad, sodass ich mit dem Handtuch bekleidet ins Zimmer huschen kann, ohne von jemandem gesehen zu werden.
So viel also zu meinem Einstand in dieser Familie. Erst denkst du, du bleibst da keine Sekunde, und plötzlich ist ein Monat vorbei. Weiß aber immer noch nicht, wie lange ich hierbleibe. Die letzte Zeit war nur Stress, dauernd wollte irgendjemand was von mir. Frau Schlosser ist schon komisch. Sie will immer wieder, dass ich mich mit der Familie beschäftige, das nervt vielleicht! Dazu kommt sie mir dauernd mit irgendwelchen Regeln. Manchmal denke ich, ich bin in einer anderen Welt gelandet. Essen gibt‘s immer zu bestimmten Zeiten, davor Hände waschen, gegessen wird natürlich erst, wenn alle am Tisch sitzen, mit Messer und Gabel, Servietten, Kerzen, Blumen auf dem Tisch, den Salat in extra Schälchen, jeder hat seinen eigenen Platz, aufstehen darf man erst, wenn alle fertig gegessen haben und so weiter und so fort. Die haben wirklich den Arsch offen in der Familie. Dabei hat es sich zuvor so angehört, als ob nur der Schutzhelfer für mich zuständig sei. Aber der Scheiß ist, dass der ja auch gleichzeitig der Familienvater ist. Wo ist denn da die Trennung? Ich hab keinen Schimmer, was die alle von mir wollen. Sobald ich eine Alternative habe, vielleicht Toni, bin ich hier wieder weg. Hab ja im Grunde nur ein Gefängnis gegen ein anderes getauscht. Meist bin ich alleine in meinem Zimmer, ich will von denen nichts wissen. Mit dem Ausgehen gibt‘s auch dauernd Krach. Mit fünfzehn darf ich nicht länger als acht oder neun Uhr abends wegbleiben. Und dann wollen sie wissen, wo ich hingehe. Da muss ich dauernd lügen, die Wahrheit sage ich denen bestimmt nicht. Aber das kratzt mich wenig. Vor zehn oder später komme ich gewöhnlich nicht nach Hause. Wenn ich das hier überhaupt Zuhause nennen soll. Eigentlich bin ich doch nur hier geparkt und warte auf meine eigene Wohnung. Aber davon ist irgendwie überhaupt keine Rede mehr.
01.07.1983
Der Schutzhelfer nimmt mich öfter morgens mit in die Kreisverwaltung, damit ich nicht zu sehr „vergammel”, wie er sagt. Immer im Zimmer sitzen, nichts tun und abends dann ewig lange wegbleiben würde mich nicht weiterbringen. Ich will es gar nicht „weiterbringen“, die sollen mir endlich eine Wohnung geben und mich dann in Ruhe lassen.
Viel anfangen kann mein Schutzhelfer sowieso nicht mit mir, ohne Toni ist das einfach kein Leben. Ich glaube, ohne Toni werde ich nie mehr glücklich. Erst gestern hat mich Schlosser in seinem Büro beim Telefonieren erwischt; ich sagte, da hätte einer angerufen, der einen vom Jugendamt sprechen wollte. Hätte er mitgekriegt, dass ich schon eine halbe Stunde mit der italienischen Botschaft in Bonn wegen Toni telefoniert habe, hätte er mir wahrscheinlich den Kopf abgerissen. Die Botschaft wollte mir erst gar keine Auskunft geben, aber als ich sagte, ich sei erst fünfzehn Jahre alt und Toni hätte mich geschwängert und sei dann nach Sizilien abgehauen, haben sie sich mit mir beschäftigt. Es kam trotzdem nichts raus aus dem Gespräch. Toni war ja hier nicht gemeldet und sein Name ist sicher auch falsch.
Ansonsten muss ich jetzt noch zu diesen blöden Gruppenabenden, wo mich der Schlosser immer mitschleppt. Einmal war eine von ProFamilia da und übte mit uns, Kondome über einen Holzpenis zu ziehen, geht’s noch peinlicher? Ein anderes Mal kam einer von der Bundeswehr und machte Werbung für seinen Verein. Was mir das bringen soll, weiß ich auch nicht. Dass ich da hinmuss, ist pure Schikane.
11.07.1983
Heute bin ich aufgewacht und lag doch tatsächlich mit samt meiner Matratze und dem Rost auf dem Boden. Das ganze Bett ist am Arsch, irgendwie lustig.
Die Schlosserin hat nicht schlecht gestaunt und gemeint, ich hätte sicher im Bett herumgetobt. Immer hacken alle auf mir herum. Was für einen Grund hätte ich, im Bett herumzutollen? Natürlich bekamen wir richtig Stress miteinander. Jetzt müsse sie ein neues Bett kaufen, mit Reparatur sei da nichts mehr zu machen. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich am Arsch lecken mit ihren Vorwürfen, ich gehe jetzt.
Bin dann in die Stadt gefahren und habe mir vom letzten Geld ein Shirt gekauft, jetzt geht es mir wieder besser.
16.07.1983
Heute, an einem Samstag, sind wir zum Bürgermeister von Maxdorf gegangen, der die Schutzhilfe zum Grillen eingeladen hat. Der kennt mich, weil ich mit ein paar Kumpels von Herbert beim Kiffen erwischt worden bin. Sein Ortssheriff hatte uns im Park erwischt und gleich mit ins Rathaus geschleppt. Dort gab’s dann einen langen Vortrag und wir mussten alle unterschreiben, dass wir das in Zukunft bleiben lassen. Die hatten sie doch nicht alle. Wir versprachen natürlich, das Kiffen in Zukunft bleiben zu lassen. Als wir wieder frei gelassen wurden, haben wir auf den Schreck hin gleich einen Joint geraucht.
Jetzt war’s schon ein bisschen peinlich, meinem Schutzhelfer zu erklären, woher ich den Bürgermeister kannte.
Ich erzählte dem Schlosser, ich sei mit Peter vor einiger Zeit in Maxdorf im Park gewesen und beim Zigaretten rauchen erwischt worden.
Der Nachmittag im Garten des Bürgermeisters war dann ganz okay.
Aber mit den anderen Jugendlichen der Schutzhilfe komm ich einfach nicht klar. Die kriechen den Schutzhelfern so richtig in den Arsch. Alle Speichellecker. Das habe ich heute wieder so richtig beobachten können. Haben große Töne gespuckt, dass sie niiiieeeemals Drogen nehmen würden, und wie sehr sie sich doch freuen, dass der Schutzhelfer ein Grillen mit dem Bürgermeister veranstaltet! ZUM KOTZEN!
18.07.1983
Schlosser sucht mir, wenn wir in seinem Büro sind, fortlaufend eine Arbeit oder eine Lehrstelle. Mein Gott, ist der zäh, treibt einen Aufwand, der ja doch nichts bringt. Ich kann gut ohne die Scheiße leben. Aber vielleicht liegt dem Schlosser tatsächlich was an mir, denn er hat‘s ja eigentlich nicht nötig, sich so reinzuhängen!? Egal – was auch immer es ist, er soll damit aufhören!
Auf dem Arbeitsamt waren wir auch schon bei der Berufsberatung. Aber die kamen mit mir gar nicht klar. Hauptschulabschluss und Schutzhilfe hat die schon überfordert. Stattdessen sollte ich eben zum Psychologischen Dienst, die hätten dann vielleicht einen Vorschlag, wonach wir suchen sollten. Den Termin für die Beratung würden wir zugeschickt bekommen. Das ist jetzt auch schon wieder ein paar Wochen her und wir haben immer noch nichts von denen gehört. Egal, ich brauche das sowieso nicht. Als ob ich dem Psychologen irgendwas sagen würde. Nach einem Telefonmarathon von fast vier Stunden, bei dem wir alle möglichen Arbeitgeber in der Region angerufen haben, hatten wir einen Termin zur Vorstellung in einer italienischen Eisdiele. Mein Schutzhelfer, immer wieder bietet er mir das DU an, ich will das aber nach wie vor nicht, will mich morgen dorthin zu dem Italiener schleppen.
20.07.1983
Ausgerechnet Italiener, die sind doch alle wie Toni, erst große Liebe und dann plötzlich abhauen. Inzwischen bin ich überzeugt davon, dass der Arsch sich nie wieder hier blicken lassen wird. Kann mir gestohlen bleiben, ich brauch den nicht. Überhaupt brauch’ ich niemanden, am wenigsten einen Mann und schon gar keinen Italiener. Die Eisdielen-Chefs suchten für ihren Laden eine Malocherin, redeten aber hauptsächlich mit meinem Sozialarbeiter. Letztendlich wollten sie es mit mir versuchen. Wofür genau die noch jemanden brauchen, war mir aber nicht klar, da rannten schon jede Menge Leute herum. Anscheinend alles Verwandte der Besitzer, wie sie dem Schlosser erzählten.
Diese Woche ging es schon los mit der Arbeit. Schlosser bringt mich immer hin, die Eisdiele ist in Ludwigshafen und ich bekomme eine Monatskarte, damit ich dann jeden Tag dorthin fahren kann. Eigentlich sollte ich nur acht Stunden arbeiten und nicht länger als neun Uhr abends, aber meistens komme ich erst um zwölf ins Bett oder noch später. Sagen darf ich davon nichts, weil sowas ja verboten ist für eine Fünfzehnjährige. Und die haben mich in der Hand, weil sie mich direkt am Anfang dabei erwischt haben, wie ich einen Fünfziger aus der Kasse geklaut habe. Morgens kann ich dann immerhin ausschlafen, weil ich oft in der Wohnung der Eisdielen-Leute penne, aber auch sonst erst mittags mit der Arbeit anfange. Der Scheiß ist Stress ohne Ende. Aber Hauptsache, mein Schutzhelfer ist glücklich. Mal sehen, wie lange ich die Maloche hier noch mitmache, dachte ich mir schon am ersten Abend.
Als ich einmal im T-Shirt zur Toilette ging, hat meine Chefin zum ersten Mal meine Tätowierungen an den Unterarmen gesehen. Das hätte ich aber ansprechen müssen bei der Bewerbung, meinte sie zu mir. Ich soll es ja nicht wagen, im T-Shirt zu bedienen! Die Arme müssen immer bedeckt sein. Meinem Schutzhelfer würde sie das auch noch verklickern. Was es die alte Schlange angeht, ob ich tätowiert bin oder nicht, weiß ich auch nicht. Als wenn das die Kunden interessieren würde.
Und heute kam dann der absolute Hammer: Mario, auch ein Verwandter von den Eisleuten, es sind da ja alle miteinander verwandt, weiß der Kuckuck wo die alle herkommen, wollte mir von Anfang an an die Wäsche. Seine Fummelversuche gingen mir dermaßen auf den Wecker, dass es knallt! Der Depp bediente sich an mir, umfasste mich von hinten und blitzartig war seine Hand unter meinem Pulli und schon hatte er die Brust in der Hand. Scheiße, hol‘ ihn der Teufel. Mit voller Wucht habe ich ihm eine voll ins Gesicht geklatscht, hat das geknallt. Bevor ich beim Chef deswegen war, hat Toni ihm schon berichtet, er habe mich beim Klauen in seinem Spind erwischt. Den Geldbeutel hätte ich in der Hand gehabt. Erschrocken sei ich auf ihn losgegangen und habe ihn ins Gesicht geschlagen.
Das ist jetzt der Grund dafür, dass ich keinen Job mehr habe. Fristlose Kündigung wegen Diebstahl. Es gab für mich gar keine Chance, die Angelegenheit richtigzustellen. Unter Verwandten ist man ehrlich und ich bin eine Fremde. Die Sache mit den tatsächlich geklauten fünfzig Mark hat Tonis Beschuldigung erst recht glaubhaft gemacht.
Jetzt haben sie mich deswegen rausgeworfen, ich soll meine Sachen packen und mich nie wieder sehen lassen.
Immerhin bin ich so den scheiß Job los. Das Leben geht wieder weiter und ich lebe noch.
Aber trotzdem – immer bin ich die Gearschte, so ein Scheiß!!! Das ist eigentlich auch wieder typisch: da kommen die Ausländer nach Deutschland, nehmen den Deutschen die Arbeit weg und versuchen noch, deutsche Mädchen sexuell zu missbrauchen. Jetzt kann ich mir garantiert wieder was vom Schlosser anhören. Ich habe keinen Bock mehr auf die ganze Scheiße! Am besten geh ich direkt zu Herbert, der labert mich wenigstens nicht voll.
27.07.1983
Ich machte mich direkt auf den Weg zu Herbert, bei den Itakern wollte ich keine Minute mehr bleiben. Mir glaubt ja sowieso niemand, der Schlosser sicher auch nicht.
Mit Herbert habe ich die ganze Scheiße immer wieder durchgesprochen. Es ist doch einfach unmöglich, was mir immer passiert. Aber er hat mich beruhigt: es gibt eben Menschen, die haben einfach Pech im Leben, und zu denen gehöre ich. Doch der Schlosser versteht das, zumindest nach Herberts Meinung. Was Herbert nicht wusste, war die Geschichte mit dem Fünfziger, die habe ich ihm natürlich nicht erzählt. Aber ganz weit drinnen sehe ich das auch so, dass der Schlosser Verständnis für mich hat. Schließlich wird er dafür bezahlt, dass er mich immer versteht, oder kann der das auch anders sehen? Aber bisher hat er mir immer geglaubt. Soweit wird er mich doch inzwischen kennen. Sowas wie Diebstahl habe ich doch gar nicht nötig; wenn ich was verdiene, bekomme ich doch zusätzlich Geld vom Jugendamt, und das reicht mir. Als ich den Eisleuten den Fünfziger gestohlen habe, hatte ich keine Kippen mehr; das war eine Ausnahmesituation, denn durch die anstrengende Maloche rauche ich auch mehr. Den Mehrbedarf für die Arbeit bekomme ich erst, wenn der Monat zu Ende ist, und so lang hätte ich mit meinen Kippen nicht warten können. Ich verstehe das, aber die anderen sehen das sicherlich wieder ganz anders. So blöd zu glauben, dass ich dem Itaker Geld aus seinem Geldbeutel klaue, kann der Schlosser aber gar nicht sein. Das mit dem Fünfziger weiß er ja außerdem auch nicht. Er muss auch nicht alles wissen. Nein, das glaubt er nicht. Da bin ich mir ganz sicher. Er wird mir schon wieder eine andere Arbeit finden. Bisher hat er das doch immer wieder hingekriegt. Und wenn nicht, ist es auch nicht weiter schlimm. Freiwillig fang ich bestimmt nicht wieder an zu malochen.
28.07.1983
Ein Kumpel von Herbert hat mich von Herbert zurück nach Mannheim gefahren und ich wurde gnädigerweise von der Schlosserin wieder aufgenommen. Die hat doch gleich ihren Mann im Jugendamt angerufen. Er will morgen alles mit mir durchgehen, da geht es dann sicherlich nur um den Rauswurf. So langsam krieg ich doch Muffensausen. Was, wenn er mir nicht glaubt?
Am Nachmittag fuhr ich in sein Büro in Ludwigshafen, er war gar nicht so sauer, wie ich dachte. Die Sache mit dem Geld, das ich noch von der Eisdiele bekommen sollte, will er auch regeln. Zu einem Abschlussgespräch bei den Itakern werde ich aber in keinem Fall gehen, das ist mal wieder eine seiner fixen Ideen. Ich geh’ doch nicht zu den Ausbeutern und einem Dreckschwein, das sich bei mir bedienen wollte!
Dann hat er mir noch einen Scheiß erzählt, er meinte doch tatsächlich, er sei einmal nachts aufgewacht, weil er so ein komisches Geräusch aus meinem Zimmer gehört hätte. Er habe geklopft, doch keine Antwort erhalten. Da sei er vorsichtig ins Zimmer gekommen und hätte gesehen, dass ich mich im Bett hoch und runter bewegt hätte. So eine Art Schaukelbewegung. Jetzt sei ihm auch klar, warum das Bett zusammengekracht ist. Zum Glück sei das jetzige Bett viel stabiler als das alte. Er meinte, das sei sowas wie „Hospitalismus“. Er hat mir dann erklärt, was das heißt, aber wenn das vom Krankenhaus kommt, stimmt es bei mir sowieso nicht, weil ich immer nur für ein paar Tage ins Krankenhaus gekommen bin. Jedenfalls zu kurz, um sich dort irgendwelche komischen Schaukelbewegungen anzugewöhnen. Weiß Gott, was er da labert! Alle finden immer was an mir auszusetzen, da brauch ich mich nicht zu wundern, dass ich kein Selbstbewusstsein habe. Von Therapie, die Schlosser ansprach, will ich sowieso nichts wissen, bin doch nicht bekloppt. So ein Arsch, der Schlosser.
Die Arbeitssuche geht also wieder mal von vorne los. Ich frag mich, wie oft ich es noch versauen muss, bis der Schlosser es endlich einsieht, dass es für mich keine Arbeit gibt.
05.08.1983
Der Schlosser ist wirklich nicht kleinzukriegen, obwohl ich es direkt wieder verkackt hab – das weiß er aber noch gar nicht. Diesmal haben wir ein Café in Seckenheim gefunden. Mit einer Schürze, die alle Bedienungen dort tragen, sollte ich mich mal versuchen. Acht Stunden unter der Woche und samstags fünf Stunden waren ausgemacht. Einen Tag in der Woche habe ich frei.
Aber die Chefin hielt sich natürlich nicht an das, was wir ausgemacht hatten. Es waren immer mindestens neun Stunden. Pause hatte ich auch nur eine halbe Stunde. Rauchen ging immer nur, wenn ich mich auf der Toilette aus dem Fenster beugte, richtige Scheiße. Und immer, wenn jemand in die andere Toilette ging, hatte ich Schiss, dass ich erwischt werde. Das war echt ein Stress. Freundlich war die Chefin nur zu den Gästen, mich behandelte sie wie eine Sklavin. Mir war von Anfang an klar, dass ich da nicht lange bleiben würde.
Heute stolperte ich mit einem Tablett und versaute einem Gast die Hose. Das Kaffeekännchen leerte sich fast vollständig über seiner Hose aus, der tanzte wie ein Indianer vor Schmerz. Der Depp hat ganz schön übertrieben, so weh konnte es ihm gar nicht tun. Die Chefin war natürlich anderer Meinung: „Du kannst sofort gehen, jetzt hab ich es satt, du Trampel!“.
„Bin ich froh, dass die Scheiße zu Ende ist!“, antwortete ich ihr, zog die Schürze aus, warf sie ihr vor die Füße und rannte davon.
Das war also das Kapitel im Café. Ich bin anscheinend weder für Bäckereien, noch für Eisdielen oder Cafés geeignet. Wann kapiert der Schlosser endlich, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin? Warum lässt er mich nicht einfach in Ruhe und gibt mir die Wohnung?! Das wäre doch für uns alle die einfachste Lösung!
Keine Ahnung, wie ich ihm stecken soll, dass ich da heute rausgeworfen wurde. Bisschen mulmig ist mir irgendwie schon, er hat sich doch echt viel Mühe gegeben und es hat ja auch so schnell geklappt. Wobei ich ihn darum nie gebeten hatte, also muss er damit wohl oder übel leben…
Warum bin ich eigentlich gestolpert? Es gab doch gar keinen Grund, keinen Absatz, keine Unebenheit. Ich glaube fast, das geschah mit Absicht. Aber ich wollte es doch gar nicht, oder doch?
Wie dem auch sei, mein Bedarf an Ärger ist für heute gestillt. Aus einer Telefonzelle rief ich bei Herberts Eltern an und die versprachen, dass Herbert mich abholen kommt, sobald er einen Kumpel findet, der gleich fahren kann.
Jetzt sitze ich hier und warte auf die beiden, die brauchen verdammt lange. Eine halbe Schachtel Zigaretten habe ich schon geraucht. Ah ich glaube, da kommen sie!
08.08.1983
Die letzte drei Nächte habe ich bei Herbert geschlafen.
Heute Mittag bin ich mit der Bahn nach Ludwigshafen ins Büro von Schlosser gefahren. Der war nicht da, ich durfte aber trotzdem ins Büro und mir einen Kaffee machen. Die anderen vom Jugendamt wussten auch nicht, wo er steckte, und so bin ich dann so um sechs Uhr alleine nach Mannheim in die Höhle des Löwen gefahren. Schlosser war zu Hause und laberte mich gleich voll. Er wollte wissen, wo ich die ganze Zeit war. Als ob ihn das was anginge. Was ihm gar nicht gefallen hat, war mein Verschwinden von der Arbeitsstelle im Café. Die Chefin vom Café hat ihn nicht gleich angerufen und so ging er erst davon aus, dass ich eigentlich noch dort arbeite. Ich war ja aber erst bei Herbert und dann im Amt. Was macht der nur immer für ein Geschiss, was soll mir da schon passieren?! Er ließ nicht locker und wollte unbedingt wissen, wo ich mich aufgehalten habe. Ha, der kann mich mal am Arsch lecken, sag ich ihm doch nicht. Der verbietet mir sonst noch den Kontakt mit Herbert, als wenn das was Schlechtes wär.
Der Schlosser glaubt sicher, ich mach den andauernden Scheiß absichtlich um die Stelle zu verlieren, weil ich ein faules Stück Scheiße bin. Da täuscht er sich aber gewaltig. Eigentlich will ich schon arbeiten oder eine Lehre machen. Was kann ich dafür, dass die scheiß Maloche immer so stressig ist? Bloß weil er einmal eine Lehre gemacht und angeblich keinen Tag gefehlt hat, müssen das doch nicht alle so schaffen. Außerdem liegt das mit seiner Lehre furchtbar lang zurück, irgendwann in den fünfziger Jahren. Da gab es sicher nicht so große Anforderungen wie heute und eine Elektrikerlehre ist ja auch nicht so schwer, glaube ich. Der kann mir viel erzählen. Dass er sogar noch jünger war als ich bei Lehrbeginn, kann er seiner Großmutter erzählen. Wer's glaubt, wird selig. Wenn wir mal eine richtige Lehrstelle gefunden haben, zeige ich es dem Schlosser, soll er sich ruhig wundern. Aber wie schon immer: mich will doch sowieso keiner.
09.08.1983
Schlosser hat mich heute wieder mit ins Jugendamt genommen, nachdem er mich recht unsanft geweckt und mit Drohungen zum Aufstehen gebracht hatte. Der hat sie einfach nicht mehr alle, aber mit mir kann man’s ja machen.
Kaum im Büro gab Schlosser mir die Sperrmüllzeitung, den Mannheimer Morgen und die Rheinpfalz. Ich sollte alles anstreichen, was nach Arbeit oder Lehrstelle aussah. Also wieder die alte Scheiße mit der Arbeitssuche, dachte ich. Allerdings hat er sich was Neues einfallen lassen: nicht er ruft die Firmen an, sondern ich muss das machen, mich melden und nach Arbeit fragen. Ist aber nichts für mich, dieses stundenlange Telefonieren. Bringt nichts außer Stress.
Aber der Tag wurde noch viel schlimmer: nicht nur, dass ich zu einem bescheuerten Gruppenabend musste, ich hab mir auch noch den Fuß gebrochen! Naja, es war nur ein Bänderriss. Das kam so:
Der ganze Schutzhilfe-Zirkus will im August nach Italien zum Zelten fahren, ich soll dadurch endlich mehr Kontakt zu den anderen Jugendlichen bekommen. Aber die gehen mir immer noch am Arsch vorbei! Dass keiner verstehen will, dass ich mit denen nichts zu tun hab! Herbert und seine Kumpels, das sind meine Leute. Auf die ist Verlass. Die sind da, wenn ich sie brauche. Mehr brauch‘ ich nicht.
In den letzten Wochen musste ich sogar kochen üben, damit ich auf der Freizeit für die ganze Meute kochen kann! Dabei kann ich ja kochen, vielleicht nicht das, was dem Schlosser schmeckt, aber mir schon. Die anderen Jugendlichen der Schutzhilfe wurden auch zum Kochen gezwungen. Ich soll in Italien zusammen mit Mario, das ist ein Kerl, der kurzfristig auch bei Schlosser wohnt, Spaghetti, Tomatensoße und Salat machen. Wieso heißen die eigentlich alle Mario? Der Arsch in der Eisdiele hat mir gereicht, und schon kommt der nächste um die Ecke. Aber für seinen Namen kann er ja nichts, vielleicht ist er nicht so schlimm wie der andere Scheißkerl. Oder wie Toni, der Feigling. Erst haben wir den Mist bei Aldi eingekauft und dann gestern in Fußgönheim, wo unsere Gruppenräume sind, unter Aufsicht von Schlosser gekocht. Letztendlich hat das richtig gut geschmeckt, hätte nicht gedacht, dass wir das so gut hinbekommen! Nach dem Essen kam mir eine geniale Idee:
Von Fußgönheim nach Maxdorf sind es nur ein paar Kilometer, das musste ich ausnutzen und zu Herbert ausbüxen. Es war zwar klar, dass Schlosser wieder stocksauer sein würde, aber ich habe ja schließlich die ganze Zeit für ihn gekocht, da muss er das einfach verstehen.
Bis kurz vor Herberts Elternhaus hat mich eine junge Frau im Auto mitgenommen. Ich bin schnell aus dem Auto rausgesprungen und direkt vom Bordstein gerutscht. Das war so schmerzhaft, dass mir die Tränen kamen. Ich glaube, die freundliche Frau, die mich hier abgesetzt hat, hat das gar nicht mitbekommen. Eine Zeit lang saß ich auf dem Randstein und massierte meinen Knöchel. Er wurde trotzdem immer dicker, er schwoll so an, dass es richtig Scheiße aussah. Die letzten Meter zu Herbert humpelte ich wie ein alter Krüppel.
Die Scheiße war nur, dass Herbert nicht daheim war und ich stundenlang vor seiner Tür saß und wartete. Der Fuß schmerzte unentwegt. Es war bestimmt schon zwölf Uhr nachts, und ich bekam allmählich ein bisschen Angst. Wusste gar nicht, was ich machen sollte. Irgendwann kamen mir sogar die Tränen, vielleicht vor Zorn oder wegen der Schmerzen. Ich machte mich dann humpelnd auf den Weg nach Mannheim, die Warterei brachte ja offensichtlich nichts. Weiß der Geier, wo Herbert steckte. Bahnen fahren natürlich nicht um diese Zeit. Als Anhalter war mir gar nicht wohl und ich dachte schon, in dieser Nacht nimmt mich keiner mehr mit. Plötzlich hielt dann doch einer an, mein Glück war, dass der sogar nach Schwetzingen fuhr, genau meine Strecke. Bis kurz vor das Haus der Schlossers nahm mich ein älterer Fahrer mit und setzte mich auf der Schnellstraße ganz in der Nähe ab. Kaum war ich ausgestiegen, hörte ich ein Auto kommen. Scheiße, die kurze Strecke bis zum Haus wird mir nicht doch noch was passieren?
Als ich mich umdrehte, sah ich die Bullen hinter mir. Jetzt aber nichts wie weg, die haben mir gerade noch gefehlt – natürlich haben sie mich im Nu eingeholt. Warum die überhaupt anhielten und mich kontrollierten, war mir schleierhaft.
Ausweis, wo ich wohne, wer meine Eltern sind, und all die Kacke wollten sie wissen. Keine Chance, ihnen zu entwischen. Schon gar nicht mit dem kaputten Fuß. Die Bullen wollten einen Krankenwagen rufen, aber ich sagte ihnen, das würden schon die Schlossers machen.
Ich gab ihnen die Adresse von Schlossers, bevor ich noch in der Zelle landete. So hatte ich doch noch ein Taxi für die letzten Meter, das nichts kostete. Soll sich der Schlosser darüber freuen. Abhalten konnte ich die Bullen nicht davon, mich bei den Schlossers abzuliefern.
Was mich wundert, ist, dass die Schlossers sich tatsächlich freuten, mich wohlbehalten zu sehen, wo sie ihren Schlaf doch so lieben. Die haben eh eine Meise, dass sie die ganze Scheiße mit mir aushalten, die sind nicht normal. Echt. Wenn ich da an meine Scheißeltern denke. Ein Krankenwagen brachte mich schnell zur Klinik, Schlosser hat drauf bestanden. Er selbst fuhr mit seinem Auto hinterher. Im Krankenhaus hatten alle unendlich viel Zeit. Die ließen mich warten, als ob ich keine Schmerzen hätte. Dann nach der Untersuchung erstmal zum Röntgen. Dann zum Eingipsen wegen einem Bänderriss.. Warten. Warten. Scheiße, alles Scheiße. Als wenn ich alle Zeit dieser Welt hätte. Dabei war ich zum Umfallen müde und die Schmerzen waren trotz Spritze noch immer nicht weg. Dann wieder zum Arzt. Warten. So kriegen wir die Nacht auch rum. Der Schlosser, der Arsch, hatte die Ruhe weg, aber der bekam das sicher bezahlt, nichts tun und dann noch Kies dafür, prima. Dann hat er auch keinen Grund, sich zu beschweren. Gegen Morgen waren wir dann fertig. Ich schlief doch tatsächlich im Auto vom Schlosser ein, obwohl der Gips ganz schön drückte. Wenigstens wirkte die Spritze und ich hatte keine Schmerzen mehr. Einen kurzfristigen Gips konnte ich nicht verhindern.
Schöne Scheiße, oder? Da will ich mal ein bisschen Spaß haben und schon bin ich wieder die Gearschte.
Der Schlosser hat heute in der Rheinpfalz tatsächlich eine Lehrstelle als Bürogehilfin gefunden, dort aber dann persönlich angerufen, damit ich‘s nicht wieder „vermassel“. Die gaben ihm doch tatsächlich gleich einen Termin für eine Vorstellung.
Sollte Ich mich jetzt auch noch freuen? Gipsfuß und dann noch jeden Tag damit malochen! Dass ich schwer krank bin, scheint denen allen total egal zu sein. Der Schlosser meint dazu noch ganz lässig, ich bräuchte ja den Kopf und nicht die Füße zum Denken. Witzig. Noch ein paar Monate gammeln, dann komme ich gar nicht mehr auf die Beine, sagt mein Schutzhelfer immer mal wieder. Der hat vielleicht eine Vorstellung von der Welt! Ist eben ein Scheißkerl, mein Betreuer.
16.08.1983
Das ist vielleicht ein Typ, der Chef: Klein, mickrig, Brille, das Alter kann ich gar nicht einschätzen, was vielleicht davon kommt, dass er so wenige Haare auf dem Kopf hat. Der grausige Schnurrbart macht ihn auch nicht jünger, und dann noch diese Klamotten! Hat er die beim Lumpensammler geklaut, oder vom Container?
Meinem Schutzhelfer kam die Stelle schon ein wenig komisch vor, kann es sich ein Schrottplatz leisten, einen Lehrling auszubilden?
Herr Meinig, der Chef des ganzen Gerümpels, und die unendlich vielen Autowracks hinterließen einen irritierenden Eindruck auf uns beide. Ich glaube, das hat er auch schnell gemerkt und uns erzählt, dass er fünf Leute beschäftigte, seine Geschäfte gingen gut, nur einen Steuerberater könnte er sich noch nicht leisten. So machte er die ganze Büroarbeit selbst, für was hätte er auch Bürokaufmann gelernt. Einem Lehrling könnte er jedenfalls noch genug beibringen, da bräuchten wir keine Sorge haben. Mit dem Gipsfuß war er zwar nicht so glücklich, aber in der Probezeit könnte man über sowas hinwegsehen. Er betrachtete mich, wiegte den Kopf hin und her und meinte schlussendlich: „Wir kriegen das schon hin.“
Schlosser ist nicht überzeugt von dem Laden, wie er sich ausdrückt, aber ich will die Stelle, so wäre ich ihm nicht mehr so ganz ausgeliefert.
Herr Meinig will es mit mir versuchen, das mit dem Lehrvertrag will er noch mit der Industrie- und Handelskammer klären, wofür er aber noch etwas Zeit bräuchte.
Der Schlosser wollte auf die Schnelle noch erreichen, dass ich während der Zeit der Sommerfreizeit Urlaub bekäme, um dann mit nach Italien fahren zu können. Das lehnte mein zukünftiger Chef aber gleich ab, was ihn mir direkt sympathisch machte. In keiner Probezeit bekäme man Urlaub, das wäre bei ihm auch nicht anders. Schon gar nicht in circa vier Wochen. Kann mir nur recht sein! Diese dämlichen Freizeiten soll sich der Schlosser sonst wohin schieben.
Also jetzt hab ich endlich eine Lehrstelle, was wohl meine Alte dazu sagen würde, wenn sie es wüsste? Aber der sag ich das nicht, die braucht das gar nicht zu wissen, die dumme Kuh. Die glaubt ja doch nicht, dass ich eine Lehre bestehe. Die Schlampe hat ja immer gesagt, ich wäre zu blöd für alles. Dass SIE aber keine Lehre gemacht hat, verschweigt sie immer; vielleicht hat sie das schon längst nicht mehr in ihrem blöden Kopf vor lauter Sauferei.
Besser als die Eisdiele und das Café ist der Schrottplatz allemal. Acht Stunden und keine Minute mehr, hat mein Betreuer klar abgesprochen. Das fand ich echt gut, manchmal bringt er doch was.
30.08.1983
Die ersten zwei Wochen waren tierisch langweilig, mein Chef ist mit seinem Schrott total glücklich und zufrieden. Ich dagegen drehe Däumchen. Die Schutzhilfe ist in Italien auf der Freizeit.
Als ich meinem Chef sagte, die Lehre wäre langweilig und machte mir überhaupt keinen Spaß, hat er mich zum Essen eingeladen. Er versprach mir, sich mehr um mich zu kümmern und wollte mir auch mehr beibringen.
Am letzten Freitag gingen die Arbeiter früher, den Grund dafür bekam ich nicht mit. Herr Meinig schloss das Tor und sagte, jetzt würde uns niemand mehr stören. Er holte eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und meinte, wir sollten feiern, dass ich so gut wäre und so schnell lernen würde. Mir kam das direkt schleierhaft vor. Da ist doch was im Busch, dachte ich mir, wartete aber erst mal ab. Ich dämliche Gans. Ein Glas von dem Zeug habe ich dann mitgetrunken, der Chef gleich drei. Er meinte, er hätte so einen Durst.
Dann setzte er sich neben mich und streichelte mir am Rücken entlang. Ich habe seine Hand weggestoßen und bin aufgestanden. Er stand blitzschnell neben mir und griff mir unter mein Shirt. Seine Hand war dann schon an meiner Brust. Pfui Teufel, der Kerl wollte mich flachlegen! Ich wehrte mich mit beiden Händen, er riss mich aber an sich und wollte mich küssen. Der Dreckskerl hatte verdammt viel Kraft und hat aus dem Mund gestunken, dass mir fast schlecht wurde. Ich drängte ihn nach hinten und wir fielen über einen Stuhl. Er lag unter mir, was ich ausnutzte und so schnell, wie ich konnte, aus dem Büro und über das Tor sprang. Er hinter mir her: „Du wolltest es doch auch, bleib stehen, ich erkläre dir das Ganze“, aber ich hörte es nur von weitem. Mit meinem Gips kam ich kaum vorwärts, es hat höllisch wehgetan, wenn ich hart damit aufkam. Vor dem Tor standen zum Glück ein paar Leute und ich rief um Hilfe. Meinig kam zur Eingangstür heraus und sagte den Leuten: „Der ist plötzlich schlecht geworden, ich wollte sie hinlegen und jetzt rennt sie davon.“
„Scheiße, der Dreckskerl wollte mich vergewaltigen! So ein Verbrecher, der gehört in den Knast, der Typ!“
Die Leute haben dann was mit Meinig gesprochen, war mir aber alles zu blöd, ich wollte nur noch weg. Ich rannte davon und stieg in den nächstbesten Bus ein.
Das hat mich gerade noch gerettet vor dem Scheißkerl. Der hat mich jetzt gesehen, da gehe ich nie mehr hin. Der soll in der Hölle schmoren.
Ausgerechnet jetzt ist der Schlosser im Urlaub mit seinen Leuten. Also trampte ich mit meinem Gipsfuß zu Herbert, das musste ich erst mal verdauen.
Ich erzählte ihm, was der Meinig für ein Dreckskerl war. Er hörte sich alles an und meinte: „Den holen wir uns und machen ihn klein! Wir fahren mit den anderen hin und verdreschen ihn, bis er nie mehr aufsteht!“ Ich wollte das aber nicht, ich wollte einfach Bier trinken und mich erstmal beruhigen. Herbert rief die Kumpel trotzdem an, und als sie alle da waren, konnte ich sie nicht mehr aufhalten. Sie fuhren mit zwei Autos zum Schrottplatz nach Ludwigshafen. Die Ruhe, als sie alle weg waren, hat mir richtig gutgetan.
Wenn ich es mir so richtig überlege, finde ich das gar nicht gut. Die Jungs können richtig, richtig aggressiv werden und Kräfte haben sie wie ein Bär. Wenn die den umbringen, komme ich gleich mit in den Knast, bin ja dann auch mit schuld an der Scheiße. Aber wie soll ich die jetzt noch davon abhalten? Hoffentlich erwischen die den Dreckskerl nicht!!!
Vorhin kamen alle zurück, der Meinig war nicht mehr da gewesen. Gott sei Dank! Ich hab mich schon im Fluchtauto sitzen sehen. War wohl schon nach Hause gegangen, und wo das war, wussten wir nicht.
Also fair ist das so auch nicht. Natürlich will ich nicht, dass er umgebracht wird, aber eine Strafe hat er verdient. Aber selbst wenn dieser Kinderficker angezeigt werden würde, würde er wahrscheinlich wie diese ganzen anderen Arschlöcher viel zu milde bestraft werden. Bringt alles nichts.
Wir haben später erst mal so richtig einen durchgezogen, dabei bin ich dann eingeschlafen. Was für ein beschissener Tag.
Als ich am Tag drauf zu den Schlossers zurückkam, gab’s mit der Schlosserin den inzwischen üblichen Trubel: Wo ich die Nacht über war, warum ich nicht bei der Arbeit wäre und so weiter… Dass die sich freut, mich zu sehen, gehört der Vergangenheit an; hab ich ja von Anfang an gewusst, dass das nicht lange hält.
Die kann mich doch glatt am Arsch lecken, geht die einen Scheiß an. Ab in mein Zimmer und abgeschlossen.
Als mein Schutzhelfer von Italien wieder da war, erzählte ich ihm von der Scheiße, die ich mit Meinig erlebt habe.
Der hatte dann nichts Wichtigeres zu tun als Meinig anzuzeigen! Ich wollte das nicht, aber spielt ja wie immer keine Rolle. Jetzt geht‘s wieder zu den Bullen, deren Scheißfragen gehen mir ganz schön auf den Wecker.
Der psychologische Test beim Arbeitsamt, auf den wir schon so lange warten, müsste demnächst stattfinden. Schon wieder so eine Kacke, bringt doch alles nichts. Doch Schlosser besteht natürlich darauf. Der muss es ja auch nicht machen.