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Sternstunde

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Oder: Was wäre, wenn …?

Da schindet sich, noch in den Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts, ein junger Radrennfahrer auf der Landstraße ab. Dabei ist er noch gar kein richtiger Rennfahrer, das will er erst noch werden. Noch fehlen materielle Voraussetzungen, jedoch ein älterer Drahtesel macht’s zunächst auch. Etwas später dann das erste zusammengesparte, aus Einzelteilen gebastelte Rennrad. Damit brachen alle Dämme. Tagaus, tagein, was nicht nur Redensart ist. Nein, buchstäblich jeden Tag, manchmal sogar zweimal, ging es auf die Landstraße. Täve Schur, Egon Adler, Erich Hagen u. a. waren die Götter, die Idole, denen der Junge manchmal, weil auf gleicher Trainingsstrecke im Norden Leipzigs, sogar leibhaftig begegnen konnte. Schule, berufliche Entwicklung? – Fehlmeldung! Andere Interessen? Früher recht zahlreich vorhanden gewesen, jetzt aber: Fehlmeldung! Nichts anderes hatte da noch Platz, nicht mal Mädchen konnten den jungen Mann daran hindern, täglich zu trainieren. Wenn er mal einen »Ruhetag« einlegte oder er das zwangsweise tun musste, stellte sich bei ihm sogleich ein schlechtes Gewissen ein und anderntags wurde die Distanz – wozu man ebenso sagen könnte, die Dosis der Droge – dafür entsprechend erhöht. Einst ein berühmter Radrennfahrer zu werden – das war’s! Das und nichts anderes wollte der junge Mann, dem ordnete er zeitweilig alles unter. Dafür war er zu fast allem bereit und meldete sich primär aus diesem Grunde sogar freiwillig zur Armee. Entscheidend dafür war die Hoffnung, damit nach der Lehre einem gesundheitlich und zeitlich seinem Ziel abträglichen Dreischichtbetrieb in einer Lackfabrik zu entfliehen. Und außerdem vielleicht gar beim Armee-Sportklub (ASK) noch intensiver als zuvor trainieren zu können.

Doch kam schließlich alles ganz anders: Denn während der Armeezeit und ohne Vorwarnung, wie der Blitz aus heiterem Himmel, geschah es: Ein ganzes Jahr lang Krankenhaus. Danach vorzeitige Entlassung aus der Armee mit dem niederschmetternden Vermerk in den Akten: »Erwerbsvermindert!«.

Wie es plötzlich dazu kam?

Militärmanöver war angesagt. Für den jungen Mann – präziser, also für mich – gleichzeitig als Abschluss der Grundausbildung. Danach, so die Hoffnung, würde ich mit meinem Trainingsprogramm noch intensiver als bisher beginnen können. Zunächst im Rahmen des ASV, wenn ich gut genug wäre, vielleicht sogar beim Klub. Das wäre das große Los. Bereits während der Grundausbildung hatte ich zum Training mehrfach pro Woche außerplanmäßigen »Ausgang« bekommen, was schon sehr ungewöhnlich war und manch neidischen Kommentar bei denen auslöste, die bis zum Ende der Grundausbildung nach Dienstschluss in der Kaserne hocken mussten.

Der »Krieg« der Abschlussübung sollte im Lausitzer Raum stattfinden und viele Divisionen daran teilnehmen. Es war wahrscheinlich das mieseste Februarwetter, das man sich dafür denken kann. Die Temperatur pendelte um den Gefrierpunkt, dazu tagelanger Regen mit Schnee vermischt und ständig ein ekelhafter Wind. Die großen 152 mm-Haubitzen waren eingerichtet, die Mannschaften hatten sich neben den Geschützen eingegraben. Alles war schlammig, die Sachen zunehmend feucht, Tag und Nacht klapperte ich zusammen mit meiner Gruppe mit den Zähnen, irgendwann halfen auch Zeltplanen nicht mehr, die Kälte drang bis in die Knochen.

So wartete unsere Kompanie etwa drei Tage auf den »Angriff« des Gegners. Die ersten beiden Tage war noch Geschützdonner von Nachbarbatterien zu hören, am dritten Tag auch das nicht mehr. Was war hier los? Sogar der Essennachschub blieb aus, sodass sich zur Kälte und den nassen Sachen nun auch noch grässliche Hungergefühle in die Därme schlichen. Am vierten Tag klärte sich alles auf. Ein Jeep kam angefahren und aus der Ferne auf einer kleinen Anhöhe konnten die im Graben liegenden Soldaten mitbekommen, wie die Vorgesetzten sich gegenseitig anschnauzten und mit Vorwürfen überschütteten. Des Rätsels Lösung war sowohl trivial als auch fast unglaublich: Man hatte sie in der Kommandostelle schlicht und einfach vergessen. So einfach kann das Leben manchmal sein.

Die Folgen waren es leider nicht. Denn viele der »Vergessenen« verbrachten die nächsten Tage mit Fieber, Lungenentzündung und ähnlichen Errungenschaften im Sani-Punkt, schwerere Fälle im Armeekrankenhaus.

Ich gehörte leider zu den Letzteren, mein Armeelazarett-Aufenthalt betrug insgesamt ein ganzes Jahr und endete mit dem bereits erwähnten Prädikat »Erwerbsvermindert«. Ich hatte mir beim Manöver eine doppelseitige Lungen- und nasse Rippenfellentzündung zugezogen. Nach scheinbarer Genesung dann einen noch viel gefährlicheren Rückfall. Wochenlang war in den Mienen der Ärzte bei der Visite an meinem Bett ein Fragezeichen nicht zu übersehen. Dass der Fakt, dass ich als einfacher Soldat in einem Einzelzimmer lag, eher das Gegenteil eines Privilegs darstellte, das erschloss sich mir erst später. Denn als ich später in einem normalen Mannschaftszimmer lag, bemerkte ich, dass aus jenem, „meinem“ Zimmer immer mal jemand, zur Gänze mit einem Laken abgedeckt, rausgefahren wurde. Schließlich, als es mir schon wieder »gut« ging, hatte sich aus allem noch eine Tuberkulose entwickelt. Auch wenn ich später wieder recht stabil genas, meine Rennfahrerpläne, so viel war mir klar, die konnte ich mir abschminken.

Allein schon dieser gewaltige Umbruch, mein »Rausschmiss« aus einem selbst gebastelten Universum, dieser abrupte Übergang vom jugendlichen, draufgängerischen »Kraftpaket«, über ein längeres Verweilen auf der Schippe des Sensenmannes, bis hin zur unsanften Landung mit einem »Minderwertigkeitszertifikat« in der Tasche, das allein wäre schon eine separate Abhandlung wert.

Andererseits, mit plötzlichen schweren Krankheiten oder Unfällen müssen auch viele andere lernen, umzugehen. Und nun war so etwas eben auch mir passiert! Ich war so gründlich aus der Bahn geworfen, dass alles das Potenzial einer persönlichen, das ganze weitere Leben bestimmenden Katastrophe in sich barg.

Als »Sternstunde« wäre dieser jähe Eingriff des Schicksals deshalb gewiss nicht zu bezeichnen.

Jedoch eine wirkliche Sternstunde sogar physikalisch gesehen etwa eine Stunde – sollte trotzdem noch auf mich warten.

Denn, wie nun weiter nach dem plötzlich auf dem Lebensweg aufgetauchten Stoppschild?

Berühmter Radrennfahrer? – Abschminken! Studieren? – Bei den Voraussetzungen, nur mit einem miesen 8-Klassen- und nicht viel besseren Lehrabschluss? Also Abschminken! Berufliche Entwicklung vorantreiben? – Womit, wohin? Also ebenfalls Abschminken! Zukunft? – Ein von sarkastischem Selbstmitleid durchtränktes Grau. Öde, trost- und hoffnungslos!

Aber da waren doch in meiner »Vor-Radrennzeit«, noch als Grundschüler, so viele gute Ansätze gewesen. Interessen, vielfältig, später jedoch alles überwuchert durch den Radrenn-Wahn. Sollte davon nicht doch noch etwas zu retten, zu reaktivieren sein?

Aber wie? Wie sollte man jetzt all das Versäumte nachholen können?

Noch im Krankenhaus und Sanatorium, mit unendlich vieler Zeit zum Nachdenken und zahlreichen durchgrübelten Nächten, machte es irgendwann einmal richtig »Klick«. Zunächst nur insgeheim, tief im Inneren. Später dann ermunterte mich der ältere Bruder aus der Ferne, deutete Möglichkeiten an, machte Hoffnung. Und da war ja auch noch die DDR mit ihren, heute teilweise nicht mehr nachvollziehbaren Regeln. Ihren zwar vielen Begrenzungen und Einengungen, jedoch auch ihren Möglichkeiten.

Denn, hatte ich mich seinerzeit nicht freiwillig zur Armee gemeldet? Weniger aus staatspolitischer Überzeugung, sondern aus ganz pragmatischen Überlegungen im Zusammenhang mit meinen Radsport-Ambitionen. Und hatte ich damit nicht auch meinem Betrieb einen großen Gefallen getan, dem immensen Druck von »oben« zur Werbung von »Armee-Freiwilligen« nachzukommen. Und förderten die Betriebe deshalb derartige »Freiwillige« dann gewöhnlich nicht über die Gebühr – zum Beispiel mit Delegierungen zum Studium?

Bis dahin waren alle Überlegungen noch logisch. Aber wie sollte das mit nur einem 8-Klassenabschluss gehen? Mit einem sehr mäßigen noch dazu. Zwar sollte es diese oder jene Ausnahme schon gegeben haben. Aber gerade ich, beziehungsweise mein Vater, ohne jegliche Beziehungen oder »heiße Drähte«? Vater, der ja gar kein Parteibuch, erst recht nicht das »richtige« hatte, der in seinem Tagebau sicher ein außergewöhnlich tüchtiger Arbeiter war, aber eben sonst nichts weiter. Somit musste für mich, bei allem Wohlwollen des damaligen Staates für Studienwünsche von Arbeiterkindern, alles wohl Illusion bleiben.

Andererseits, zumindest das Fragen kostete ja nichts. Und ein richtiger Antrag auf Delegierung, der müsste ja auch erst einmal offiziell abgelehnt werden. In diesem Falle immerhin nicht nur von einem »Arbeiterkind«, sondern zudem noch von einem »Armeefreiwilligen«, der sich noch dazu bei der Armee einen schweren Gesundheitsschaden zugezogen hatte. Vielleicht gab es also für mich doch noch irgendeinen guten Stern? Und … es schien tatsächlich so. Denn bereits nach kurzer Zeit landete die Delegierung zur Ingenieurschule in Berlin schwarz auf weiß bei mir im Postkasten. Kaum zu fassen! Einzige Bedingung dabei: Natürlich müsse ich vorher noch die Aufnahmeprüfung in Berlin bestehen.

Sollte das der Haken an der Sache sein? War das nur Höflichkeit und denen war klar, dass ein 8-Klässer die Prüfung ja sowieso nicht schaffen würde?

Wieder waren nun Dämme gebrochen. Völlig andere! Noch im Krankenhaus, später zu Hause während der Rekonvaleszenz-Zeit wurde gebüffelt, was das Zeug hielt. Der ältere Bruder schickte Mathe-Aufgaben zum Üben und alles machte komischerweise sogar noch Spaß. Besonders weil erste Erfolge beim Verstehen vormals existierender »Böhmischer Dörfer« weiter anspornten. Nun war der Knoten gerissen. Endlich! Da war plötzlich eine Triebkraft aktiviert, ähnlich stark wie vorher beim Radfahren, jedoch nun völlig anders geartet. Dass ich das Studium schaffen könnte, schaffen würde, daran hatte ich mittlerweile kaum noch Zweifel. Und wenn ich nächtelang büffeln müsste. Mein großer Bruder, der mit seinem Fleiß auch einen solchen Weg erfolgreich gegangen war, wurde zum Vorbild.

Aber die Aufnahmeprüfung in Berlin? An der konnte ja alles noch scheitern.

Das war sie, meine persönliche Sternstunde! Irgendwann im Frühjahr 1963. Nicht die spätere gut bestandene Ingenieurprüfung oder noch später das Diplom, nein diese Aufnahmeprüfung war es.

Ich war mir der Bedeutung dieser Prüfung so bewusst, dass ich vor meiner Abfahrt nach Berlin zu meinen Eltern sagte: »Wenn ich bestehe, komme ich mit dem Flugzeug zurück.« Die »Interflug« war damals gerade gegründet und erste IL14 zogen am Himmel, Fliegen war noch lange nicht zur Normalität geworden. Doch ich kratzte nach der Prüfung mein Geld (56 M oder schon MDN?) zusammen, vermied den Kauf einer Zugfahrkarte und … flog zurück nach Leipzig. (Damals noch L.-Mockau)

Und die Prüfung selbst? Ein mündliches Aufnahmegespräch. Allein vor einer mehrköpfigen Kommmission. Alles nach schlafloser Nacht in einem kleinen Berliner Hotel und völlig übermüdet. In der ersten Nachthälfte schlaflos vor Aufregung, gegen Morgen dann aus Angst, nun doch noch einzuschlafen und damit zu verschlafen. Blass, übernächtigt und unsicher dann mein Auftritt vor der Kommission. Doch da wurden keine Fallen gestellt, in die man tappen konnte, ich glaubte sogar ein gewisses Wohlwollen bei der Kommission zu spüren. Die wussten wohl, da will einer mit nur 8.Klasse studieren. Da wurde ganz fair nur logisches Denken getestet, Motivationen hinterfragt, nichts von dem, was man Abiturienten fragen würde und wovor ich solchen Respekt, besonders vor Mathematik, gehabt hatte. Angst und Unruhe auch dadurch, dass meine Nacht schlaflos geblieben war. Ängste, die sich nun jedoch als unbegründet erwiesen … ein richtiger Glücksfall. Endlich auch mal wieder für mich. Trotzdem, wenn die Kommission gewollt hätte, ohne dafür hätte gleich »gemein« sein zu müssen, wenn sie vielleicht nur entsprechenden »Direktiven« von oben zu befolgen gehabt hätte? Und ich somit statt mit dem Flugzeug mit dem Zug hätte heimfahren müssen – dann wäre wahrscheinlich alles eine ganz andere Geschichte oder gar keine geworden.

Und warum nun trotzdem alles gleich ›Sternstunde‹ nennen, wo doch letztlich alles noch so glücklich verlaufen war?

Im selben Jahr, in dem ich jene Aufnahmeprüfung absolvierte, ergaben sich noch zwei zusätzliche Fakten, welche für mich theoretisch ein wahrlich dramatisches Potenzial enthielten:

Zum einen wurde nun auch in der DDR die Wehrpflicht eingeführt. Damit entfiel natürlich der »Freiwilligen-Bonus«, über den ich ja gerade noch so meine Delegierung zum Studium erhalten hatte.

Und obendrein wurde im gleichen Jahr vom DDR-Bildungsministerium verfügt, dass derartige Ausnahmen, mit nur 8-Klassenabschluss ein Ingenieurstudium beginnen zu dürfen, fortan der Vergangenheit angehören würden.

Oh je! Da hatte ich ja gerade noch mal das letzte Trittbrett des abfahrenden Zuges erwischt!

Da scheint der Begriff »Sternstunde« für besagte Aufnahmeprüfung durchaus angemessen.

Denn falls diese genannten Regelungen nur ein halbes Jahr früher gegriffen hätten …? Da wäre ja zwangsläufig in meinem weiteren Leben manches völlig anders verlaufen.

Und die folgende Geschichte hätte es gewiss so nicht gegeben.

Vom Salz in der Suppe

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