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Kapitel 3

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Es dämmerte bereits, als Tony und Vicci in ihr Zimmer gestürmt kamen und sich auf das Bett setzten. Layna zuckte vor Schreck zusammen und blinzelte die beiden an. Am liebsten hätte sie ihre Freunde hinausgeschmissen, sich umgedreht und weitergeschlafen, doch die neugierigen Gesichter, die sie gespannt anstarrten, hätten einen Rauswurf nicht geduldet.

»Jetzt erzähl schon!«, forderte Tony sie auf.

Layna rieb sich die Augen, setzte sich auf und gähnte ausgiebig. »Wir sind mit dem Tandem zum Strand gefahren, haben ein Picknick gemacht, und er hat mich wieder nach Hause gebracht. Übernachtet hat er hier nicht, wie ihr sehen könnt.«

»Das war’s?«, fragte Vicci enttäuscht. »Da ist nichts passiert?«

Layna seufzte. »Er wollte mich küssen, aber da war ein Geräusch, das mich abgelenkt hat.«

Tony und Vicci schauten sich überrascht an und grölten gleichzeitig los, als hätten sie den besten Witz ihres Lebens gehört.

»Du hast dich von einem Geräusch ablenken lassen?«, fragte Tony, nach Luft schnappend. »Das muss aber ein sehr interessantes Geräusch gewesen sein.«

»Da war jemand! Man hat uns beobachtet!«, fuhr Layna ihn an.

»Hast du denjenigen gesehen?«

»Nein. Aber ich weiß, dass dort jemand war. Und danach war die Stimmung irgendwie im Eimer.«

»Wann trefft ihr euch wieder?«

Layna zuckte mit den Schultern.

»Mach nicht den Fehler, zuerst anzurufen!«, ermahnte Vicci sie.

Erst jetzt bemerkte Layna, dass sie ihre Kontaktdaten nicht ausgetauscht hatten. Wie sollten sie sich wiedersehen? Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nicht an dieses wichtige Detail gedacht hatte. Vielleicht würde er im Café oder in der Uni auf sie warten. Vielleicht hatte er aber auch genug von ihr nach dem verpatzten Abend.

Warum war plötzlich alles so kompliziert? Erst der Aufsatz, dann die Geheimnisse um Mike und jetzt auch noch das? Am liebsten wäre Layna zurück unter die Bettdecke gekrochen und hätte gewartet, bis alles von alleine einfacher geworden wäre. Aber das passte nicht zu ihr. Sie war die Starke und musste sich durchbeißen. Zumindest hatte sie es früher so gehandhabt.

Also krabbelte sie aus dem Bett und streckte ihre Gliedmaßen. Eine kalte Dusche war jetzt genau das, was sie brauchte. Wortlos ließ sie ihre Freunde im Zimmer zurück und ging ins Bad. Sie drehte die Duscharmatur auf die kälteste Stufe, doch das eisige Wasser machte sie nicht munterer. Schließlich setzte sie alle Hoffnungen in einen doppelten Espresso aus dem Picasso.

Gemeinsam mit Tony und Vicci ging sie zum Café. Die Luft dort war erfüllt von köstlichen Kaffeearomen und frischem Gebäck. Eine lange Schlange hatte sich bereits vor dem Tresen gebildet, da sich die Studenten einen Coffee to go holten, bevor die Vorlesungen begannen. Da war es praktisch, eine Freundin zu haben, die dort arbeitete. Dadurch mussten sie sich nicht anstellen.

Layna und Tony warteten abseits der Menge auf ihren Kaffee, als jemand seine Hand auf Laynas Schulter legte. Sie fuhr erschrocken herum, konnte ihre Freude und Erleichterung aber nicht zurückhalten.

»Mike!«, quietschte sie durch das gesamte Café, sodass auch Vicci hinter dem Tresen den Kopf neugierig in ihre Richtung drehte.

»Guten Morgen«, sagte Mike wesentlich leiser und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Layna wurde krebsrot. Es war ihr ein wenig peinlich vor ihren Freunden.

»Du musst Tony sein.« Mike streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. Dieser betrachtete ihn mit Argwohn, als würde er einem Rivalen gegenüberstehen. Einem Rivalen, dem er nicht gewachsen war. Mike überragte ihn fast um eine Kopflänge und war wesentlich stärker gebaut als er. Doch als er seine Hand schüttelte, war sein Händedruck lockerer, als Tony es erwartet hatte. Vielleicht war er ja kein schlechter Kerl.

»Hi Mike«, brachte er schließlich mit dünner Stimme hervor.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Tony. Ich habe schon viel von dir gehört.«

»Aha.« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er Layna fragend an, doch diese hatte nur Augen für den großen, blonden Mann vor ihr.

Vicci stürmte an der Schlange vorbei, gab ihren Freunden die Kaffeebecher und griff sofort nach Mikes Hand.

»Hey, ich bin Vicci!«, überfiel sie ihn. Sie plapperte wie ein Wasserfall auf ihn ein, sodass weder Mike noch die anderen zu Wort kamen. Layna boxte ihr schließlich in die Seiten, damit sie endlich ruhig war. Mit einem breiten Grinsen verabschiedete sie sich schließlich und verschwand hinter dem Tresen.

Diesen Moment nutzte Layna aus. »Also, Mike, mir ist heute Morgen aufgefallen, dass ich gar keine Möglichkeit habe, dich zu kontaktieren. Vielleicht … also … vielleicht magst du mir deine Nummer geben?«

»Da muss ich dich leider enttäuschen«, sagte Mike. »Ich besitze kein Smartphone.«

»Kein Smartphone?«, fragten Layna und Tony erstaunt wie aus einem Mund. Dass jemand in dieser modernen Zeit ohne ein solches Kommunikationsmittel zurechtkam, war für sie unvorstellbar. Die Menschen organisierten schließlich das komplette Leben damit.

Mike schüttelte den Kopf. »Hätte ich eins, würde es jede Minute piepen. Also habe ich mir erst gar keins zugelegt.«

»Aber du hast doch sicher ein Tablet? Internet?«, fragte Tony.

Mike grinste Layna an, die an ihrem Kaffee nippte. »Dein Freund ist ja genauso neugierig wie du.«

Verlegen lächelte sie zurück.

Tony bezweifelte allerdings, dass er das als Kompliment auffassen sollte. »Ich möchte ja nicht drängeln, Lay, aber wir müssen los. Du darfst nicht schon wieder zu spät kommen.«

Layna verdrehte die Augen. Musste er das gerade vor Mike ansprechen?

»Geh schon mal vor. Ich komme gleich.«

»Ich verschwinde hier nicht ohne dich. Du weißt, was Williams gesagt hat«, ermahnte er sie.

»Geh ruhig«, sagte Mike zu ihr. »Ich will nicht, dass du meinetwegen Ärger bekommst.«

Doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Sie wollte nicht zur Vorlesung. Viel lieber wollte sie schwänzen und den Tag mit Mike verbringen.

Tony versuchte, sie am Ärmel mitzuziehen. »Nun komm schon!«

Mike gab ihr einen kleinen Abschiedskuss auf die Wange. »Wir sehen uns sicher bald wieder«, versprach er und verschwand.

»Das ist ein seltsamer Typ«, flüsterte Tony.

»Warum?«

»Hast du nicht gesagt, dass sein Büro in der Nähe des Museums liegt? Warum geht er dann in ein Café, das am anderen Ende der Stadt liegt? Und nimmt sich nicht einmal einen Kaffee mit?«

»Vielleicht, weil er mich sehen wollte?« Layna gefiel es nicht, dass ihr bester Freund so skeptisch gegenüber Mike war. Sah er denn nicht, was für ein toller Mann er war? Obwohl er kein Smartphone besaß und meilenweit fuhr, um sie zu sehen? All das machte ihn für sie nur noch spannender. Außerdem zeigte es doch, dass sie ihm wichtig war und er ihre Nähe suchte. Sie wünschte sich, dass ihr bester Freund hinter ihr stand und nicht an Mike zweifelte. Gerade jetzt, wo sie die Zweifel so gut wie begraben hatte.

Schweigend ging sie neben Tony über den Campus, vorbei an den kleinen Gruppen, die in der Sonne auf den Rasenflächen saßen. Layna wollte sich nicht mit ihm streiten, obwohl sie das Gefühl hatte, er wäre ihr in den Rücken gefallen. Sie wusste aber auch, dass sie gerne zu Extremen neigte. Vielleicht war seine Meinung über Mike gar nicht so schlecht, wie sie dachte.

Während der Vorlesung schweifte sie mit den Gedanken weit ab – wie immer in letzter Zeit. Es gelang ihr einfach nicht, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, auch wenn Tony sie hin und wieder anstieß, damit sie aufpasste. Sie malte sich viel lieber aus, wie das nächste Treffen mit Mike verlaufen könnte, und ob sie den Mut haben würde, ihn zu küssen. Allein mit seinen Berührungen schaffte er es, sie in seinen Bann zu ziehen und ihr völlig den Kopf zu verdrehen. Alles andere wurde unwichtig in diesem Moment, wenn sie seine Hand spürte. Nur er zählte. Und je öfter sie ihn sah, je öfter er sie berührte, desto stärker wurde dieses Gefühl.

Am Ende der Vorlesung verließ Layna schnell den Saal, damit sie nicht noch einmal in ein Gespräch mit Williams verwickelt wurde. Er würde bestimmt wissen wollen, ob sie mit dem Aufsatz begonnen hatte. Da dies jedoch eine Sache war, vor der sie sich nicht drücken konnte, beschloss sie, die freie Zeit bis zur nächsten Vorlesung in der Bibliothek zu verbringen. Dort wollte sie nach Büchern über Engel suchen. Tony ging schon einmal voraus, ins Picasso. Angeblich, um zu lernen. Sie ahnte jedoch, dass er wieder über die Donuts herfiel, bis ihm schlecht war.

Die Bibliothek befand sich einige Hundert Meter entfernt. Während die Architektur der Unigebäude sehr modern und kühl war, gab es nur das Hauptgebäude und die Bibliothek, die etwas Geschichte in die kalte Glaswelt brachten. Layna war fasziniert vom Barockstil, deshalb mochte sie diese Bauwerke am liebsten. Sie bekam nie genug von den geschwungenen Formen, Kuppeln, Säulen und Fenstern mit Ornamenten. Alte Gemälde und Skulpturen schmückten die Räume, was der Bibliothek einen besonderen Charme verlieh. Sie fühlte sich wie auf einer Reise in die Vergangenheit. Nur die Tische, deren Oberfläche ein großer gläserner Touchscreen war, verrieten, dass man sich doch in der Gegenwart befand – und die Tatsache, dass in der Bibliothek kein einziges Buch zu finden war.

Die Glastische reihten sich aneinander wie Bücherregale in der Vorzeit. Auf den Tischplatten wurden digitale Bücher und das Internet angezeigt. Wollten die Studenten sich Notizen oder Kopien machen, speicherten sie sich die Daten auf ihren Tablets. Um ein wenig Privatsphäre vor den Sitznachbarn zu haben, gab es einen kleinen Sichtschutz an den Tischen, über den man zwar hinwegschauen konnte, aber nichts vom anderen Bildschirm erkannte.

Layna liebte diesen Ort. Dort war es still und sie konnte ihren Gedanken freien Lauf lassen, ohne gestört zu werden. Die einzigartige Atmosphäre wirkte beruhigend auf sie.

Sie wünschte sich oft, ein einziges Mal in eine Bibliothek zu gehen, in der noch richtige Bücher standen. Sie wollte so gerne mit den Fingern über die Buchrücken der verschiedenen Einbände gleiten. Über Umschläge aus Papier, Pappe, Kunststoff oder sogar Leder. Es musste ein tolles Gefühl sein, solch eine Vielfalt zu erleben.

Sie stellte ihre Tasche an einem freien Tisch ab, schaltete die Tischplatte ein und tippte das Wort »Engel« auf der angezeigten Tastatur. Mehrere Tausend Bücher wurden ihr vorgeschlagen. Das brachte sie nicht weiter. Das Suchergebnis für »gefallenen Engel« fiel nicht überschaubarer aus.

Layna seufzte. Das bedeutete eine Menge Arbeit für sie. Warum hatte sie sich nicht ein einfacheres Ausstellungsstück ausgesucht? Aber nein, es musste ja unbedingt genau dieser Engel sein. Doch fünftausend Wörter nur über die Bauweise der Skulptur konnte sie sich und dem Professor nicht antun. Sie musste wenigstens wissen, worüber sie schreiben wollte.

Sie tippte das erste Buch an. Auf dem Monitor erschien ein ähnliches Gemälde, wie sie es vor einigen Tagen in der Vorlesung gesehen hatte: Ein Engel fiel aus den Wolken herab, während er von seinem Gegner, der über ihm schwebte, mit einem Schwert bekämpft wurde. Auf diesem Bild waren keinerlei Monster, die vertrieben wurden. Der Engel, der den Fallenden bekämpfte, sah jedoch genauso kriegerisch aus wie der beim Engelsturz. Ebenso war der Titel sehr ähnlich: Höllensturz. Aber was hatte die Hölle damit zu tun? Layna scrollte durch einige Gemälde, die auf verschiedene Arten das Gleiche zeigten: Einen Engel, der seinesgleichen aus dem Himmel vertrieb – manchmal auch Monster.

Unter der Überschrift Höllensturz fand sie Folgendes:

»Nachdem Gott die Menschen erschaffen hatte, stellte sich einer seiner Engel gegen ihn, der größer und mächtiger sein wollte als Gott. Dieser befahl dem Erzengel Michael, diesen abtrünnigen Engel und sein Gefolge aus dem Himmel zu vertreiben. Der Engel, der sich gegen Gott stellte, ist in vielen Religionen unter dem Namen Luzifer bekannt. Gründe für den Fall sind: Streben nach Göttlichkeit, Stolz, Lust, Willensfreiheit und Weigerung, den Menschen Respekt zu erweisen. Die Darstellung eines Drachen an Luzifers Stelle ist auf die Offenbarung des Johannes zurückzuführen: ›Da entbrannte im Himmel ein Kampf. Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt. Der Drache wurde auf die Erde gestürzt und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen.‹«

Das hatten sie bereits in der Vorlesung besprochen, das brachte Layna nicht weiter. Wenn die Skulptur Satan darstellen sollte, warum hatte er dann einen dermaßen traurigen Gesichtsausdruck? Sie war der Meinung, dass der Teufel nicht zu solch einem Gefühl fähig war. Vielleicht bereute er seinen Aufstand und wollte zurück in den Himmel? Oder die Skulptur stellte einen seiner Engel dar, die mit ihm aus dem Himmel vertrieben worden waren.

Layna durchsuchte weitere Bücher, aber in allen stand das Gleiche zu diesem Thema, nur in unterschiedlichen Worten. Mittlerweile wurde sie wütend auf sich selbst, dass sie dieses Kunstwerk gewählt hatte, und überlegte bereits, noch einmal ins Museum zu gehen, um sich etwas Neues auszusuchen.

»Das ist doch scheiße!«, fluchte sie ein wenig zu laut und erntete mehrere Ermahnungen, sie möge doch bitte ruhig sein. Entschuldigend hob sie die Hände und verkroch sich hinter ihrem Sichtschutz. Als sie sich nach einiger Zeit langsam wieder aufrichtete, bemerkte sie, dass ein Student ihr gegenüber Platz genommen hatte. Sie sah nur die dunkelbraunen Haare, die stufig bis zu den Ohren gewachsen waren. Der Seitenscheitel ließ die Strähnen vor die Augen fallen. Mit einer Handbewegung strich er sie zur Seite, was allerdings nicht viel nützte, denn sie rutschten gleich darauf zurück. Als Kontrast zu den dunklen Haaren leuchteten seine Augen beinahe weiß. In ihnen glänzte ein silberner Schimmer. An der linken Hand, mit der er sich die Haare aus dem Gesicht wischte, trug er ein breites, schwarzes Lederarmband. Als ihr Gegenüber merkte, dass Layna ihn beobachtete, hob er seinen Blick und schaute sie an. Sie rechnete mit einem freundlichen Blick zur Begrüßung, doch er starrte sie eisig an, als würden zwei Speere aus Eis sie treffen. Sie senkte den Kopf und konzentrierte sich auf das Display des Tisches. Dieser Typ war ihr jetzt schon unheimlich, dabei hatte sie sein Gesicht nicht einmal komplett gesehen.

Weitere Stunden schlug Layna sich durch das Internet, um etwas über gefallene Engel zu finden. Sie amüsierte sich über diverse Esoterikseiten, auf denen manche behaupteten, bereits einem gefallenen Engel begegnet zu sein.

Hin und wieder riskierte sie jedoch einen Blick auf den finsteren Typen gegenüber. Sie achtete darauf, nicht in seine Augen zu sehen, aber sie beobachtete, dass er immer wieder die Haare aus der Stirn wischte. Warum schnitt er sie nicht kürzer, wenn sie ihn störten?

Layna schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht über die Frisur eines Mannes nachdenken, der sie mit seinem Blick umbringen wollte. Es fiel ihr jedoch immer schwerer, sich auf die Recherche zu konzentrieren. Sie nahm ihr Tablet und speicherte einige Seiten, um sie draußen im Park zu lesen. In der Bibliothek fühlte sie sich auf einmal unwohl, und sie wollte nur noch hinaus an die frische Luft.

Sie schaltete den Tisch aus, stand auf und schob dabei ihren Stuhl quietschend zurück. Das bescherte ihr nicht nur vom unheimlichen Gast gegenüber einen finsteren Blick, sondern auch von allen anderen, die in der Bibliothek saßen. Dennoch wagte sie es, sich den Typen mit den eiskalten Augen genauer anzusehen. Ein Hauch von Bart umspielte seine schmalen Wangen und die Lippen. Das schwarze Polohemd, dessen Knöpfe offen standen, passten zu der düsteren Aura, die ihn umgab. Layna bekam eine Gänsehaut, als sich ihre Blicke trafen. So viel Kälte hatte sie bis jetzt bei keinem Menschen gespürt. Trotzdem fand sie ihn überraschend attraktiv. Ohne diese Gefühlskälte hätten seine Augen wunderschön sein können.

Schnell schnappte sie sich ihre Tasche und flüchtete hinaus in den Park, wo sie mehrmals tief durchatmete. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und die Sonne spendete eine angenehme Wärme. Layna suchte sich einen schattigen Platz unter einem der Bäume und packte ihr Tablet aus, um weiter zu recherchieren. Doch sie musste ständig an diesen Blick denken. Ein Blick, der sie wie Tausend Messerstiche getroffen hatte. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie an Mike dachte, aber das brachte ihr nur noch mehr Verwirrung. Konzentriertes Lesen war unmöglich. Schließlich schmiss sie ihr Tablet genervt in den Rasen und holte die Kamera aus der Tasche. Sie betrachtete die Studenten, hatte aber Schwierigkeiten, ein gutes Motiv zu finden. An diesem Tag lief einfach alles schief. Erst hatte Tony etwas gegen Mike, dann die unbefriedigende Recherche in der Bibliothek, der gruselige Kerl, und jetzt war sie nicht einmal mehr in der Lage, ein Foto zu schießen.

Layna wurde der Boden unter den Füßen weggerissen, denn die Fotografie, der rettende Strohhalm, an dem sie sich immer festhielt, schien abzubrechen. In ihr stieg eine Mischung aus Wut, Hass auf sich selbst und Verzweiflung auf. Ein Cocktail, mit dem sie nicht umzugehen wusste. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ihre Tränen zurückzuhalten, krallte sich an ihrer Kamera fest und kämpfte gegen den Drang an, sie an den nächsten Baum zu schmettern. In ihr tobten zwei Tornados, die aufeinanderprallten und alles aufwühlten. Am liebsten hätte sie laut geschrien, ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Aber was sollte das bringen, außer dass sie die Aufmerksamkeit der Studenten im Park auf sich ziehen würde?

Als wolle sie sich verstecken und unsichtbar machen, hielt sie die Kamera vor ihr Gesicht und schaute durch den Sucher. Sie beobachtete die Menschen, ohne ein einziges Foto zu schießen. Mit dem Teleobjektiv holte sie die Gesichter ganz nah heran und studierte die Mimik. Langsam beruhigte sich ihr Puls, das Herz schlug wieder langsamer – bis zu dem Moment, in dem der Mann aus der Bibliothek im Suchfeld erschien. Layna zog die Luft ein und wollte sich ein anderes Motiv suchen, blieb aber an ihm hängen. Er saß genau wie sie an einen Baum gelehnt. Zum Glück bemerkte er nicht, dass sie ihn mit der Kamera beobachtete, und las seelenruhig auf dem Tablet, das er auf seinen angezogenen Beinen liegen hatte. Seine Gesichtszüge waren ganz sanft. Sie hatten jegliche Aggressivität verloren und wirkten geradezu freundlich. Layna musste grinsen, als er die Haare zur Seite strich. Wie von selbst betätigte ihr Finger den Auslöser. Sie erschreckte sich kurz vor dem Geräusch der Kamera und befürchtete, dass er es gehört haben könnte. Aber er schaute nicht zu ihr auf. Sie legte den Fokus auf seine silbernen Augen. Das nächste Foto entstand. Sie schoss Bilder von jedem Detail an ihm. Dann machte sie noch einige Porträtaufnahmen. Er wirkte draußen im Sonnenlicht freundlicher, doch irgendetwas an ihm war ihr nicht geheuer. Eine dunkle Aura umhüllte ihn, ließ ihn gefährlich wirken. Er war bestimmt nicht der nette Junge von nebenan. Er war der Typ Mann, von dem sich Frauen besser fernhielten. Mit seinem guten Aussehen lockte er die Opfer in die Falle und schlug zu.

Sie tadelte sich, so über jemanden zu denken, den sie überhaupt nicht kannte, und hob die Kamera, um ein weiteres Foto von ihm zu machen. In der Sekunde, als sie den Auslöser drückte, hob er seinen Blick und sah sie direkt an. Vor Schreck ließ sie die Kamera beinahe fallen, konnte sie aber gerade noch auffangen. Als sie wieder zu ihm schaute, war er verschwunden. Sie suchte den Park nach ihm ab, entdeckte ihn jedoch nirgends. Layna rieb sich die Stirn. Das hatte sie ja toll hinbekommen. Nun stand sie auf seiner Opferliste bestimmt ganz oben. Sie packte ihre Sachen ein und ging mit hochgezogenen Schultern in Richtung Picasso. Wahrscheinlich würde der Kerl ihr zwischen all den Leuten nichts tun, aber ein mulmiges Gefühl hatte sie dennoch.

Plötzlich fasste sie jemand von hinten an den Arm, woraufhin Layna lauthals losschrie und zum Schlag ausholte. Tony zuckte sofort zurück, hob entwarnend die Hände und schaute sie verwundert an.

»Ich bin’s doch nur!«

»Gott, Tony! Wie kannst du nur?«, keuchte Layna.

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich dermaßen erschreckst! Wo willst du denn hin? Zur Vorlesung geht es da lang.«

Layna schlug ihre Hand vor die Stirn. Die Nachmittagsvorlesung. War es schon so spät? Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie schnell die Zeit vergangen war, so sehr war sie mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen. Lustlos trottete sie mit Tony in die Vorlesung, um wenigstens körperlich anwesend zu sein. Die Stimmen um sie herum vereinten sich zu einem schweren, dicken Brei in ihrem Kopf. Immer wieder blitzten Bilder von Mike und dem Fremden auf. So vertraut Mike ihr trotz der Geheimnisse bereits war, so bedrohlich und angsteinflößend wirkte der andere Mann auf sie. Dabei war er vermutlich nur ein Student, der einfach nicht gestört oder beobachtet werden wollte. Layna nahm sich vor, sich nicht mehr so stark in etwas hineinzusteigern.

Den Abend verbrachten Tony und sie bei Vicci im Café. Es war italienischer Abend und das hieß: Pizza, so viel man essen konnte. Tony futterte sich mehrmals das Büfett rauf und runter, während Layna keinen Appetit hatte. Ihr Kopf wurde immer schwerer und das Gelächter der Gäste tat ihr in den Ohren weh. Sie hatte gehofft, dass Mike auftauchen würde, doch sie gab die Hoffnung auf, als die Sonne hinter dem Horizont verschwand. An diesem Tag würde sie ihn nicht mehr sehen.

Die Nacht hatte den Himmel noch nicht vollständig verdunkelt, da verabschiedete sie sich bereits, um nach Hause zu gehen. Sie brauchte dringend Ruhe und Schlaf. Der Tag hatte sie vollkommen ausgelaugt. Ihre Freunde schauten Layna besorgt nach, während sie das Café verließ. Doch sie wussten: Wenn Layna ihre Ruhe haben wollte, sollten sie ihr Freiraum geben. Andernfalls drehte sich ihre Laune auf die dunkle Seite der Medaille. Das wollte keiner von beiden riskieren.

Der Campus war beinahe menschenleer. Nur wenige hielten sich abends in den Parkanlagen auf, wenn es dunkel war. Die Studenten trafen sich lieber in Bars oder in den Wohnheimen, wo sie niemand beim Feiern erwischen konnte. Als Layna an der Bibliothek vorbeikam, überlegte sie, ob sie die letzte Stunde, in der sie noch geöffnet hatte, nutzen sollte, um für den Aufsatz zu arbeiten. Um diese Uhrzeit wäre sie wahrscheinlich allein und hätte ihre Ruhe. Je schneller sie die Recherchen hinter sich brachte, desto schneller war sie die Aufgabe los. Der Wachmann an der Tür wies Layna darauf hin, dass die Bibliothek bald schließen werde, doch sie versprach ihm, sich zu beeilen.

Ihre These stellte sich als richtig heraus: Außer ihr gab es nur die Bibliothekarin, die sich so spät dort aufhielt. Layna ging zu einem Tisch, der versteckt zwischen zwei Säulen stand, und setzte sich darunter. Sie wollte niemanden hören oder sehen, und unter einem Tisch würde man sie sicher nicht vermuten. Sie steckte sich Kopfhörer in die Ohren und lauschte ihrer Lieblingsmusik. Eine Mischung aus Electric und Rock ertönte, und Layna begann, sich trotz der härteren Klänge zu entspannen. Sie schloss kurz die Augen, um die wirren Gedankenblitze loszuwerden, damit sie sich auf den Aufsatz konzentrieren konnte. Doch sie war zu erschöpft und schlief unter dem Tisch ein.

Tony verdrückte gerade das zwölfte Stück Pizza, als Vicci sich nach Ende ihrer Schicht zu ihm setzte.

»Wo steckst du das nur alles hin? Du müsstest eigentlich rollen«, sagte sie und kniff ihm in die Seite.

»Guter Stoffwechsel«, antwortete er mit vollem Mund.

Vicci gähnte und rieb sich die Augen. »Lay war heute komisch gelaunt.«

»Warum?«

»Hast du nicht gemerkt, wie sie diesen Mike angehimmelt hat? So schnell verliebt sie sich doch sonst nicht. Und vorhin sah sie richtig fertig aus. Ob sie Streit hatten?«

Tony spülte den letzten Bissen mit einem Schluck Limo hinunter. »Sicher, dass sie verliebt ist?«

»Sie hatte funkelnde Herzchen in ihren Augen, wenn sie ihn angeschaut hat. Natürlich ist sie verliebt. Ich meine, der Kerl ist schon ein Sahneschnittchen. Den würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen.«

»Du stößt niemanden von der Bettkante.«

Vicci nahm eine Serviette und schlug sie Tony um die Ohren. »Nur weil du wie ein Mönch lebst, muss ich ja nicht wie eine Nonne leben!«

Tony wehrte sie lachend mit den Armen ab und entriss ihr das Tuch, bevor sie erneut angreifen konnte. Er dachte darüber nach, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte und Layna bereits Hals über Kopf in Mike verliebt war. Er kannte sie sein Leben lang und noch nie hatte sie sich für eine Sache so schnell begeistern können. Sie wog Pro und Contra mehrmals ab, ehe sie eine Entscheidung traf. Aber wenn sie einmal getroffen war, stand sie voll und ganz dahinter.

»Ich mag Mike nicht«, fasste er seine Gedanken zusammen. »Und wenn sich Lay durch ihn verändert, mag ich ihn erst recht nicht.«

Vicci holte ihr Trinkgeld aus der Geldbörse und legte es auf den Tisch, um es zu zählen. »Warten wir erst einmal ab. Wir kennen ihn doch gar nicht. Vielleicht sollten wir mal was zu viert machen.«

»Oh ja, das wird bestimmt lustig«, sagte Tony mit sarkastischem Unterton und verdrehte die Augen. Er leerte sein Glas, stellte es auf den Tisch und stand auf. »Ich habe absolut keine Lust darauf, mit einem turtelnden Paar etwas zu unternehmen.«

Vicci grinste ihn breit an. »Du bist ja eifersüchtig!«

»Ich will nur nicht, dass er ihr wehtut«, murmelte Tony und ging zum Ausgang.

Vicci packte ihr Trinkgeld ein und lief hinterher. Sie hakte sich bei ihm ein, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg nach Hause.

Langsam öffnete Layna ihre Augen. Die Lampen der Bibliothek waren erloschen. Nur der Mond, der durch die Fenster schien, spendete ein wenig Licht. Erschrocken nahm sie die Kopfhörer ab und kroch unter dem Tisch hervor.

»Hallo?«, rief sie in die Dunkelheit. Niemand antwortete ihr. Sie ging zum Ausgang, doch die Türen waren verschlossen.

»Scheiße!«, fluchte sie und ärgerte sich, dass sie eingeschlafen war.

Sie griff in ihre Tasche, um das Smartphone herauszuholen, fand es jedoch nicht. Sie musste es zu Hause liegen gelassen haben. Sie nahm ihr Tablet, aber es ließ sich nicht einschalten. Der Akku war am Nachmittag bereits im kritischen Bereich gewesen. Mittlerweile war er vollständig leer.

Gerade, als sie zum Tresen der Bibliothekarin gehen wollte, um das Telefon zu benutzen, bemerkte sie Schritte. Sie waren leise, kamen wahrscheinlich vom anderen Ende der Bibliothek, aber sie waren deutlich zu hören.

»Hallo? Ist da jemand?«, rief sie erneut. Vielleicht war es der Nachtwächter. Layna lief in die Richtung, aus der sie die Geräusche vermutete. Während sie lief, hörte sie nur ihre eigenen Schritte auf dem Marmorboden. Sie blieb stehen, spitzte die Ohren, doch außer ihrem Atem war nichts zu hören.

Die Tische und Säulen warfen unheimliche Schatten in den spärlich beleuchteten Saal. Sie waren wie schwarze Löcher, durch die man in eine unendliche Tiefe stürzte, sobald man sie betrat.

Die Skulpturen, die aufgereiht an den Wänden standen, starrten sie finster an. Auch die Menschen auf den Gemälden beobachteten sie, warteten darauf, was sie als Nächstes tat. Layna wurde kalt.

Als sie zurückging, sah sie einen Schatten, der sich zwischen den Säulen bewegte und in der Finsternis verschwand. Es war also doch jemand anwesend.

Laynas Puls begann zu rasen, ihr Herz schlug bis zum Hals. Hinter ihr hörte sie wieder Schritte, dieses Mal vorsichtiger und leiser, als würde sich jemand heranschleichen. Anstatt sich umzudrehen, lief sie voller Panik los. Aber wohin sollte sie laufen? Eingeschlossen in der Bibliothek gab es kein Entkommen. Sie rannte zu einem Fenster. Vielleicht stand draußen irgendjemand, der sie sah und Hilfe holte. Doch der Park lag vollkommen verlassen vor ihr. Sie schätzte die Höhe, in der das Fenster lag, auf etwa drei Meter. Das konnte sie schaffen. Das musste sie schaffen.

Layna versuchte, den Fensterflügel aufzudrücken, aber er war mit einem Schloss verriegelt. Langsam näherten sich die leisen Schritte hinter ihr. Hektisch rannte sie von Fenster zu Fenster, in der Hoffnung, eines ließe sich öffnen. Doch auch das letzte war verschlossen. Layna drehte sich um. Sie sah den Schatten durch den Raum huschen. Er kam immer näher.

Sie griff nach einer Büste von George Washington. Sie war schwerer als erwartet, und Layna konnte sie kaum halten. Sich zu verteidigen war damit also nicht möglich. Sie würde das Teil unmöglich hochheben können, um ihrem Verfolger damit auf den Kopf zu schlagen. Ihr Blick fiel auf das Fenster hinter ihr. Was sollte sie nur tun? Sollte sie warten, bis sich der Schatten im Licht zeigte? Vielleicht war es ja wirklich nur der Nachtwächter, der ihr helfen wollte. Doch warum hielt er sich dann so bedeckt, schlich um sie herum und sagte nichts? Was, wenn es der Fremde mit den Eisaugen war, der nach seinem Opfer gierte? Sie machte sich nichts vor. Mit bloßen Händen könnte sie sich nicht wehren. Mit Washingtons Kopf allerdings auch nicht.

Die Schritte wurden lauter. Sie waren ganz nah.

Überwältigt von ihrer Angst traf Layna eine Entscheidung. Sie holte mit der Büste Schwung und warf sie mit aller Kraft gegen das Fenster. Das Klirren der Scheibe zerschnitt die Stille der Nacht. Die Scherben fielen in Tausend kleinen Splittern auf den Boden, wo sie in silbernen Schnee zerbarsten. Layna hielt sich zum Schutz den Arm vor das Gesicht. Als ihr Weg frei war, schnallte sie ihre Tasche fester, kletterte auf die Fensterbank und glitt an der Wand hinab, bis sie sich nur noch mit den Händen festhielt. Von da an war der Fall nicht mehr so tief. Sie holte Luft und ließ los.

Der weiche Rasen federte ihren Aufprall ab. Layna rechnete damit, dass durch den Krach irgendjemand auf sie aufmerksam geworden war, doch sie stand mutterseelenallein im dunklen Park. Neben ihr lag nur der Kopf vom ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten. Sie schaute zum Fenster hoch. Der Schatten war nicht zu sehen. Sollte sie die Polizei rufen? Ob sie ihre Geschichte glauben würden? Eingeschlafen in der Bibliothek, der Angreifer und dann auch noch Vandalismus? Sie befürchtete, dass sie eine Strafe wegen des Fensters erwarten würde. Zumal sie ihren vermeintlichen Verfolger nicht einmal beschreiben konnte. Aber wenn sie verschwand, brächte sie niemand mit der zerbrochenen Scheibe in Verbindung. Der Park war immer noch menschenleer.

Langsam ging sie durch den Park, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie schaute aufgeregt nach allen Seiten. Nach einigen Metern hörte sie erneut jemanden hinter sich. Layna blieb stehen. Die fremden Schritte verstummten wieder. Sobald sie ihren Weg fortsetzte, bewegte sich auch ihr Verfolger. Je schneller sie ging, desto schneller wurde er hinter ihr. Er war also immer noch da. Schließlich lief Layna los. Sie versuchte, ihn abzuhängen, sprang über kleine Zäune und Absperrungen.

Völlig außer Atem versteckte sie sich hinter einem Baum. Sie befürchtete, dass ihr rasender Herzschlag hundert Meter weit zu hören war. Ein paar Schritte machte der Verfolger noch, dann hörte sie ihn plötzlich nicht mehr. Layna schaute vorsichtig hinter dem Baum vor. Erleichtert stellte sie fest, dass dort niemand war.

Sie seufzte, drehte sich um und prallte gegen jemanden, der sie festhielt. Sofort fing sie an, wild um sich zu schlagen und zu treten. Sie wollte sich befreien, doch der Angreifer war stärker als sie. Als sie anfing zu schreien, hielt er ihr den Mund zu.

»Hey! Hör auf! Ich bin es!«

Layna starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Mike strich ihr die Haare aus dem Gesicht, damit sie ihn besser sah. Sie brauchte einen kurzen Moment, um zu verstehen, was geschehen war und wer vor ihr stand. Überglücklich vor Erleichterung fiel sie ihm um den Hals.

Mike drückte sie fest an sich. »Du zitterst ja. Was ist passiert?«

Layna hatte keine Kraft mehr und fing an zu weinen. Dieser Tag war einfach zu viel für sie gewesen. Und nun war Mike da, um sie aufzufangen und zu halten. In seinen Armen fühlte sie sich so sicher, wie schon lange nicht mehr. Nach einiger Zeit hatte sie sich beruhigt und versuchte schluchzend zu erklären, was passiert war.

»Ich war in der Bibliothek. Und ich bin eingeschlafen. Da war jemand. Er hat mich verfolgt. Ich bin durchs Fenster und dann war er wieder da.«

Mike zog sie fester an sich. »Jetzt bin ich ja da. Dir passiert nichts. Das habe ich dir doch versprochen. Ich passe auf dich auf.« Er schaute Layna an. »Vertraust du mir?«

Sie nickte stumm. Sein Schmunzeln auf ihre Antwort zauberte auch ihr ein winziges Lächeln auf die Lippen. Endlich hatte sie einen Mann gefunden, der für sie da war, wenn sie ihn brauchte. Der sie nicht im Stich lassen würde – dem sie vertrauen konnte.

»Komm, ich bringe dich nach Hause.« Mike legte einen Arm um sie. Er drehte sich noch einmal um, als hätte er etwas gehört, und spähte kurz in die Dunkelheit, bevor er mit ihr durch den Park ging. Er hielt sie den gesamten Weg nach Hause fest.

Layna drückte ihren zittrigen Zeigefinger gegen das Kontrollfeld, mit dem die Fingerabdrücke der Bewohner gescannt wurden, um die Haustür zu öffnen. Sie schaute Mike flehend an. »Kommst du mit hoch?«

»Wenn du das möchtest?«

Sie nahm seine Hand und zog ihn in den Fahrstuhl, wo sie sich gegen seine breiten Schultern lehnte. Zärtlich strich er ihr über den Rücken. Jede Geste, jede Berührung war so unglaublich beruhigend.

In der WG saßen Tony und Vicci auf dem Sofa und schauten fern. Als sie Layna sahen, die völlig erschöpft neben Mike in der Tür stand, sprang Tony sofort auf und rannte zu ihr.

»Lay, ist alles in Ordnung?« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, um sie besser betrachten zu können. Mike hingegen ignorierte er.

»Mir geht’s gut. Ich bin einfach müde, das ist alles.«

Die beiden Freunde beobachteten, wie Layna und Mike in ihrem Zimmer verschwanden.

»Doch kein Streit, was?«, sagte Vicci neckisch und zwinkerte Tony zu.

»Hast du sie noch alle?«, zischte dieser. »Hast du nicht gesehen, wie sie aussieht? Sie hat geweint!«

»Vielleicht hatten sie Streit und haben sich wieder versöhnt. Versöhnungssex soll ja bekanntlich der beste Sex sein.«

Tony warf ihr einen zornigen Blick zu. »Da stimmt was nicht!«

»Mensch, Tony! Du solltest deine Eifersucht echt mal in den Griff bekommen.« Vicci stand auf, schaltete den Fernseher aus und ging zu ihrem Zimmer. »Schlaf gut. Und werd’ mal locker.«

Mit verschränkten Armen setzte Tony sich auf sein Bett und grübelte vor sich hin. Schlafen konnte er sowieso nicht. Er überlegte kurz, ob er in ihr Zimmer gehen sollte, entschied sich aber dagegen. Er wollte nicht überfürsorglich sein oder sie bedrängen. Grummelnd legte er sich hin und zog die Decke über seinen Kopf. Er war nicht eifersüchtig. Er machte sich allerdings große Sorgen um seine beste Freundin und hatte Angst, dass sie sich in etwas verrannte.

Mike setzte Layna vorsichtig auf das Bett und zog ihr die Schuhe aus. Sanft streichelte er ihre Wange, während sie die Augen schloss.

»Du bist müde.«

»Nein. Bin ich nicht.«

»Doch, das bist du.« Er drückte sie leicht nach hinten und legte sie auf den Rücken. Er nahm die Bettdecke und kuschelte Layna darin ein. Dabei entdeckte er die schwarze Feder, die über ihrem Kopf hing. Sein Blick wurde härter.

»Wo hast du die her?«, fragte er ernst.

»Mh?«

»Die Feder! Wo hast du die Feder her?«

»Vom Balkon. Hat ein Vogel verloren.«

Mike stieß ein kurzes, scharfes Lachen aus. »Ich werde jetzt gehen, damit du besser schlafen kannst«, sagte er mit seiner gewohnt sanften Stimme.

»Nein.« Layna hielt ihn am Arm fest. Er sollte sie jetzt noch nicht alleine lassen. Am liebsten würde sie in seinen Armen einschlafen.

Mike gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Es ist besser.«

Vorsichtig löste er sich aus ihrem Griff und ging leise aus dem Zimmer. Kaum hatte er die Zimmertür geschlossen, war Layna auch schon eingeschlummert. Er war froh darüber, dass er Tony beim Verlassen der Wohnung nicht begegnete. Er hatte keine Lust auf eine Diskussion mit ihm, obwohl er wusste, dass er Tony bei einer Auseinandersetzung haushoch überlegen wäre. Und sei es nur ein verbaler Schlagaustausch, er würde gewinnen.

Er fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten. Wieder schaute er hinauf zu den Balkonen, als er aus dem Haus trat. Kopfschüttelnd wandte er sich ab, blickte zu den Sternen und fing an zu grinsen.

»Die erste Hürde ist geschafft. Sie vertraut mir«, sagte er in die Nacht hinein und verschwand.

Das Licht in deinen Adern

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