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Prinzessin Love

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»Eines Tages verschwinde ich von hier endgültig!«

Prinzessin Love sitzt zwischen Kissen. Hat es sich auf einer, eigens für diesen Zweck hochgeschleppten Matratze, auf dem Dach des 13-stöckigen Hauses bequem gemacht. Einen Wolkenkratzer kann man den Machtsitz ihres Vaters nicht nennen, aber die Höhe reicht aus, um dem Gemisch aus Dunst, Qualm und Gestank, der unter ihr durch die Straßen zieht, kurzzeitig zu entkommen. Love blickt hinab und sieht überall kleine flackernde Feuer. Brennende Mülltonnen, um der Dunkelheit die Stirn zu bieten. Eine Windböe weht einen angeschwärzten Papierfetzen hoch. Er landet auf ihrer sauberen Jeans. Die Prinzessin trägt darüber einen Wollpulli. Ein Mitbringsel des Vaters.

»Und ich werde alle mitnehmen, die den Mief und das Plündern und Abmurksen überdrüssig geworden sind.«

»Also keine Sau«, sagt Lea, ihre dunkelhäutige Freundin, die im Kontrast zur Prinzessin in einen grauen, zerlumpten Stoff gewickelt ist, der einmal ein Kleid gewesen sein könnte.

Manchmal fragt sich Love, warum eigentlich nicht Lea die Prinzessin ist. Es würde so viel dafür sprechen. Ihre Hautfarbe ist dunkel, genauso wie die von Loves Vater. Loves Haut hingegen ist weiß. Fast so weiß wie Schnee. Lea ist mit Leib und Seele eine Schrottsammlerin und interessiert sich nicht für Bücher oder stellt solche seltsamen Fragen, was das Leben noch zu bieten hat. Im Grunde sind sich Lea und Loves Vater sehr viel ähnlicher, als sie selbst es ist. Vermutlich hat Love einfach mehr von ihrer Mutter in die Wiege gelegt bekommen. Schade, dass Love sie nie kennengelernt hat. Sie ist bei ihrer Geburt gestorben.

»Du und mein Vater ihr seid euch so ähnlich«, sagt Love.

»Dann sind wir also ein Paar, weil du einen Vaterkomplex hast?«, fragt Lea und stupst Love liebevoll zwischen die Rippen.

»Na warte, du kannst was erleben!«, droht Love und fällt mit einem Kissen über Lea her. Die entfachte Kissenschlacht endet in Gegacker, Umarmen und Kuscheln.

»Hör auf, dir solche Gedanken zu machen!«, sagt Lea sanft und streicht Love eine dicke Falte von der Stirn.

»Ich wüsste so gerne, wer sie war. Ob sie so aussah wie ich? Ob sie auch Bücher gesammelt hat.«

»Frag doch einfach deinen Vater.«

»Immer wenn ich ihn auf meine Mutter anspreche, dann schweigt er. Es ist ein absolutes Tabuthema.«

Die zwei schmusen wieder liebevoll miteinander, bis Lea aus heiterem Himmel einen älteren Gesprächsfaden aufgreift.

»Ich komme mit.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn du abhaust. Dann komme ich mit. Aber die anderen Schrottsammler lieben diese Stadt, die Feuchtigkeit und den Mief. Das Töten gehört zu ihrem Alltag, genauso wie das Hungern. Und weiter als hundert Meter in die Ferne zu schauen, würde die meisten für den Rest ihres Lebens nur erschrecken.«

Love küsst Lea auf den Mund.

»Danke!«

»Nichts zu danken, du bist die Prinzessin. Und mein ein und alles.«

»Du bist so lieb. Ich will das umkrempeln. Will etwas verändern. So darf das nicht weitergehen.«

»Mich? Mit mir der was meinst du?«

»Quatsch. Du bist wundervoll, so wie du bist. Ich meine die Schrottsammler. Eines Tages werden sie das Sonnenlicht zu schätzen wissen. Sie werden etwas Höheres anstreben, als nur ein Zweibeiner zu sein, der isst, kackt, und für eine gewisse Zeit einen Platz in 4-City einnimmt. Sie werden ihre Kinder liebevoll aufziehen und auf Schulen schicken, auf denen sie Lesen und Schreiben lernen, anstatt sie in der Gosse im Dreck wühlen zu lassen.«

Lea legt ihre mokkafarbene Hand auf das Knie der Prinzessin.

»So werden die Kleinen aber schneller erwachsen. Die Gosse tut ihnen gut.«

»Du hörst dich an wie mein Vater. Was soll daran gut sein, wenn nur jeder dritte Säugling überlebt?«

»Du übertreibst.«

»Tue ich das wirklich?«

»Dir geht es doch gut, was kümmerst du dich so viel um die anderen? Es ist doch viel einfacher, sich nur um sich selbst zu kümmern«, sagt Lea nachdenklich.

»Nichts, für was es sich zu kämpfen lohnt, ist einfach. Und außerdem ist es mein Volk.«

»Das Volk deines Vaters.«

Love schaut ihre Freundin an. Sie hat es nicht begriffen. Sie weiß nicht, wonach sich das Herz einer Prinzessin sehnt. Hat nicht die Spur einer Ahnung, was Mitgefühl bedeutet. Lea ist keine typische Schrottsammlerin. Sie ist zumindest ein bisschen aufgeweckter als die meisten anderen, aber die Erziehung hat sie dennoch unverkennbar geprägt. Wer will es ihr verdenken? Es ist klar, dass Lea ihr folgen wird, dass Love in ihrer Beziehung den Ton angibt und Lea einfach nur versuchen muss, nicht gänzlich zu versagen.

»Lass uns das Thema wechseln«, sagt Love. »Ich will dir etwas zeigen.« Sie fasst neben sich, hält sich an Leas Schulter fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie greift sich die bunt eingefärbte Stofftasche, die sie bis zu diesem Moment rückseitig eines kniehohen Mauervorsprungs versteckt hatte.

»Du hast die Tasche noch«, quietscht Lea verzückt.

»Klar, was denkst du denn? Es sind die schönsten Farben der Welt.«

»Schmeichlerin. Das sind sie bestimmt nicht. Wenigstens habe ich mir einiges an Mühe damit gegeben, alle Stoffberge von ganz 4-City nach ihnen zu durchsuchen.«

»Du hast die Grenze des Clans doch noch nie verlassen.«

»Aber ich hätte es fast getan. Für dich.«

Love muss über so viel Süßholzraspeln lachen.

»Die Tasche ist wunderschön, weil du sie gemacht hast«, säuselt Love nun und streichelt Lea über ihr sanftmütiges Gesicht.

»Wenn du es sagst. Und was ist da drin? Was ist da eingepackt? Picknick?«, fragt Lea ungeduldig.

»Etwas noch Besseres.« Love holt einen schlichten Apparat aus dem Stoffbeutel. Er ist aus Metall, Kunststoff und Holz und in diesem Moment reißt wie ein Zeichen des Himmels die Wolkennebelwand auf und das rötliche Licht der untergehenden Sonne wird auf der, sich spiegelnden Linse des Geräts, reflektiert.

Ein seltenes Naturschauspiel, das die beiden Mädchen zum Schweigen bringt und verträumt hoch zum Firmament blicken lässt.

»Wow. Das ist so göttlich«, sagt Lea.

»Und doch ist es nicht halb so umwerfend wie du, meine süße Maus«, raunt Love. Lea kuschelt sich an die Prinzessin.

»Und was ist es? Was hast du dieses Mal erfunden?«, flüstert sie an Loves Schulter.

»Geduld. Lass dich überraschen!« Love zieht Lea noch ein Stückchen näher an sich heran und legt den linken Arm um sie. Mit dem rechten hält sie den Apparat von sich weg und dreht ihn so, dass die Linse ihnen zugewandt ist. Noch immer fällt das Licht auf ihre hübschen Gesichter und dann drückt Love ab. Das kleine Gerät gibt ein klickendes Geräusch von sich.

»Es ist ein Fotoapparat«, jauchzt Lea voller Erkenntnis. »So klein? Darf ich das Bild sehen.«

»Selbstverständlich. Sobald ich eine Dunkelkammer eingerichtet und alles beisammen habe, um die Abzüge zu entwickeln. Ich sagte doch, du musst dich gedulden.«

Lea staunt Bauklötze.

»Ich verstehe das nicht. Dunkelkammer? Entwickeln?«

»Ich erkläre es dir dann, sobald ich soweit bin. Bis dahin gibt es keinen anderen Weg, als zu warten. Du bist doch ausdauernd, was das Abwarten angeht?«

»Natürlich bin ich das. Logisch. Eine Engelsgeduld zu haben, ist eine meiner Tugenden«, verkündet Lea. Die Mädchen blicken zeitgleich nach unten auf Leas wild zappelnde Füße, die sie jedes Mal verraten. Sie lachen.

Love verrät Lea nicht, dass sie noch nicht die geringste Ahnung hat, wie so eine Dunkelkammer überhaupt beschaffen ist und wie der Entwicklungsprozess abläuft, jedoch ist sie sich sicher, dass es so kommt wie immer. Wenn sie sich felsenfest etwas vornimmt, dann wird es auch gelingen. Alles, was sie dazu benötigt sind mehr Informationen.

»Ein Buch über Fotografie wäre gut. Dein Vater könnte dir eins mitbringen«, meint Lea.

»Vielleicht von seinem aktuellen Feldzug.«

Die Chroniken von 4 City - Band 1

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