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Verjüngung

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Ich bin orientierungslos und trete ein Stück zurück. Stoße unbedacht gegen die Wand, verliere das Gleichgewicht und muss mich irgendwo festhalten, um nicht zu stürzen. Bin erschöpft, müde, überfällig. Es ist Zeit für die Verjüngung.

Ich knie mich hin und sammle all meine verbliebenen Kräfte zusammen. Mein graues Kleid ist schweißnass, ich beginne zu frösteln und wie die Kälte auf meiner Haut, sickert die Erkenntnis zu mir durch: Ohne Verjüngung würde ich eingehen wie eine verwelkende Rose.

In diesem Zyklus habe ich viel an Gewicht verloren. Ob mehr oder weniger, als beim Letzten, kann ich nicht mit Gewissheit sagen, weil ich mich nicht daran erinnern kann. Sieben Tage ist alles, was mir von der Vergangenheit bleibt. Sieben Tage sind die einzigen, an die ich mich erinnern kann. Mehr nicht. Sieben Tage; die Zeitspanne von Zyklus zu Zyklus.

Mein Körper fühlt sich brüchig und verletzlich an. Mein Geist ist zerstreut. Ist eine Ansammlung von losen zusammengehefteten Blättern voller Wissen. Eine Melange aus tausend gelesenen Büchern, intensiven Wahrnehmungen von Bildern, Geräuschen und Gerüchen. Chaotisch angeordnet, als würde mein Wissensschatz jeden Zyklus planlos versprengt, als würde er immer wieder von neuem in meinem Geist ausgesät. Ich bin eine wandelnde Enzyklopädie ohne Inhaltsverzeichnis und mein Gehirn ist ein Lagerhaus unaufgeräumter Gedanken. Ohne die Möglichkeit, den Blick in meine Vergangenheit zu richten, denn über all meinen Erinnerungen an frühere Zyklen liegt ein dunkles Leinentuch des Vergessens.

Langsam stehe ich auf und mache mich durch den Kreuzgang zurück auf den Weg zur Verjüngung. Ich durchschreite den arkadenförmigen, überwölbten Korridor. Der trostlose Anblick der Abtei zeigt sich in gespenstischer Klarheit. Links von mir sehe ich das quadratische Atrium. Ein Dach aus Metall verwehrt die Sicht auf den Himmel. Eventuell war das früher einmal anders. Vielleicht befand sich in ihm einmal ein Garten, ein Brunnen oder ein steinernes Kreuz? Zumindest habe ich diese Dinge über Kreuzgänge und Innenhöfe in kirchlichen Aufzeichnungen erfahren.

Zur Rechten sind sämtliche wichtigen Räume der Abtei angeschlossen. Die Kapelle, der Trainingsraum, die Bibliothek, der Hologrammwürfel und die Schlafkammer der einzigen mir bekannten Bewohnerin des Westflügels. Es handelt sich um meine eigene. Was sich im Osten befindet, kann ich nicht mit sicherer Kenntnis sagen. Ich war noch nie dort. Der Zutritt ist mir untersagt.

Der Lichthof ist meine persönliche Hauptverkehrsader in der Abtei. Alles unterliegt hier strengen Regeln. Ich darf nur zu gewissen Zeiten die Bibliothek betreten, um ein neues Buch zu erwählen. Und ich werde in den Trainingsraum beordert, wenn es Zeit zum Kämpfen ist.

Ich habe keine Ahnung, welcher Tag, welches Jahr, welches Jahrhundert heute ist. Niemand kann oder will mir diese Fragen beantworten. Jeder Zyklus in der Abtei fühlt sich einmalig an. Alle davor sind verloren und ich kann sie in meinem Kopf nicht erneut aufleben lassen.

Erinnerungen? Keine Spur davon!

Das liegt an meiner Gefühlswelt, vermute ich. Denn das Gedächtnis und die Gefühle sind eng miteinander verwoben. Dieses Wissen habe ich auch aus Büchern wie alles andere über das ich Bescheid weiß. Im Gegensatz zu meinen Zyklen kann ich mich an jeden gelesenen Satz erinnern. Mein Horizont besteht im Grunde nur aus Silben, Wörtern und Sätzen, die ich aus dem Papier heraus gesogen habe.

Der Luftzug der Klimaanlage streicht über meine feuchte Haut und lässt mich frösteln. Während ich von einem bloßen Fuß auf den nächsten trete, spiele ich mit der Idee, mein Kleid auszuziehen. Es gibt hier sowieso niemanden, der mich in Unterwäsche sehen könnte. Keinen außer Reico.

Ich komme an dem Eingang zur Bibliothek vorbei. Die Tür liegt in der Dunkelheit. Ist durch die Schatten verborgen. Der Zugang ist verwehrt. Ich habe einmal gelesen, dass man in der Stille der eigenen Gedanken die Dinge des Lebens verstehen kann. Ich würde das gerne ergründen, da aber mein Gehirn niemals zum Stillstand kommt, scheint mir dies unmöglich zu sein.

Ich bleibe stehen. Denke nach.

Reflektiere den Inhalt von Büchern.

Von allen Welten, die der Mensch je erschaffen hat, ist die der Literatur wohl die Gewaltigste. Ich finde dieses Zitat interessant. Hätte der Erfinder es auch zu Papier gebracht, wenn er gewusst hätte, dass die Menschen die Welt zerstört haben? Vermutlich liegt aber doch viel Wahrheit darin. Denn die Bücher gibt es immer noch. Und die Menschen? Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es sie alle nicht mehr.

Manchmal lese ich ein und dasselbe Werk etliche Male hintereinander, bis ich seine Handlung hundertprozentig verstanden habe, darüber sprechen und argumentieren kann. Alles abgespeichert habe, um daraus rezitieren zu können. Dummerweise weiß ich nur nicht, ob ich es vor zehn Tagen, Jahren oder Jahrzehnten gelesen habe.

Lesen? Schmökern? Verschlingen?

Ich eigne mir das Wissen nicht nur an, um die Tests zu bestehen, die mir Reico auferlegt. Es ist viel mehr als das. Es ist, als würde ich damit einem höheren Zweck dienen, der sich mir leider noch nicht erschlossen hat.

Meine Gedanken springen wild umher und landen jetzt bei Reico.

Manchmal frage ich mich, wer sie ist. Ich kenne nur ihre Stimme. Hat sie auch einen Körper, so wie ich? Hat sie einen eigenen Kreuzgang, eine Kapelle, eine Bibliothek und eine kleine Kammer? Muss sie auch Aufgaben bewältigen? Hat sie auch noch nie Angst gehabt, gelacht, geweint oder geliebt? Reico kann lachen, erinnere ich mich. Ich habe sie gehört. Vor zwei Tagen.

Ich habe so viel über Empfindungen gelesen, kann mir aber nicht vorstellen, wie diese genau funktionieren sollen. Gefühle? Emotionen? Ich zwinge mein Gesicht zu einem Lächeln. Fühlt sich interessant an. Ist das alles? Ist das eine Gemütsbewegung?

Absichtslos bleibe ich stehen. Ich sollte weitergehen. Es ist Zeit, um voranzuschreiten, aber ich kann meine Gedankenflut nicht eindämmen.

Gedanken. Gedanken. Gedanken.

Was ist Zeit eigentlich?

Sie ist auf jeden Fall kein Verbündeter. Denn die Stunden in der Abtei fühlen sich wie Tage an, wenn man allein ist mit sich und seinen unerfüllten Wünschen nach Emotionen. Eine Minute fühlt sich wie eine Stunde an, wenn das einzige Gesicht, das man berühren kann, das eigene ist.

Tattoos zieren mein Antlitz nicht. Diese heilige Zone scheint offensichtlich die einzige Ausnahme zu sein. Denn die Kreise und Linien, die spielerischen Formen die miteinander harmonieren, lassen sonst keins meiner Körperteile aus.

Arme. Beine. Torso.

Warum ich diese Zeichen auf meiner Haut spazieren trage, aus welchem Grund ich in der Abtei gefangen bin? Das sind Fragen, zu denen ich keine Antworten finde. Weshalb bin ich hier? Wer bin ich? Ergibt das alles einen Sinn? Hat meine Existenz eine Bedeutung?

Fragen. Fragen. Fragen.

Und?

Weswegen kann ich nichts fühlen? Ich würde gerne fühlen können. Möchte mich vor der nächsten Prüfung fürchten oder es hassen hier zu sein.

Wer hat sich so etwas ausgedacht, mir keinen Funken Gefühle zu geben?

War es vielleicht Gott?

Ich kenne ihn. Über niemand anderen wurde so viel geschrieben wie über den Schöpfer.

In der Bibel steht: Er hat die Welt und die Menschen erschaffen. Es heißt, er hat die Erde den Menschenkindern geschenkt.

Fragen. Fragen. Fragen.

Wer sind die Menschen?

Ich raufe mir die Haare. Würde diese Fragen, meine Gedanken gerne abstellen, doch es ist unmöglich.

Bin ich ein Mensch?

Nein, ich bin sicher kein Mensch, denn ich würde das Geschenk des Herrn niemals mit Füßen treten. Weltkriege, Klimakatastrophen, Hunger oder Leid verursachen. Aber die Menschen schon. Ihr Geist scheint schwer von Begriff zu sein. Sie haben wieder und wieder dunkle Schatten über der Erde heraufbeschworen.

Das Industriezeitalter hat Unternehmen erfolgreich von einfachen Familiengeschäften zu gigantischen internationalen Konzernen anschwellen lassen. Ähnlich wie Dinosaurier haben Kapitalgesellschaften riesige Körper in denen Güter produziert und Geschäftsprozesse verwaltet werden. Die Geschicke des Konzerns werden jedoch nur von wenigen Individuen in der Konzernzentrale bestimmt. Ein riesiger Körper und dazu im Vergleich ein sehr kleines Gehirn. Womöglich haben sich die Menschen gar nicht so sehr von den Riesenechsen unterschieden. Eventuell war ihr Aussterben vorprogrammiert?

Ich denke darüber nach, ob die menschliche Rasse ein Fehler in der Schöpfung war. Gott kann doch nicht gewollt haben, dass sich seine eigenen Kinder gegenseitig umbringen, aus Macht, Eifersucht und Gier. Hat sich die Menschheit jemals gefragt, warum sie es verdienen sollte, zu überleben? Vielleicht verdient sie es auch nicht. Gegebenenfalls bereut der Ewige es sogar, sie erschaffen zu haben?

Das Wissen all der gelesenen Zeilen fließt an meinem inneren Auge vorbei. Vermutlich, wenn ich es könnte, würde ich so etwas wie tiefe Melancholie empfinden. Allein zu sein, mit diesen Gedanken und mit diesen Fragen, das ist doch ein Grund traurig zu sein. Oder etwa nicht?

Ich würde gerne so etwas wie Glauben verspüren, dass ich diesem Ort zusammen mit Reico eines Tages entfliehen kann. Es wäre ein Silberstreifen am Horizont. Ich habe eintausend Dinge über die Hoffnung gelesen, aber keine Ahnung, wie sie sich anfühlen sollte. Ich habe mehr als doppelt so oft von Rache gelesen. Was würde ich tun, wenn ich denjenigen finden würde, der verantwortlich dafür ist, dass ich hier eingesperrt bin?

»Ich bin allein. Ich fühle mich abgesondert«, sage ich leise. Aber es ist eine Lüge. Ich fühle nichts. Da ist nur diese Leere. Allein sein oder einsam zu sein; dazwischen liegen Welten.

Ich werde in meinen Gedankengängen unterbrochen. Dieser Körper ist schuld, er treibt mich an. Weiter vorne im Kreuzgang leuchten auf den Wänden Schriftzeichen auf. Sanskrit! Die Sprache, die mir befiehlt. Ist ja gut. Ich beeile mich ja schon. Ich bin gleich da. Ich nähere mich der gläsernen Tür, erreiche sie und prüfe die digitale Energieanzeige. In den letzten Tagen gab es immer wieder Probleme mit der Energie. Schwankungen, die das Licht zum Flackern bringen. Jetzt scheint alles in Ordnung zu sein. Über dem Eingang steht: Verjüngung.

Die Tür öffnet sich. Es ist Zeit für einen neuen Zyklus. Zeit mich zu erneuern und abermals Sämtliches zu vergessen. Mich nicht an mich selbst zu erinnern.

Ich betrete das quadratische Zimmer mit dem schneeweißen Mauerwerk, blicke hoch zur Decke. Ich vermute, dieser Raum ist der Anlass, warum ich keine feste Nahrung zu mir nehmen muss, der Grund, weshalb mein Stoffwechsel anders funktioniert. Abweichend von allen anderen Lebewesen.

Nach der Verjüngung werde ich mich fühlen, wie nach einem langen erholsamen Schlaf. Wie neugeboren.

Ich drücke den rechteckigen Schalter. Das Glas hinter meinem Rücken zischt leise, als es sich schließt. Leichter Nebel fließt über den Boden und hüllt meine nackten Füße ein. Kühl und feucht fühlt er sich an.

Ich ziehe das graue Kleid aus, lasse es neben mich auf den Boden fallen und strecke beide Arme in die Höhe. Bin bereit, drehe mich um meine eigene Achse.

Sensoren und kleine Lichtquellen blinken, erfassen mich mit ihrem Leuchten und das Prozedere beginnt. Ich beobachte, wie sich winzige Löcher in der Decke auftun.

Ich atme durch, jetzt geht es los. Wie viele Tage könnte ich ohne diese Kammer überleben?

Ich höre wie sich elektromechanische Schlösser summend öffnen. Ein bekanntes und beruhigendes Geräusch. Die LED flackern kurz auf. Was ist los? Warum stoppt die Prozedur? Wieder Probleme mit der Energie, vermute ich und dann gehen tatsächlich die meisten Lichter ganz aus. Der Raum ist nur schwach erleuchtet. Wie in einer Notsituation. Trotzdem spüre ich den ersten Tropfen auf meiner Nasenspitze und eine Sekunde später prasselt warmes, weiches Wasser auf mich herab. Der Verjüngungsregen, wie ich ihn nenne. Ich schließe langsam meine Lider, bin bereit, hinüberzugleiten in den Frieden und die Stille. Die Notbeleuchtung, kommt es mir in den Sinn. War ich je schon einmal hier, als es einen Stromausfall gab?

Ich reiße meine Augen auf und plötzlich sehe ich es. Ein Gesicht. Ist das mein Antlitz, das sich in der gläsernen Tür widerspiegelt? Mit einem Mal lächelt es mich an und eine Hand legt sich von außen auf die Scheibe. Es ist keine Spiegelung, trifft mich die Erkenntnis wie ein Schlag. Jemand steht tatsächlich vor der Tür. Ich bin nicht allein! Ich mache einen Schritt auf die Glasscheibe zu.

»Reico? Bist du das?«


Die Chroniken von 4 City - Band 2

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