Читать книгу Die Chroniken von 4 City - Band 2 - Manuel Neff - Страница 7
Philosophiestunde
ОглавлениеSiebe Tage später.
Auch dieser Zyklus geht langsam seinem Ende zu. Sieben Tage und Nächte bin ich wach und jede Faser, jeglicher Muskel, alles tut weh. Mein Körper bringt mich zu der nahen Glastür, dem Ausgang aus dem Trainingsraum. Ich berühre die glatte Oberfläche, presse die Hände dagegen, sie geht auf. Meine Knöchel stehen weiß hervor. Einige Fingernägel sind vom Kampf abgebrochen. Ein Lufthauch, der Wind aus der Klimaanlage weht durch mein Haar.
Ich schaue hinaus auf den Kreuzgang und den Innenhof, auf den bescheidenen Kosmos in meinem Gesichtsfeld. Blicke über unbezwingbare Grenzen, Winkel, Treppen, die Korridore der Abtei. Schließe die Augen.
Ich sauge die künstliche Luft ein, ertaste die Bilder, die ich in meinem Kopf male.
Es ist Zeit. Gleich wird sich die Schleuse zum Hologrammraum wieder öffnen. Die letzte Etappe vor der Verjüngung. Die noch zu absolvierende Prüfung dieses Zyklus. Ich wende mich ab, rutsche an der flachen Wand hinab, spüre die Kälte im Rücken und mache mich ganz klein.
Die Abtei ist mein Zuhause.
Mein schlichtes, graues Kleid ist das einzige Kleidungsstück, das ich besitze.
Verschlissen, vom Alltag gezeichnet.
Ich ziehe den dünnen Stoff runter über meine aufgeschürften, blutigen Knie. Erinnerungsstücke aus dem Kampftraining.
Ich lege den Schleier meiner pechschwarzen, glatten Haare über die entblößten weißen Arme. Überdecke die filigranen Muster auf meiner unverhüllten Haut, die mich verspotten.
Die Abtei erscheint mir fantasielos und nackt. Mich eingeschlossen. Ich benötige keinen Schrank für nur ein Kleidchen. Keinen Tisch für jemanden, der nicht zu essen braucht. Was ist Nahrungsaufnahme überhaupt?
Ich habe viel über Ernährung gelesen. Aber wie schmecken Speisen?
Ich wende mich ab, verhülle mit dem Kleid und meiner Mähne die unzähligen blauen, roten und grünen Flecken auf meinem jungen Körper. Es scheint einfacher aufzuzählen, wo ich nicht irgendein Schmerz verspüre. Lernen, trainieren und die Tests bestehen. Zyklus für Zyklus.
Ich blicke zu dem Buch, das ich dieses Mal gelesen habe.
Alles hat seine Zeit, lautet der Titel. Ich kenne seinen Inhalt auswendig.
Es handelt vom Altern. Etwas, das mich nicht betrifft.
Es führt auf, wie alt Menschen werden könnten.
Davon, dass Säugetiere rein theoretisch fünfmal so lange leben, wie sie wachsen. Es beschreibt, dass Menschen ihre Reife zwischen 18 und 25 Jahren erreichen und aus diesem Grund neunzig bis hundertfünfundzwanzig Jahre alt werden können. Der Autor selbst hat diese Gesetzmäßigkeit festgestellt.
Das Buch ist kompliziert geschrieben. Es ist viel schwerer zu verstehen als die vielen Geschichtsbücher, die ich gelesen habe.
Ich interessiere mich für Geschichten. Vor allem die aus der alten Zeit. Viele handeln von kriegerischen Auseinandersetzungen, Tod und Verwüstung. Darunter gibt es sehr alte Legenden. Der Mythos vom Fall Trojas ist eine davon.
Krieg, menschliche Fehler und die tief im Leben verankerte Nähe zu den griechischen Göttern stehen im Mittelpunkt. Die Sprache des Erzählers ist interessant, der Ausgang der Schlacht überraschend. Die weisen und edlen Männer, voran Priamos und Hektor, werden besiegt. Dank der entscheidenden Ideen eines Einzigen, der List des trojanischen Pferdes.
Ich frage mich oft, wenn all die Überlieferungen in den Büchern wahr sind, was ist es dann, das die Welt zusammenhält? Was bewahrt sie vor dem endgültigen Untergang? Vielleicht ist es das Gleiche, das mich zusammenhält? Plötzlich geht die Schleuse auf.
Der Hologrammraum öffnet sich. Es ist nun so weit. Ich stehe auf und mache einen Schritt vorwärts.
Es ist still, unheimlich lautlos. Das einzige, das Geräusche verursacht, bin ich. Ich höre meinen Atem, der schnell geht. Was wird es dieses Mal sein, das ich tun muss?
Ich gelange durch einen Durchgang, der sich summend geöffnet hat, betrete den blütenweißen Raum. Der Zugang schließt sich hinter mir, wie von Geisterhand berührt. Schriftzeichen materialisieren sich auf dem Türblatt. Das Licht dahinter erlischt. Der Ausgang ist versperrt. Mein Herz schlägt ruhig und gleichmäßig. Nein falsch! Es sollte verhalten und beständig schlagen, aber ich kann es in meinem Hals spüren, wie aufgeregt es ist.
Ich bin hier in dieser quadratischen, vollkommen leeren Halle eingesperrt, so lange, bis ich auch diese Aufgabe absolviert habe.
Die Wände flackern nun und der Boden flimmert. Alles bewegt sich.
Es sind Bilder, Projektionen. Die Sphäre verwandelt sich und ich stehe mittendrin in einer fremden Welt, drehe mich um meine eigene Achse und blicke nach allen Seiten.
Das Hologramm erzeugt Häuser, gewaltige Blocks und Wolkenkratzer ragen empor.
Überall sind Menschen.
Wahnsinnig viele kommen mir entgegen, gehen, rennen durch mich hindurch. Ich bin gefangen von den Eindrücken, dem Ausdruck der Angst in ihren Gesichtern. Sie eilen vor etwas davon. Laufen um ihr Leben. Dann plötzlich höre ich es. Die Schreie, ihre gellenden, verzweifelten Hilferufe. Eine Frau nimmt ihre Tochter in den Arm, schirmt sie mit ihrem Leib gegen das heranrollende Unheil ab. Fluten reflektieren die Strahlen der Sonne. Unmengen von Wasser peitschen durch die Stadt. Männer und Frauen reißen ihre Hände hoch und vor das Gesicht.
Rauschen. Dann plötzlich: Totenstille.
Als ich die Lider wieder öffne, sind die Straßen verschwunden. Die Gassen, die Häuser, die Körper, die künstlich erzeugten Bilder. Alles was bleibt, ist der blütenweiße Raum, ich in seiner Mitte und neben mir eine kleine libellenartige Drohne, mit riesigen Linsen.
»Guten Tag Karma. Wie geht es dir heute?«
»Gut, Reico. Danke, dass du mich fragst«, erwidere ich.
»Dein Herzschlag ist erhöht. Bist du dir sicher, dass du gesund bist?«, fragt Reico und die Drohne umrundet mich einmal.
»Mir geht es gut«, sage ich, aber ich weiß, etwas ist merkwürdig. Ich lüge Reico an. Ihre junge, weibliche Stimme will nichts anderes hören. Es ist ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass ich wohlauf bin.
»Gut also? Findest du es nicht verstörend und Angst einflößend, den Untergang der Stadt in der Sintflut mit anzusehen?«
Ich scanne die Irrwege meines Gehirns nach nützlichen Informationen. Finde eine logische Antwort in einem Buch, das ich in irgendeinem Zyklus einmal gelesen haben muss. Die Geschichte eines heiligen Feuervogels aus Überlieferungen Ägyptens, einem Land, lange vor der Alten Welt. Und dann lege ich mir die Worte zurecht, rufe mir in Erinnerung, dass dies nur eine Prüfung ist.
»Die Sintflut ist eine Metapher. Jeder Niedergang ist nichts weiter als ein Bestandteil der Evolution. Er offenbart den bevorstehenden Geburtsprozess, bei dem das alte Denkmuster abfallen und ein neues hervortreten wird. Es ist das Muster der Weiterentwicklung. Es ist der Aufstieg des Phönix aus der eigenen Asche. Jeder Untergang einer Zivilisation ist somit ein elementarer Teil des Fortschritts und der Anfang von etwas Neuem, etwas Besserem.«
Das letzte Bild, die letzte Sequenz erscheint wieder. Die Mutter und ihre Tochter, kurz bevor sie die Sintflut verschlingt. Standbild. Die Drohne schwirrt durch das Bild.
»Was siehst du?«
»Eine Analogie. Ein Sinnbild für den Weltuntergang.«
»Weißt du, warum die Welt untergegangen ist?«
»Die Kulturen waren so sehr an ihrem Besitz orientiert, dass sie vergessen haben, was sie wirklich glücklich macht. Die Menschen sind dem Geld nachgejagt, haben mehr Zeit mit der Arbeit verbracht, als sich um ihre persönlichen Beziehungen zu kümmern, die für ihr Wohlbefinden eigentlich entscheidend sind. Die Verbindung zum Planeten Erde inbegriffen. Es waren die vergifteten inneren Haltungen der Überlegenheit, Ausbeutung, Angst, Manipulation, Ungerechtigkeit und programmierten Ignoranz«, fasse ich meine Ausführungen zusammen. »Die Menschen haben ihren Heimatplaneten ausgebeutet. Sich in eine Situation hinein manövriert, in der das Fortbestehen von immer knapper werdenden, äußeren Ressourcen bedingt ist. Das war kein schlauer Schachzug.«
»Was wäre denn deiner Ansicht nach klüger gewesen?«
»Wenn sie erkannt hätten, dass ihr Überleben davon abhängt, dass der Planet und alle auf ihm lebenden Arten genausogut versorgt werden müssen, wie jeder einzelne selbst.«
»Was siehst du in ihren Augen? Schau genau hin!«
»Die Angst vor dem Tod«, erkläre ich.
»Was ist der Tod?«
»Er markiert das Ende einer Lebensreise.«
»In einer dualen Welt gibt es immer eine Kehrseite. Sag mir, was ist der Gegenpol von Tod?«
»Das Leben.«
»Gut. Was empfindest du jetzt?«
»Nichts«, sage ich. »Ich kenne so etwas wie Gefühle nicht.«
»Du weißt, warum du nicht fühlen kannst?«
»Nein, ich habe keine Erinnerungen daran.«
»Erinnerungen?«, fragt Reico und ihre Drohne kommt ganz nah an mich heran.
»Keinerlei Informationen darüber, meinte ich.«
Der Raum, alles um mich herum beginnt wieder zu flimmern. Ich verfolge die bewegten Bilder, sehe eine Similarität, einen Transformationsprozess. Eine Raupe schillert in tausend Farben im Morgentau, kriecht über ein zartes Blatt, unabwendbar ihrem Ende entgegen. Ihre Bewegungen fangen an, sich zu verlangsamen, ihr organisches System fängt an zusammenzubrechen. Ihre Zellen begehen Selbstmord. Es herrscht eine Atmosphäre von Zerfall und drohender Apokalypse. Doch mitten im Sterben taucht das Neue auf. Die Raupe beschließt aus den Wrackteilen etwas bislang Unbekanntes zu erschaffen. Und so erhebt sich aus den Ruinen der Larve eine großartige Flugmaschine - ein Schmetterling - dem es erlaubt ist, eine himmlischere Welt zu erblicken, als sie sich die Raupe je hätte vorstellen können.
»Karma, glaubst du an Gott?«, fragt sie.
»Der Allmächtige hat die Welt hervorgebracht und sie den Menschen geschenkt. Aber sie haben dieses Geschenk nicht verdient.«
»Verdeutliche das.« Ich denke an all die Bilder, an die Eindrücke, die Vernichtung und das Leid, welches ich in diesem Raum in den Hologrammen gesehen habe und all das, was ich gelesen habe.
»Die Menschen sind sich ihrer Verantwortung nicht bewusst. Sie haben die Welt schon viele Male zerstört und in Krisen gestürzt«, sage ich.
»Erkläre das Wort Krise!«
»Jede Krise ist ein Symptom, durch welches Gott uns mitteilt, dass wir unsere Existenz bis an die Grenzen belastet haben und wir uns jetzt etwas Neues einfallen lassen müssen, um unser Dasein aufrechtzuerhalten. Eine neue Lebensart zum Beispiel, die alle retten kann, bis die nächste verzwickte Situation ansteht. Eine Lebensform, für die Grenzerfahrungen und Angst nichts weiter als der Handlauf des Lebens sind.«
»Was glaubst du? Wer kann die Menschen retten?«, fragt sie und die Drohne schwirrt ganz nach oben bis unter die Decke.
»Ich weiß es nicht«, sage ich und lege meinen Kopf in den Nacken.
Was wäre, wenn alles was ich weiß, falsch wäre? Soll ich die Evolutionstheorie in Frage stellen? Ich habe gelesen, dass es dieser Theorie zufolge lange Phasen der Stabilität gibt, die von Stadien radikaler und unvorhersehbarer Umbrüchen unterbrochen werden. Es kommt zum Massenaussterben, doch die Evolution bringt in sehr kurzer Zeit neue Arten hervor. Bin ich so eine neue Lebensform? Bin ich aus diesem Grund hier? Deshalb das ganze Training und die Grenzerfahrungen, um zu prüfen, ob ich den Herausforderungen gewachsen bin?
»Das genügt. Du hast bestanden. Es ist Zeit für die Verjüngung. Gehe nun!«, sagt Reico und die Drohne fliegt Richtung Ausgang und davon.
Die Schriftzeichen an der Schleuse lösen sich auf. Die Tür hat sich wieder geöffnet, die heutige Prüfung, die mehr einer philosophischen Lehrstunde geglichen hat, ist beendet und es zieht mich hinaus. Ich bewege mich wie eine Motte, die sich am Mond orientiert. Vorbei an den, im Dunkeln liegenden verschlossenen Gängen, Abzweigungen und weiteren Absperrvorrichtungen.
Ich frage mich, warum sie diesen irrsinnigen Aufwand betreiben? Diese ganze Mühe, um mich auszubilden, ohne einen triftigen Grund.
Was versprechen sie sich davon?
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch, registriere, dass mich meine Füße bis in den Kreuzgang und von dort bis zur Verjüngung getragen haben. Ich sehe weiße Fliesen und blanken Stahl.
Der Raum ist klein, nicht mehr als eine weitere Kammer der Abtei. Ohne Fenster, frei von natürlichem Licht. Kalt sind die Luft und der Boden. Ich warte auf das Wasser, das bald schon auf mich niederprasselt. Mein Kleid lasse ich an, auch der Stoff muss einmal ausgespült werden. Meine Haare reichen fast bis zur Mitte meines Rückens, sind glatt, pechschwarz und schwer von der Nässe.
Irgendwann wird es dunkler um mich herum. Die Lichtquellen nehmen an Intensität ab. Ich schließe die Augen und das Wasser regnet, prasselt und tröpfelt schließlich nur noch auf mich herab. Meine Gedanken und mein Geist werden ruhig und still.