Читать книгу Der magische Adventskalender & Das Licht der Weihnacht - Manuel Neff - Страница 9

4. Kapitel - fliegendes Besteck

Оглавление

Mitten in der Nacht liegen vier, bis zur Hälfte unsichtbare Gestalten unter dem Küchentisch. Aufgrund der Nebenwirkungen des halbfertigen Unsichtbarkeitswassers ist Lanzelot nicht vollständig unsichtbar geworden. Seine Hasenläufe sind leider noch zu sehen. Bei Thomas sind die Augen sichtbar geblieben. Bei Paolo die Hände und bei Lara sieht man noch die Haare. Wenn die vier hintereinander herlaufen, sehen sie zusammen wie eine echte Gruselgestalt aus.

»Ich halte zuerst Wache«, sagt Lanzelot.

Paolo schaut auf die Hasenläufe.

»Ich weiß nicht. Du schläfst doch immer ein.«

»Ich schlafe nicht ein. Niemals!«, beschwert sich Lanzelot.

»Gib ihm eine Chance«, bittet Lara ihren Bruder.

»Na gut, einverstanden«, stimmt Paolo brummig zu. Sie haben sich noch ein paar Decken geholt, damit es unter dem Küchentisch einigermaßen bequem ist.

»Um Mitternacht weckst du mich auf jeden Fall auf. Ich übernehme die zweite Schicht«, erklärt Paolo dem Hasen.

»Warum du?«

»Wieso denn nicht?«

»Keine Ahnung.«

»Tu einfach, was Paolo sagt«, mischt sich die fast unsichtbare Lara in die Diskussion ein und ihre Haare wippen dabei lustig auf und ab.

»Nur wenn du es mir befiehlst«, sagt Lanzelot aufmüpfig.

»Also gut. Das ist ein Befehl!«, kichert Lara.

»Okay Paolo, ich wecke dich um Mitternacht auf. Moment, wie weiß ich denn, wann Mitternacht ist?«, fragt Lanzelot und kratzt sich zwischen den Ohren, was natürlich keiner sehen kann.

»Siehst du die Küchenuhr da oben?«

»Klar, sehe ich die. Ah, gut, ich habe verstanden. Kann also losgehen. Sobald die Diebe auftauchen, schlage ich Alarm!«

»Nein, du sollst uns einfach nur leise aufwecken und keinen Alarm schlagen«, erklärt ihm Paolo eindringlich. Er hat ihm schon zum gefühlt hundertsten Mal erklärt, wie das Ganze ablaufen soll, aber Lanzelot will es einfach nicht verstehen.

»Habs kapiert. Wenn das Besteck sich vom Acker machen will, dann kracht es gewaltig«, sagt Lanzelot. Paolo verdreht die Augen. Er ist sich absolut sicher, dass der kleine Hase überhaupt nicht verstanden hat, worum es eigentlich geht. Tatsächlich rechnet er damit, dass Lanzelot mitten in der Nacht das ganze Haus zusammentrommeln wird. Mit einem komischen Gefühl im Magen legt sich Paolo aufs Ohr.

Paolo kann eine ganze Weile nicht einschlafen. Zu viele Gedanken spuken in seinem Kopf herum. Gibt es tatsächlich Besteckdiebe? Und werden sie heute Nacht wieder kommen, um das Besteck zu stehlen? Alles ist fast genauso wie vor einem Jahr, nur dass es dieses Mal wahrscheinlich keine Pauwdiejagd ist, sondern sich hundertmal gefährlicher anfühlt. Die Luminova-Aufspürbrille liegt griffbereit neben ihm und er hat sich vorgenommen, Lanzelot nicht aus den Augen zu lassen. Er traut dem Hasen nicht. Lanzelot wollte schon auf Ganesha immer Wache halten und ist jedes Mal eingeschlafen. Paolo will durchhalten aber schließlich, eine Stunde vor Mitternacht fallen ihm dann doch die Augen zu.

Ein Geräusch lässt Paolo aufschrecken. Es ist Lanzelot, aber er schlägt keinen Alarm, sondern schnarcht wie ein kleines Murmeltier.

»Oh nein, ich habe es gewusst«, wettert Paolo in Gedanken mit sich selbst. Er stupst in Richtung des Geräuschs und Lanzelot verstummt. Der Hase rollt sich auf die Seite und schläft mit schweren Atemgeräuschen einfach weiter.

»Na prima!«

Paolo tastet nach der Aufspürbrille, streift sie sich über und schaut hoch zur Küchenuhr. Es ist kurz nach halb Drei! Die Aufspürbrille fühlt sich ungewöhnlich kalt an und Paolo muss an Laras Lavahalskette denken, die auf dem Küchenboden festgefroren war. Hoffentlich friert die Brille nicht in seinem Gesicht fest! Die Kälte scheint nicht nur die Stadt fest in ihrem Griff zu haben, sondern weitet sich auch auf die Kraftgegenstände aus.

Paolo schwört sich, dass er Lanzelot nie wieder Wache schieben lässt, dann bekommt er mit, wie sich plötzlich die Kühlschranktür öffnet. Paolo verhält sich mucksmäuschenstill und rührt sich keinen Millimeter vom Fleck. Mit Hilfe der Aufspürbrille versucht er, etwas zu erkennen. Leider ist das eine Fehlanzeige. Er sieht überhaupt nichts. Die Kühlschranktür steht sperrangelweit offen und Paolo traut sich nicht, sich zu bewegen. Zu groß ist seine Angst. Zum Glück ist er bis auf seine Hände unsichtbar und kann so fast nicht entdeckt werden. Er beobachtet wie ein Stück Käse aus dem Kühlschrank heraus schwebt und blitzschnell aus der Küche hinausfliegt.

Hat der Käse etwa einen Raketenantrieb? Paolo schaut sich um, kann aber nichts weiter entdecken. Plötzlich geht eine Schublade des Küchenschranks auf. Eine der neuen Gabeln schwebt heraus und fliegt auch in einem Höllentempo aus der Küche hinaus. So geht das noch eine ganze Weile. Messer, Gabeln und ab und zu auch etwas aus dem Kühlschrank.

»Es gibt gar keinen Dieb, sondern das Besteck haut in der Tat einfach von alleine ab«, zieht Paolo seine Schlüsse in Gedanken.

Was soll er tun? Aus seinem Versteck herausspringen, um das Besteck aufzuhalten? Nein, das traut er sich nicht. Das hier ist schon etwas anderes als die Geschichte mit den kleinen Kartoffelwesen. Was ist, wenn eins der Messer auf ihn losgeht? Als Nächstes schwebt die Schere aus der Schublade und schwirrt davon. Paolo muss dringend etwas unternehmen. Das ist doch der Grund, warum sie hier sind. Er wird Lara aufwecken. Vielleicht weiß sie, was zu tun ist. Paolo wendet langsam den Kopf und achtet darauf, kein Geräusch zu verursachen. Lara schläft tief und fest neben ihm. Paolo bekommt einen riesen Schreck, als er bemerkt, dass Lara nicht mehr unsichtbar ist. Das halbfertige Unsichtbarkeitswasser hat bei ihr schon seine ganze Wirkung verloren. Würde ein Löffel oder eine Gabel jetzt Richtung Tisch schauen, dann würden sie Lara ganz gewiss entdecken. »Was für ein verrückter Gedanke. Essbesteck hat keine Augen. Aber warum eigentlich nicht? Was hat seine Oma Luise immer gesagt: Man sieht das, an was man glaubt. Wir nehmen die Welt oft deshalb falsch wahr, weil wir sie hauptsächlich durch unsere Augen wahrnehmen, anstatt mit unseren Herzen«, erinnert sich Paolo und dann schließt er seine Augen. Er atmet tief ein und aus, so wie er es von Lara gelernt hat und spürt in sein Inneres hinein. Das macht er ein paar Mal. Er hört, wie sich das Besteck weiterhin vom Acker macht, aber mit einem Mal vernimmt Paolo auch noch ein anderes, viel leiseres Geräusch. Es klingt wie ein Glöckchen. Er öffnet die Augen und sieht einen Löffel vorbeiflitzen. Aber er fliegt nicht von alleine, sondern wird von etwas getragen. Etwas, das Paolo vorher nicht gesehen hat. Vielleicht, weil er es einfach nicht für möglich gehalten hat oder schlichtweg nicht daran geglaubt hat.

»Was ist das?«, fragt Paolo erstaunt und merkt zu spät, dass er laut gesprochen hat. Der Löffel macht eine Kehrtwende und rast nun in seine Richtung. Plötzlich klatscht das fliegende Etwas voll gegen das Tischbein. Der Löffel fällt auf den Boden und das kleine Wesen torkelt leicht benommen in der Luft herum, bis es sich wieder von dem Aufprall erholt hat. Dann bleibt es wie eine Libelle unmittelbar vor Laras Kopf in der Luft stehen.

Paolo hält den Atem an. »Eine Elfe«, denkt er. Die fast durchsichtigen Flügel schlagen wahnsinnig schnell und verursachen das kaum vernehmbare Glöckchenklingeln. Der Körper der Elfe sieht aus wie der einer jungen Frau. Sie trägt ein silbernes, kurzes Kleid, auf dem wunderschöne Schneekristalle in verschiedenen Größen und Formen glitzern. Ihr Haar ist weiß wie Schnee und auf ihrer Stirn wächst bereits eine große Beule, die von dem Aufprall gegen das Stuhlbein herrührt. Sie hat die Augen weit aufgerissen und ist offensichtlich erstaunt oder sogar erschrocken darüber, Lara hier zu sehen.

In Nullkommanix fliegt die kleine Elfe zum Löffel, hebt ihn auf, steuert auf den Kühlschrank zu wobei sie noch Schwierigkeiten hat, eine gerade Flugbahn zu finden. So als wäre sie leicht betrunken, düst sie im Zickzackkurs durch die Küche.

»Ojemine! Sie sind hier«, spricht sie mit einer wohlklingenden Mädchenstimme. Aber Paolo kann nur die Elfe hören und sonst nichts. Spricht sie mit sich selbst oder gibt es noch andere unsichtbare Wesen? Er liegt immer noch in seinem Versteck und rührt sich nicht von der Stelle. Jetzt beobachtet er, wie die Elfe die Kühlschranktür zuschiebt. Die Aufspürbrille wird unterdessen immer kälter und schmerzt bereits auf Paolos Gesicht.

»Ich muss mich beeilen! Beeilen. Beeilen«, summt die kleine Elfe und die Kühlschranktür schwingt zu. RUMMS!

Dann schwirrt die Elfe mit dem Löffel Richtung Ausgang und das ist der Moment, in welchem Paolo die Brille absetzen muss, weil sie eiskalt wird. Plötzlich ist es stockfinster und so sehr Paolo sich auch anstrengt, er kann überhaupt nichts mehr erkennen. Trotzdem steht er auf und will der Elfe folgen. Paolo tastet sich in der Dunkelheit voran und erreicht den Küchenausgang. Sein Herz schlägt ihm hoch bis zum Hals. Paolo ist sehr aufgeregt. Er lauscht und hört, wie der Klang der Glöckchen der kleinen Elfe leiser wird. »Sie ist nach oben geflogen«, denkt Paolo, als er versucht, das Geräusch zu orten. Paolo erreicht die Treppe und geht Stufe für Stufe nach oben. Seine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit und so kann er schon wieder Umrisse erkennen. Er kommt im ersten Stock an und lauscht erneut. Ganz leise kann er die Glöckchen ein letztes Mal hören und dann verstummen sie ganz. Wenn sich Paolo nicht täuscht, dann ist die Elfe hoch auf den Dachboden geflogen. Er wartet noch einen Augenblick ab. Es ist nun ganz still geworden im Haus und so entschließt er sich, erst einmal Lara und die anderen zu wecken.

»Bin ich schon dran mit Wache halten?«, fragt Lara müde und gähnt.

»Nicht nötig. Ich habe ihn schon gesehen.«

»Wen gesehen?«

»Den Dieb«, plappert Paolo.

Ruckartig richtet sich Lara auf.

»Wo bist du denn?«

»Hier«, flüstert Paolo und macht die Taschenlampe an.

»Oh je, ich bin ja gar nicht mehr unsichtbar«, stellt Lara erschüttert fest.

»Dafür ist die Elfe unsichtbar. Beziehungsweise, das war sie. Jetzt ist sie es nicht mehr.«

»Elfe? Unsichtbar? Was erzählst du denn da?«

Und dann erklärt Paolo seiner Schwester in Kurzfassung, was er alles beobachtet hat. Und wie er geatmet und sein Herz geöffnet hat und dass dadurch die Elfe sichtbar wurde.

»Du hast dein Herz geöffnet?«

»Na ja, ich habe es mir vorgestellt. Auf jeden Fall ist die Elfe geflüchtet. Ich glaube, sie ist sehr schüchtern oder sie hatte Angst entdeckt zu werden«, schließt er seinen Bericht ab.

»Vor wem?«

»Vor dir. Vor uns. Ich weiß nicht so genau.« Mittlerweile sind auch Lanzelot und Thomas aufgewacht.

»Was ist passiert? Ist Paolo wieder eingeschlafen?«, beschwert sich Lanzelot direkt. Paolo schaut den kleinen Hasen wütend an, aber dann wird sein Blick wieder sanft. Er kennt Lanzelot seit über einem Jahr und weiß, wie lieb der Hase im Grunde ist. Eigentlich können sich die beiden nicht ausstehen, trotzdem hat er ihn irgendwie gern.

»Paolo hat den Dieb auf frischer Tat ertappt«, erklärt Lara den beiden Stofflebewesen.

»Wo ist er?«

»Fort«, sagt Paolo.

»Du hast den Dieb entwischen lassen?«, motzt Lanzelot ihn an.

»Lanzelot, wir haben alle noch geschlafen«, beruhigt Lara den Hasen.

»Müde«, grunzt Thomas.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt Lanzelot.

»Sie versteckt sich bestimmt noch irgendwo im Haus«, überlegt Lara.

»Ich weiß wo. Sie ist auf dem Dachboden.«

»Hast du sie mit der Aufspürbrille gefunden?«

»Nein, die Aufspürbrille ist so eiskalt geworden, dass ich sie absetzen musste.«

»So wie bei der Lavahalskette. Sie wurde auch frostig. Das liegt bestimmt an der Störung des Magiegleichgewichts«, ergänzt Lara. »Aber woher weißt du denn dann, wo sie jetzt ist?«

»Ich bin einfach dem Klang der Glöckchen gefolgt. Kommt mit!«

Kurz darauf befinden sich alle eine Etage höher und Paolo leuchtet mit der Taschenlampe in das schwarze, rechteckige Loch über ihnen, das hinauf zum Speicher führt. Er steigt die Treppe als erster hoch, gefolgt von Lara, Lanzelot und Thomas. Die Tür steht tatsächlich einen spaltweit offen. Paolo war schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf dem Dachboden. Er schiebt die Tür auf und dann betreten sie das oberste Stockwerk des Hauses.

»Ziemlich kalt hier«, stellt Paolo fest.

»Schau mal, da hängen sogar Eiszapfen«, flüstert Lara und gibt Paolo einen Stoß in die Rippen.

Sie blicken sich um. Die vier stehen mitten in der Museumskammer von Familie Maring. In Kisten und in löcherigen Schränken drängeln sich Generationen zersprungener Spiegel, farbiger Tücher, bemalter Leinwände, klobiger Holzrahmen, Bücher, Schallplatten, Mäntel, Hüte, Kleider und Anzüge aus alten Zeiten. Vasen und Geschirr stehen auf dem Boden, ein kaputter Holzschlitten lehnt an der Wand und Dinge, dessen Name Paolo nicht einmal kennt, tummeln sich in Regalen oder ruhen in dunklen Ecken. Das Licht der Taschenlampe strahlt durch die Reihen uralter Sachen. Neben einem hohen Kleiderständer, an dem ein brauner Wollschal lässig herunterbaumelt, steht eine dunkle Eichentruhe. Sie gehörte Oma Luise.

»Wir brauchen Jahre, um das alles zu durchsuchen!«, flüstert Paolo und seine Knie zittern vor Kälte.

»Paolo!«

»Was ist?«

»Leuchte mal dort hinüber, ich glaube, da war etwas.«

Paolo schwenkt den Lichtkegel der Taschenlampe nach links.

»Das ist nur ein alter verstaubter Mantel. Mehr nicht!«, sagt Paolo, doch kaum hat er es ausgesprochen, da erwacht der Mantel zum Leben. Paolo lässt vor Schreck die Taschenlampe fallen. Sie kullert einen halben Meter zur Seite und bleibt liegen. Alle stehen da und rühren sich nicht vom Fleck. Der Mantel hängt im Schatten, aber Paolo kann trotzdem sehen, dass er sich bewegt. Plötzlich huscht etwas über den Dachboden. Ein Schatten springt in die Luft und dann rumpelt es zu ihrer Rechten. Etwas plumpst auf den Boden und schließlich sieht Paolo die Ursache für die ganze Aufregung. Es ist Kater Jojo, der neben Oma Luises Truhe sitzt und die Geschwister aus leuchtenden Augen anschaut. Paolo befreit sich aus seiner Starre und hebt die Taschenlampe wieder auf.

»Jojo, was hast du denn hier oben verloren? Papa fängt die Mäuse auf dem Dachboden und nicht du«, scherzt Lara.

Die Geschwister gehen auf Zehenspitzen zu dem grau, schwarz gestreiften Kater und umrunden dabei ein Regal. Erstaunt bleiben sie stehen. Vor ihnen türmt sich ein ganzer Berg Besteck und Werkzeug auf. Hier sind die ganzen verschwundenen Sachen also gelandet! Plötzlich huscht etwas davon. Jojo kann es dieses Mal nicht gewesen sein, denn er sitzt neben Paolo und schaut verdutzt in die gleiche Richtung.

Es ist die kleine Elfe. Sie fliegt blitzschnell heran, landet auf Oma Luises geöffneter Truhe, zieht etwas heraus und will damit abhauen. Lara und die anderen beiden scheinen nichts davon mitzubekommen. Nur Kater Jojo rührt sich, springt in Richtung Truhe und die Elfe lässt das Ding erschrocken fallen und schwirrt davon.

»Da ist sie!«, ruft Paolo.

»Wo?«, fragt Lara, die zur Truhe schaut.

Paolo sieht, wie die Elfe zur Tür fliegt und den Dachboden mit leeren Händen verlässt.

»Was hat sie hier gewollt?«, fragt er.

»Von wem sprichst du? Ich habe nichts gesehen?«, fragt Lara erneut.

»Du musst daran glauben, dann kannst du sie erst sehen«, erklärt ihr Paolo.

»Herz öffnen«, grunzt Thomas.

»Ja genau!«

»Sie hat etwas fallen gelassen«, flüstert Paolo, während er sich der Truhe nähert. Sie entdecken dort eine Kerze und etwas Kerzenqualm hängt noch in der Luft.

»Das Wachs ist ganz weich. Die Kerze muss bis vor kurzem noch gebrannt haben«, vermutet Lara.

»Was ist das da auf der Truhe?«

»Das ist eine Postkarte. Sieh dir mal diese Abbildung an. Die sieht doch aus wie die weiße Stadt in der Schneekugel«, stellt Paolo fest.

»Ja, das stimmt«, bemerkt Lara und dreht die Karte um. »Hey da steht ja was drauf«, sagt sie und liest laut vor, was auf der Karte steht:

»Liebe Luise, ...«

»Die Karte ist an Oma Luise gerichtet«, flüstert Paolo.

»Snø«, grunzt Thomas.

»Scht! Das ist jetzt gerade echt spannend. Könnt ihr mal bitte ruhig sein«, beschwert sich Lanzelot, damit Lara weiter vorlesen kann.

»Liebe Luise, wir senden dir die allerbesten Grüße aus Snø. Vielen Dank für deinen Besuch und die Zähmung der kleinen Schneekriecher. Sie werden schnell heranwachsen, damit die Yetis viele weitere Tunnel bauen können. Die Yeti-Untergrundbahn ist so etwas wie die Lebensader des ganzen Planeten. Sie hat einst die vier Völker von Snø miteinander verbunden und wird das eines Tages gewiss wieder tun«, liest Lara vor und dann sagt sie: »Wow!«

»Was wow?«, fragt Paolo.

»Schaut mal.«

Sie betrachten die Rückseite der Karte und sehen den kleinen Weißen und sehr süßen Wurm, der darauf abgebildet ist. Aus seinem Kopf wachsen zwei kleine, niedliche Rüssel und er hat große, dunkle Augen.

»So ein süßes Ding würde ich auch gerne als Haustier haben«, schwärmt Lara.

»Du hast doch mich!«, räuspert sich Lanzelot beleidigt.

»Du bist natürlich auch voll süß«, lächelt Lara und kratzt den Hasen zwischen den Ohren. Lanzelot schließt dabei zufrieden die Augen.

»Steht denn noch mehr auf der Karte?«, drängelt Paolo.

»Moment mal«, sagt Lara und dann wischt sie instinktiv auf der Postkarte mit den Fingern nach unten und die Abbildung verschwindet. Es erscheint noch mehr handgeschriebener Text in silbriger Schrift auf dem Papier. Dabei lösen sich kleine Schneekristalle von der Oberfläche und fallen herab.

Paolo staunt nicht schlecht.

»Das ist ja fast so wie bei einem Handy«, sagt er.

»Ja, bis auf den kleinen Unterschied, dass es sich um echtes Papier handelt. Und aus deinem Handy fällt hoffentlich kein Schnee, wenn du darüber wischst, oder?«

»Wie funktioniert das?«

»Schneemagie«, grunzt Thomas.

»Lies weiter«, bittet Lanzelot.

... Liebe Luise, Hüter des Weltentores der Erde, vielen Dank auch dafür, dass du uns etwas von deiner Zeit und deiner Energie geschenkt hast. Jeder von uns weiß, wie rar und kostbar unsere Zeit ist. Wenn wir uns für einen anderen Menschen Zeit nehmen, ist das sicherlich das wertvollste Geschenk. Wir glauben, wir haben hier in Snø-City den Sinn eures Festes verstanden. Weihnachten findet im Herzen statt.

Du hast uns gezeigt, dass es nichts Wertvolleres gibt, als Zeit zu verschenken. Denn Zeit kann sich niemand selbst erkaufen. Es geht darum, Anderen während des Zusammenseins die volle Aufmerksamkeit, Liebe und ein Lächeln zu schenken. Heute haben wir beschlossen, dass wir einen Kreis im heiligen Korallenbaum gründen werden, in welchem sich die Völker von Snø wieder verbünden und zusammenhalten sollen. Noch machen nicht alle mit. Vor allem die Isbjørnen streben weiter nach der alleinigen Herrschaft. Doch wir geben die Hoffnung nicht auf. Jeder von uns sollte bereit sein, sich von seinem liebenden Herzen führen zu lassen und in allen Beziehungen die Liebe an die erste Stelle zu setzen. Du hast Weihnachten in unser Herz gebracht und uns erlaubt unser inneres Licht wieder zu entdecken. Eines Tages werden wir so den Eisfrost besiegen. Vielen Dank von uns allen, ehrfurchtsvoll grüße ich Dich.

Dein Freund und Hüter von Snø.

P.S. anbei ein kleines Geschenk von uns, damit du dich besser in unserer Zeit zurechtfindest.«

»Das ist sehr schön geschrieben«, sagt Paolo andächtig.

»Der Brief ist von dem Hüter von Snø«, überlegt Lara.

»Darf ich es aufmachen?«, fragt Lanzelot.

»Was aufmachen?«

»Das Geschenk«, sagt er und deutet auf ein kleines Päckchen. Die Eiskristalle auf dem Geschenkpapier leuchten in einem sanften Weiß.

»Das ist das schönste Geschenkpapier, das ich je gesehen habe«, schwärmt Lara.

Paolo strahlt mit der Lampe auf das Päckchen und das Leuchten der Eiskristalle wird schwächer.

»Es leuchtet nur, wenn es dunkel ist«, sagt Paolo.

»Macht ja auch irgendwie Sinn«, meint Lanzelot. »Wer braucht schon Licht, wenn es hell ist?«

»Stimmt auch wieder.«

»Fluoreszenz«, grunzt Thomas.

»Sollen wir es aufmachen?«

»Es ist verpackt wie ein Weihnachtsgeschenk. Man macht doch nicht die Geschenke anderer Leute auf und das noch vor Weihnachten«, gibt Lara zu bedenken.

»Aber es könnte uns vielleicht weiterhelfen. Dieser Hüter kommt aus Snø. Vielleicht gibt es da ja einen Zusammenhang. Oma Luise würde wollen, dass wir es auspacken, wenn es uns unterstützen könnte. Und außerdem wollte die Elfe damit abhauen, also muss es doch wichtig sein«, sagt Paolo.

Alle schauen sich an.

»Einverstanden«, sagen sie schließlich mehr oder weniger gleichzeitig und Paolo packt vorsichtig das Geschenk aus. Er achtet darauf, dass er das schöne Geschenkpapier nicht beschädigt und als er das Papier auseinanderfaltet, kommt eine kleine Taschenuhr zum Vorschein.

»Sie ist mit einem Deckel verschlossen und man kann das Uhrenglas nicht sehen«, stellt Paolo fest, der die Taschenuhr in die Hand nimmt und näher betrachtet.

»Wahrscheinlich hat sie irgendwo einen Knopf, um sie zu öffnen«, vermutet Lara.

Die Motive, welche den Deckel schmücken, erzählen Geschichten von Planeten und Sonnensystemen. Die goldenen Farben und Linien erinnern Paolo sehr an seinen magischen Adventskalender. Und dann sieht er noch etwas. Einen Turm und eine Stadt sind auf der Uhr abgebildet. Es sind der gleiche Turm und die gleiche Stadt, die er auch schon in der Schneekugel und auf der Weihnachtskarte gesehen hat.

»Das ist bestimmt Snø!«, spekuliert er. »Komisch«, sagt er, während er sie weiter untersucht.

»Was ist komisch?«

»Das hier. Was soll das sein?«

Spontan knipst Lara die Taschenlampe aus.

»Oh die Linien leuchten ja. Das sieht schön aus«, schwärmt Lara.

»Miau«, meldet sich Kater Jojo zu Wort.

»Schau dir erst mal die Rückseite an!«, haucht Paolo fasziniert und zeigt Lara den leuchtenden Mechanismus. Er sieht aus wie das Innenleben einer Uhr, ist jedoch tausend Mal komplizierter, als alles, was Paolo je zuvor gesehen hat. Jede Sekunde schieben sich hundert verschiedene Zahnrädchen, Zeiger, Stifte und technische Teilchen vorwärts.

»Ist das ein Uhrwerk?«, fragt Paolo nachdenklich.

»Wohl eher zwei Uhrwerke und das hier ist ein Countdownzähler.«

»Wie meinst du das?«

»Es werden zwei verschiedene Zeiten gemessen, die Zeiger laufen unterschiedlich schnell und der dritte läuft gegen den Uhrzeigersinn. Die Zeit läuft rückwärts, wie bei einem Countdown. Als würde er die Sekunden bis zum Eintreten eines bestimmten Ereignisses herunter zählen.«

»Wie zum Beispiel Neujahr. Zehn, neun, acht, sieben, ...«, sagt Lanzelot.

»Genau«, lächelt Lara. »Sieh mal, hier an der Seite ist der Knopf für den Deckel. Er ist mit dem Mechanismus genau an dieser Stelle verbunden. Der Countdown öffnet den Verschluss des Uhrendeckels nur zu bestimmten Zeitspannen«, erläutert Lara nun.

Lara ist wieder in so eine Art Trance verfallen. Paolo hat dieses Phänomen bei seiner Schwester schon öfter beobachtet. Sie weiß plötzlich über Dinge Bescheid, für die andere Menschen viel Zeit benötigen. Das ist eine der neuen seltsamen Fähigkeiten, die sie seit dem Abenteuer auf Ganesha und dem Studium von Oma Luises Tagebuch hat.

»Moment mal«, sagt Lara und beginnt mit ihren Fingern zu rechnen. »Ich habs«, meint sie plötzlich. Lara schaut ihren Bruder an und legt ihm eine Hand auf die Schulter.

»Paolo, diese Taschenuhr oder was auch immer das ist, lässt sich nur alle sieben Jahre öffnen.«

Plötzlich drückt Lanzelot einfach auf den besagten Knopf für den Uhrendeckel und der Deckel springt auf.

»Lanzelot, was machst du denn!«, ermahnt Lara den Hasen.

»Lass ihn, das hat er gut gemacht. Es scheint so, als würden wir uns gerade in dieser siebenjährigen Zeitspanne befinden«, stellt Paolo verwundert fest.

Sie betrachten die Zeiger und die Abbildungen und es ist so, wie Lara es gesagt hat. Es werden zwei verschiedene Zeiten gemessen. Sie sehen die aktuelle Uhrzeit und darüber eine kleine Abbildung der blauen Erde, daneben einen Zeiger, der viel langsamer läuft und ein Bild eines anderen weißen Planeten.

»Snø«, grunzt Thomas.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Dass die Zeit auf diesem Planeten langsamer vergeht als auf der Erde«, beginnt Lara und rechnet wieder mit ihren Fingern nach.

»Wenn auf diesem Planeten, nennen wir ihn einfach mal Snø, ein Tag vergeht, dann vergehen in der gleichen Zeit auf der Erde sieben Tage.«

»Und wenn auf der Erde sieben Jahre vergehen, dann vergeht auf Snø nur ein Jahr«, schlussfolgert Paolo.

»Das mit dem Countdown, macht jetzt gerade irgendwie Sinn. Die Verbindung der beiden Planeten gibt es also nur alle Sieben Jahre.«

»Und die sind jetzt gerade um«, flüstert Paolo.

»Wir sind da etwas auf der Spur«, steuert Lanzelot bei.

»Snø«, grunzt Thomas wieder.

»Lasst uns in Oma Luises Tagebuch nachsehen, ob wir dort mehr über Snø herausfinden. Ich glaube, wir haben soeben einen sehr wichtigen Hinweis gefunden!«

»Ich schnappe mir Jojo und du nimmst die Taschenuhr. Wir gehen zurück in mein Zimmer und dann schauen wir einfach nach.«

Ein paar Minuten später sitzt Lara neben ihrem Bruder auf dem Bett. Paolo studiert den Deckel der mysteriösen Taschenuhr und Lara blättert durch Oma Luises Tagebuch.

»Ha, ich wusste es. Hier steht es schwarz auf weiß«, freut sich Lara.

»Und was steht da?«

»Das Ding ist ein Chronos. Er zeigt tatsächlich die unterschiedlichen Zeiten der Planeten an. Es ist sozusagen eine Versicherung, dass man es auf jeden Fall immer rechtzeitig nach Hause schafft, bevor sich die Weltentore wieder schließen.«

»Letztes Jahr wären wir fast auf Ganesha stecken geblieben.«

»Auf Ganesha und der Erde verging die Zeit im gleichen Tempo. Das scheint auf Snø definitiv anders zu sein«, sagt Lara. »Paolo wir haben soeben einen ziemlich mächtigen Kraftgegenstand gefunden. Und das ganz ohne Aufspürbrille.«

Sie verstecken den Chronos in Paolos Holztruhe unter dem Fenster. Er will nicht, dass ihn seine Eltern finden und eventuell im Tresor wegschließen. Dann setzt Paolo seine Aufspürbrille auf. Sie ist zwar immer noch ziemlich kalt, aber das steht er jetzt durch.

»Was hast du vor?«, fragt Lara.

»Die Elfe hat nach dem Chronos gesucht. Ich will wissen warum«, antwortet er und konzentriert sich darauf, das Versteck der Elfe zu finden. Die Brille leuchtet zwar nur schwach, aber Paolo kann trotzdem die orangene Leuchtspur sehen. Er steht auf und folgt der Fährte, die hinaus in den Gang führt. Lara, Thomas und Lanzelot schleichen hinter ihm her. Die Aufspürbrille führt sie direkt zu Laras Zimmer.

»Sie ist da drin«, flüstert Paolo und setzt die Brille wieder ab. Er reibt sich das Gesicht und kleine Eiskristalle lösen sich von seinen Wimpern.

»Sollen wir einfach reingehen?«, fragt Lara leise, damit sie nicht ihre Eltern aufwecken.

»Bevor wir das tun, müsst ihr euch erst von allen Zweifeln befreien. Ihr müsst an das Unmögliche glauben und an Elfen und Zauberei, sonst werdet ihr sie nicht sehen können«, erklärt Paolo ernst.

»Ich bin ein Wesen, das nur durch Magie leben kann. Das fällt mir leicht«, sagt Lanzelot.

Lara atmet ein paar Mal tief ein und aus.

»Ich glaube, ich habs«, sagt sie.

Paolo öffnet langsam die Tür und ein kalter Wind weht ihm ins Gesicht. Außerdem spürt er noch etwas anderes Kaltes und Feuchtes auf seiner Haut. Schnee! Paolo macht die Taschenlampe an und alle staunen. In Laras Zimmer schneit es. Kleine Schneeflocken fallen wie aus dem Nichts von der Decke herab.

»Wie kann es sein, dass es in meinem Zimmer schneit?«, wundert sich Lara.

»Paolo, ich fürchte, Lara und ich müssen noch eine Weile bei dir schlafen«, meldet sich Lanzelot zu Wort, während er fasziniert zur Decke schaut.

»Verrückt, jetzt schneit es schon im Haus«, flüstert Paolo.

»Ich sehe gar keine Fußspuren auf dem Boden.«

»Die Elfe kann fliegen«, erklärt Paolo.

»Da ist die Schneekugel«, sagt Lara. Der Gegenstand liegt auf ihrem Schreibtisch. Auch auf der Kugel hat sich bereits jede Menge Schnee abgesetzt.

Langsam schließt Paolo Laras Kinderzimmertür. Sie stehen auf dem Gang und denken nach.

»Glaubst du wirklich, sie versteckt sich in meinem Zimmer?«, wispert Lara.

»Ich bin mir ganz sicher. Die Aufspürbrille irrt sich nie. Außerdem ist es der kälteste Raum im ganzen Haus und es schneit in deinem Zimmer. Das ist doch seltsam. Lara, ich glaube, die Elfe mag es, wenn es kalt ist. Ich verwette meine Aufspürbrille darauf, dass sie da drin ist.«

»Dann schnappen wir sie uns«, sagt Lanzelot und marschiert los.

»Halt! Hiergeblieben! Wir wollen sie nicht schnappen, sondern herausfinden, was sie hier will. Oder woher sie kommt. Es könnte doch sein, dass sie etwas über Snø weiß, das uns weiterhelfen könnte!«

»Also was machen wir dann?«, fragt Lara.

»Wir finden zuerst einmal mehr über Elfen heraus«, schlägt Paolo vor.

»Wie das denn?«

»Omas Tagebuch. Sie war ein regelrechter Fan von diesen Wesen.«

»Gute Idee. Legen wir uns ein paar Stunden aufs Ohr, bis alle erst einmal wieder vollständig sichtbar geworden sind und gehen morgen auf Elfenjagd«, sagt Lara und gähnt herzhaft.

»Schlafen«, grunzt Thomas und grinst mit seiner breitesten Kissenfalte.

»Ich glaub in Thomas´ Gehirn, sind ein paar Federn eingefroren«, scherzt Lanzelot.


Der magische Adventskalender & Das Licht der Weihnacht

Подняться наверх