Читать книгу Ryloven - Manuel Tschmelak - Страница 7

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Ein unangenehmes Treffen

Schnell, aber doch unauffällig, ging Dalion durch die schmalen Gassen von Edion. Er blickte nach rechts und erkannte den schattenhaften Umriss der Burg des örtlichen Grafen im Mondschein. Im Zentrum der Stadt waren die Straßen breiter und die Häuser größer und prachtvoller. Hier allerdings, an der Grenze im Westen, lebten nur Abschaum und Gesindel. In dieser Gegend hatte man kaum Probleme mit den Stadtwachen und selbst wenn einmal ein Hüter des Gesetzes zu neugierig wurde, musste man nur wissen, in welche Tasche das Geld zu fließen hatte. Denn die meisten Soldaten in diesem Viertel waren genau solche Gauner wie der Rest der Leute, die hier lebten.

Ohne sein Tempo zu verlangsamen, wich Dalion einer Gruppe von Betrunkenen aus, die gerade von einem Schankhaus ins nächste stolperten. Ihr Gestank machte Dalion krank. Mit seinen geschärften Sinnen roch er den Alkohol und ihren Schweiß noch viel stärker, als das normale Menschen tun würden. Doch mit den Jahren hatte er sich an seine Gabe schon so sehr gewöhnt, dass es ihm nicht mehr allzu viel ausmachte. Solange er nicht für längere Zeit in einem kleinen Raum mit ihnen sein musste, war ihr Geruch auszuhalten.

Dalion ließ seine Gedanken zu den hell erleuchteten Ballsälen mit all den Leuten darin schweifen. Vor allem aber versuchte er an die Gerüche der verschiedenen Parfums, die sich miteinander vermischten, und an den Duft des Essens zu denken. Schnell verdrängte er diesen Teil seiner Erinnerungen wieder und schüttelte beiläufig den Kopf. „Das ist schon lange her“, dachte Dalion, „und nun leben wir in anderen Zeiten, in gefährlicheren.“

Er bog in eine enge Gasse, in die kaum Licht kam. Allerdings reichte ihm aufgrund seiner geschärften Augen, schon das kleinste bisschen Licht, um im Dunkeln etwas sehen zu können. Kurz vor dem Ende der Gasse versperrte ihm ein Mann plötzlich den Weg. Er trug schmutzige Kleidung und roch eindeutig nach billigem Schnaps. Der Fremde hielt ein Messer in seinen von Schweiß bedeckten Händen und richtete es mit der Spitze voraus auf Dalions Brust. „Ach herrje, für so etwas habe ich nun wirklich keine Zeit.“

Er besaß selber genug Messer an seinem Körper, doch die würde er sicher nicht brauchen. Dalion blieb ganz ruhig vor dem Mann stehen und wartete ab, was dieser tun würde. „Gib mir da’ Geld“, befahl ihm der Mann und versuchte offensichtlich gefährlich zu klingen, was ihm durch sein betrunkenes Lallen nicht wirklich glückte.

„Gib mir da’ Geld“, wiederholte er noch einmal. „Sonst schneid i dir die Eingeweide raus.“ Durch sein betrunkenes Gerede hörte Dalion eindeutig den für diese Gegend des Königreiches typischen Akzent heraus.

Dalion nahm eine Goldmünze aus seine Manteltasche, von der sich der Dieb eine ganze Kiste voller Schnapsflaschen hätte kaufen können und schnipste sie in die Luft. Verwundert sah der Mann der wertvollen Münze nach, wie sie in den Nachthimmel stieg und wandte seine Aufmerksamkeit so von Dalion ab. Dies war ein Fehler. Dalion fachte das Feuer in seinem Inneren an und fokussierte die Kraft, die in ihm aufstieg, in seine Beine. Kurz blitzten seine Augen gelb auf. Doch das konnte der Mann, der sein Messer etwas sinken gelassen hatte, nicht sehen, weil er immer noch auf die Münze starrte. Dalion brauchte nur einen Moment. Er machte einen Satz nach vorne und rammte dem vollkommen überrumpelten Dieb sein rechtes Knie in den Magen. Der Mann stieß ein Keuchen aus, als die Luft seinen Körper verließ, und brach auf dem dreckigen Boden zusammen. Lässig richtete sich Dalion wieder auf und öffnete seine rechte Hand. Er fing die herabfallende Münze wieder auf und steckte sie zurück in die Tasche seines Mantels. Er hörte auf sich auf seine Kraft zu konzentrieren, gab sie aber nicht völlig auf, um seine geschärften Sinne zu behalten. Danach setzte er seinen Weg fort, als wäre nichts gewesen und beachtete den Mann nicht weiter, der sich vor Schmerz auf dem Boden zu einem kleinen Häufchen zusammengerollt hatte. Dalion dachte darüber nach, wie es gewesen war, als er diese Kraft zum ersten Mal gespürt hatte.

Es war Ende Herbst gewesen und es wurde immer kälter. Dalion war von seinem Vater in den Wald geschickt worden, um Feuerholz zu sammeln. Es war kurz nach seinem 14. Geburtstag. Dalion trieb sich öfters im Wald neben seiner Heimatstadt herum und es dauerte nicht lange, bis er genug Holz zusammen hatte. Als er gerade auf dem Rückweg zur Stadt war, hörte er im Dickicht neben dem Pfad ein Geräusch und blieb stehen. Die Arme voll Feuerholz stand er wie angewurzelt im Wald und lauschte. Just in dem Moment als er sich überzeugt hatte, dass er sich geirrt haben musste, glaubte er wieder ein Rascheln zu hören, aber er war sich einfach nicht sicher. Doch dann, plötzlich, rannte ein riesiges Wildschwein auf ihn zu. Der junge Dalion ließ das Holz fallen und lief so schnell er konnte davon. Die Wildschweine in der Gegend um seine Heimatstadt wurden von der Bevölkerung „Haroc“ genannt, was im regionalen Dialekt so viel wie Windschwein oder Schwein des Windes bedeutete. Zu Dalions Leidwesen trugen sie diese Bezeichnung, weil sie in der Lage waren, sehr schnell zu laufen. Schneller als jeder durchschnittliche Erwachsene es könnte. Natürlich wusste Dalion dies, allerdings hatte er kaum eine andere Wahl, weil er seine Kampfausbildung erst begonnen hatte und er ohnehin keine Waffe bei sich trug. Während er lief, spürte er wieder dieses merkwürdige, aber irgendwie vertraute Kribbeln in seinem Körper, aber dieses Mal war es stärker und umso näher der Haroc ihm kam, umso stärker wurde es. Dalion hörte nach diesem Erlebnis mehrere Beschreibungen für dieses Gefühl, weil es in vielen alten Liedern und Legenden beschrieben wurde. Die meisten Menschen beschrieben es wie ein Feuer in einem selbst, das einem Kraft gab. Doch für jemanden, der diese Kraft nicht selber erfahren hatte, war diese Vorstellung schwer nachzuvollziehen. An jenem Tage entfachte Dalion dieses Feuer in ihm und kurz bevor ihn der Haroc einholte, war er immer schneller geworden und konnte dieser Bestie entkommen. Er lief eine Weile, so schnell er konnte, durch den Wald und blieb erst bei einem kleinen See stehen, als er sicher war, dass der Haroc seine Jagd aufgegeben hatte.

Dalion kniete sich am Rand des Sees hin und trank einen Schluck Wasser. Er atmete schwer und es war ihm unglaublich heiß. Er starrte in den See, bis sich die Wasseroberfläche vollkommen beruhigte und stellte mit Schrecken fest, dass sich seine Augenfarbe verändert hatte. Sein normales Kastanienbraun war verschwunden und nun hatte er strahlend gelbe Augen. Doch umso länger er am Ufer saß und sein Spiegelbild betrachtete, umso matter wurde das gelbe Leuchten seiner Augen und umso schwächer wurde auch dieses Gefühl von Kraft und Stärke. Es dauerte nicht lange bis er seine gewöhnliche Augenfarbe wieder hatte und sich nicht mehr besonders fühlte. Etwas enttäuscht macht er sich auf den Rückweg und sammelte erneut Holz, um jenes zu ersetzen, das er bei seiner Flucht fallengelassen hatte. „Ich werde bestimmt Ärger bekommen, wenn ich zu Hause ankomme, weil ich so lange weg war. Denn niemand wird mir glauben, dass ich von einem Haroc angegriffen worden war und entkam“, dachte Dalion damals missmutig.

Ein paar Wochen nach seinem Abenteuer mit dem Windschwein konnte er seine Erlebnisse selber kaum mehr glauben. Er hatte natürlich oft anderen Leuten davon erzählt oder, um es genauer zu sagen, jedem, der es hören wollte. Aber die meisten glaubten ihm nicht und diejenigen, die gewillt waren ihm zu glauben, hatten genau so wenig eine Erklärung für seinen Anstieg an Schnelligkeit wie er. Aus Mangel an anderen Erklärungen hatte er daran geglaubt, dass es sein Wille zu überleben gewesen war, der ihm geholfen hatte, und dass ihm das Wasser einen Streich gespielt hatte. Doch als ein wandernder Geschichtenerzähler in seine Stadt kam, änderte sich alles für ihn. Der Mann erzählte viele Geschichten, doch eine gefiel dem jungen Dalion am besten. In der Geschichte ging es um ein Volk und die Leute aus diesem Volk hatten die Fähigkeit, nur durch ihren Willen ihre Körperkraft zu steigern oder unglaublich schnell zu rennen. Weiters fügte der Geschichtenerzähler hinzu, dass die Leute dieses Volkes besonders bunte und schöne Augen gehabt hätten. Nach dieser Geschichte war Dalion wie besessen davon, dass er diese Fähigkeiten auch besaß. Er versuchte immer wieder diese Kraft in sich zu wecken, aber es gelang ihm nicht bis zu jenem Tag, als … als …

Dalion erwachte aus seinen tiefen Gedanken und erkannte, dass ihn seine Beine zu seinem Ziel getragen hatten. Er stand am Ende einer kleinen dunklen Gasse. Rechts neben ihm befand sich eine alte dreckige Holztür. Er öffnete die Tür und sie schwang knarrend auf. Dalion betrat den schmalen Flur auf der anderen Seite der Tür und hörte dank seiner verstärkten Sinne die Menschen, die sich im Schankraum vergnügten. Sein Ziel war allerdings nicht der Schankraum. „Wie gerne würde ich jetzt etwas trinken und ganz woanders sein“, dachte Dalion kopfschüttelnd und stieg die Holztreppe am Ende des Raumes hinauf. Auf halbem Weg blieb er stehen und lauschte. Er hörte, wie eine Tür ins Schloss fiel und dann Schritte, die sich schnell auf die Treppe zu bewegten. Die alten Holzstufen knarrten bei jedem Schritt der Person, die ihm von oben entgegen kam, ja schon fast entgegen rannte. Eine verstört wirkende junge Frau kam ihm von oben entgegen. Sie trug ein leeres Tablett und eine Schürze. Dalion vermutete, dass sie die Tochter des Wirtes sein könnte und wollte sie höflich grüßen, aber sie würdigte ihn keines Blickes. Als sie an ihm vorbei stürmte, konnte Dalion ihr Gesicht genauer erkennen. Es war an ihrem Gesicht abzulesen, dass sie einfach nur noch weg wollte. Ihre Kiefer waren fest aufeinandergepresst, sodass ihr Mund nur noch ein Strich war und ihre Augen sahen feucht und leicht gerötet aus. Dalion hatte diesen Ausdruck schon bei so vielen Leuten gesehen und jedes Mal versetzte es ihm einen kleinen Stich in der Brust.

Verwundert, jedoch mit einem Verdacht, erklomm er auch noch den Rest der Treppe und blieb an ihrem Ende stehen. Dalion war zwar beschrieben worden, wo sich dieses Wirtshaus befand, allerdings wurde ihm in seiner Einladung nicht gesagt, in welches Zimmer er gehen musste. Kurz erwog er den Gedanken, noch einmal nach unten zu gehen und den Wirt nach dem richtigen Zimmer zu fragen. Doch dann verwarf er diese Möglichkeit und konzentrierte sich stärker auf sein verbessertes Gehör. Es war schwierig die richtigen Stimmen aus all dem Lärm herauszusuchen, aber Dalion machte das nicht zum ersten Mal. Zuerst unterdrückte er alle Geräusche, die vom unteren Teil des Gasthofes zu ihm heraufdrangen, und es wurde gleich ruhiger in seinem Kopf. Danach konzentrierte er sich auf die Stimmen im ersten Stock. In zwei Räumen hörte er Menschen schnarchen und in einem anderen vernahm er drei Männer, die miteinander scherzten. Diese Geräusche blendete er ebenfalls aus und suchte weiter. Nach wenigen Minuten hörte er plötzlich ein unverkennbares Lachen und wendete sich nach links. Dalion war durchaus etwas stolz auf sich, denn es brauchte einige Konzentration und Willensstärke, bestimmte Geräusche und Stimmen auszublenden. Er kannte sonst niemanden, von dem er sicher wusste, dass er über dieselbe Fähigkeit verfügte. Allerdings vermutete er sie bei mehreren. Dalion hörte damit auf, sich auf sein Gehör zu konzentrieren, behielt aber erneut seine geschärften Sinne. „Niemals werde ich diesen Leuten unvorsichtig und schutzlos gegenübertreten.“

Er ging den Gang entlang und setzte seine Füße vorsichtig auf den Boden, wie er es immer tat. Dalion hatte schon früh gelernt, dass es ein Vorteil war, wenn man sich leise und fast unbemerkt bewegen konnte. Außerdem war es seiner Meinung nach so leichter unschuldige Opfer, die einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort waren, zu vermeiden. Dalion hasste das Töten eigentlich. Nach all den Jahren empfand er es immer noch als Verschwendung. Natürlich hatten ihn diese Gedanken niemals zögern lassen, wenn es darauf ankam. Trotzdem war es jedes Mal eine kleine Genugtuung für ihn, wenn er unnötiges Töten vermeiden konnte. Vor der letzten Tür des Ganges blieb er stehen. Dalion versuchte einen ausgeglichenen Gesichtsausdruck anzunehmen, aber es gelang ihm nicht so richtig. Mit einem Schulterzucken öffnete er die Tür. Das Licht im Zimmer blendete seine geschärften Augen und er musste sich erst ein paar Sekunden daran gewöhnen. Der Raum war nicht besonders groß, doch da er sich an der Ecke des Hauses befand, hatte er zwei Fenster, aus denen man die Straße sehen konnte. In der Mitte des Zimmers saßen drei Männer um einen runden Tisch. Sie alle waren in die gleiche Art schwarzen Mantel gehüllt, von denen auch er selbst einen trug. Als Dalion die Tür öffnete und eintrat, verstummten sie und blickten zur Tür. Keiner der drei machte Anstalten ihn zu begrüßen, daher setzte er sich einfach auf einen der zwei leeren Stühle, die der Tür am nächsten waren.

Nachdem er Platz genommen hatte, streifte er die Kapuze seines Mantels vom Kopf und schaute die drei nacheinander an. Der rechte Mann war größer als er selbst und die anderen zwei. Er hatte breite, muskulöse Schultern, ein geschwungenes Tattoo unter dem linken Auge und kurze schwarze Haare. Dalion kannte ihn. Sein Name war Odrak. Er war ein Mann, der es liebte, wenn eine Sache schmutzig wurde, und im Gegensatz zu Dalion war es Odrak egal, wie viele Leute er erledigen musste. Er war nicht gerade der Gerissenste, aber er war vor allem für seine beeindruckende Stärke bekannt, die sich mit seiner Wut sogar noch steigerte. Der mittlere Mann war etwas kleiner als Odrak und von der Statur her bei weitem nicht so muskulös. Dalion konnte das Gesicht dieses Mannes nicht sehen, weil ein Großteil davon vom Schatten seiner Kapuze verdeckt wurde, die er immer noch auf dem Kopf hatte. Allerdings war Dalion sich ziemlich sicher, dass er diesen Mann noch nicht kennengelernt hatte. Der letzte der drei Männer war schon etwas älter, aber als Dalion ihm in seine dunklen, schwarzen, starren Augen sah, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Diesen Mann kannte Dalion natürlich, obwohl er nicht viel über ihn wusste, wie er sich eingestehen musste. Vor längerer Zeit hatte Dalion versucht mehr über diesen Mann in Erfahrung zu bringen, jedoch gestaltete es sich als äußerst schwierig und irgendwann hatte er es dann einfach aufgegeben. Der Mann nannte sich selber Aroc und Dalion hatte herausgefunden, dass dieses Wort in der alten Sprache so viel wie Krähe bedeutet. Er hatte während seiner Suche nach Informationen mehrere Geschichten über Aroc gehört, allerdings waren einige davon schon weit vor Dalions Geburt passiert und das konnte einfach nicht sein, denn so alt schaute Aroc gar nicht aus. Daher vermutete Dalion, dass Aroc diese Gerüchte selbst in die Welt gesetzt hatte oder er den Namen von jemandem übernommen hatte, der bereits verstorben war. Dalion glaubte nicht, dass dies sein richtiger Name war, doch er musste zugeben, dass ihm dieser Mann manchmal viel älter vorkam, als er aussah. Aber sicher nicht so alt, wie die Gerüchte es andeuteten. Eines wusste Dalion allerdings mit Bestimmtheit. Aroc war ihr Anführer und ein ausgesprochen gefährlicher Mann.

Nachdem noch immer niemand der drei etwas gesagt hatte, fing einfach Dalion an. „Ich habe ein verängstigtes Mädchen die Treppe hinunterlaufen gesehen und ich nehme an, dass sie aus diesem Zimmer kam. Oder irre ich mich?“, fügte er mit einem Achselzucken hinzu. In Odraks Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Wusste ich es doch“, dachte Dalion.

„Ich habe nur einen kleinen Spaß gemacht“, gab Odrak betont gleichgültig zurück, ohne dass das Lächeln in seinem Gesicht verschwunden wäre. „Was kann denn ich dafür, wenn das Mädchen so schreckhaft ist?“ Nun konnte Dalion auch ein Lächeln unter der Kapuze des Fremden sehen.

Doch bevor Dalion noch etwas sagen konnte ergriff Aroc das Wort: „Wie auch immer. Nun da wir endlich vollzählig sind, können wir ja anfangen.“ Dalion sah ihn verwundert an, blickte auf den leeren Stuhl rechts von ihm und dann wieder zu Aroc. Aroc entging Dalions Blick natürlich nicht und fuhr fort: „Irilia wird nicht kommen, weil sie in der Hauptstadt einen Auftrag zu erledigen hat.“

„Ach ja. Hattest du nicht auch einen Auftrag dort Odrak? Wie ist es denn so gelaufen?“, Dalion kannte die Antwort auf seine Frage schon. Er hatte auf seiner Reise nach Edion allerlei Geschichten von einem Nah’ranenangriff in der Hauptstadt gehört, aber er wollte es von Odrak persönlich hören. Er hatte versagt. Es war Dalions kleine Revanche dafür, was auch immer Odrak der Tochter des Wirtes angetan hatte. Außerdem war es kein großes Geheimnis, dass Odrak und er sich nicht besonders mochten. Was in Dalions Augen noch eine große Untertreibung war, denn er hasste diesen Kerl.

Nach Dalions Fragen verschwand Odraks Lächeln sofort. Doch da er keine Anstalten machte zu antworten, fragte Dalion einfach weiter. „Hast du den Jungen denn nun fangen können?“, fragte er und nahm dabei einen Ton an, als wäre es eine allzu leichte Aufgabe gewesen.

Nun wurde Odrak langsam wütend. „Nein, ich habe den Jungen nicht, verdammt! Er wurde von einem Reichsschützen aufgenommen und ich wollte zuerst den erledigen, bevor ich mich um den Jungen kümmere. Allerdings …“, Odrak verstummte.

„Was? Willst du mir sagen, der große Odrak wurde nicht mit einem kleinen Reichsschützen fertig?“, stichelte Dalion weiter.

Odrak schlug mit seinen riesigen Fäusten auf den Tisch und stand auf. Der Fremde zuckte überrascht zusammen, aber Dalion blieb ganz ruhig auf seinem Platz sitzen und gab sich unbeeindruckt, griff dennoch sicherheitshalber zu einem der Dolche unter seinem Mantel, sodass niemand die Klinge sehen konnte. „Nein, das will ich nicht sagen! Du hättest ihn auch nicht so einfach erledigt, klar! Es war nämlich nicht irgendein unerfahrener Frischling der Reichsschützen!“, fügte Odrak zornig hinzu. „Wer hätte denn ahnen können, dass der Junge in Begleitung von Nicolas Tirion reist?“

Aroc hob verwundert eine Augenbraue, als wäre ihm diese Information neu. „Tja, Nicolas verkompliziert die Sache natürlich“, stellte Dalion in sachlichem Ton fest und wendete sich dann wieder an den vor Wut schnaufenden Odrak. „Aber was ist nun mit dem Jungen? Bist du etwa nicht an ihn herangekommen?“

Odrak starrte Dalion voller Hass an und Dalion konnte sehen, wie sich Odraks Augenfarbe für kurze Zeit in ein tiefes Rot veränderte. Odrak machte schon den Mund auf, allerdings schnitt Aroc ihm das Wort ab: „Das genügt! Odrak beruhige dich und nimm wieder Platz.“ Unter Arocs strengem Blick setzte sich Odrak wieder hin, aber er versäumte es nicht, Dalion noch einen wütenden Blick zuzuwerfen. Dalion merkte, dass er etwas zu weit gegangen war und dass, ganz egal was Aroc sagte, es für Odrak noch nicht vorbei war.

Nach wenigen Minuten, in denen niemand etwas sagte, ergriff Aroc erneut das Wort: „Dalion, ich glaube du kennst unseren Mitstreiter noch nicht.“ Er deutete zu dem Mann zu seiner Linken.

„Ich glaube nicht, dass ich das Vergnügen schon einmal gehabt habe“, erwiderte Dalion und hörte dann auf zu reden, denn er merkte, dass er Aroc unterbrochen hatte, was keine besonders gute Idee war.

Ihr Anführer funkelte ihn etwas gereizt an. Dann räusperte er sich und fuhr fort: „Das ist Sleycer. Wir haben ihn als Berater des Königs von Almon eingeschleust, um den König …“, er machte eine Pause, als suche er nach dem richtigen Wort, „ … sagen wir, für unsere Sache zu gewinnen. Aber vielleicht solltest du selber berichten, Sleycer.“

Der Mann nahm seine Kapuze ab und begann zu sprechen. Jetzt ohne Kapuze konnte Dalion ihn genauer sehen. Der Mann hatte ein schmales Gesicht und eine lange, kantige Nase. Doch das Merkmal, das am meisten hervorstach, waren seine dunkelroten Haare. Diese Haarfarbe war nämlich in Ryloven äußerst selten. Dalion bemerkte schließlich, dass er Sleycer überhaupt nicht zugehört hatte und konzentrierte sich darauf, was der Mann zu sagen hatte.

„ … schwer den König zu beeinflussen. Er ist alt und hält an Traditionen und alten Bündnissen fest. Aber der Kronprinz ist ein wilder Mann und er hat den Drang, sich zu beweisen. Ich glaube, dass er unserer Sache besser dienen würde als sein Vater.“ Sleycer machte noch mehrere Ausführungen über die Lage des Königshofes und die Truppenstärke von Almon, was Dalion nicht wirklich interessierte.

Als Sleycer seinen Bericht vollendet hatte, wurde Dalion von Aroc aufgefordert zu erzählen, was er herausgefunden hatte. Dalion berichtete von den Grenztruppen und deren Abwehrkräften, die im Falle eines Angriffes von Almon kampfbereit sein würden, und von möglichen Verbündeten sowie Unstimmigkeiten am Königshof von Ryloven, die sie ausnutzen könnten.

Nach Dalion war Odrak an der Reihe und gab seinen Bericht ab. Während er erzählte, warf er Dalion immer wieder giftige Blicke zu, in Erwartung er würde etwas einwenden und so Odrak die Gelegenheit geben, ihren Streit endgültig zu beenden. Doch Dalion auf der anderen Seite des Tisches tat so, als würde er Odraks Blicke überhaupt nicht sehen und hörte ihm weiterhin ganz geduldig zu.

Die Gespräche zogen sich bis tief in die Nacht. Sie saßen mehrere Stunden an diesem Tisch und wurden nur zeitweise vom Wirt gestört, der neue Getränke und etwas zu essen brachte. Die verstörte junge Frau, die Dalion gesehen hatte, war anscheinend wirklich die Tochter des Wirtes gewesen und hatte ihm erzählt, was passiert war, denn der Mann warf Odrak stets böse Blicke zu. Außerdem vermutete Dalion, dass der Wirt die Preise für sie etwas erhöht hatte. Es war nicht so schlimm, dass man es sofort bemerkt hätte, aber es wurde Dalion klar, dass er sie für die Frechheiten seiner Tochter gegenüber bezahlen ließ. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Dalion hätte sich gerne bei ihm und seiner Tochter entschuldigt, aber der Wirt verschwand immer, so schnell er konnte, und seine Tochter bekamen sie in dieser Nacht überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Das war vermutlich besser für sie.

Nachdem alle mit ihren Berichten geendet hatten, erklärte Aroc den weiteren Verlauf ihres Planes: „Na gut. Wir werden unseren Plan nach den neuersten Entwicklungen etwas ändern. Dass Nicolas den Jungen beschützt und Odrak gescheitert ist, ist zwar bedauerlich, allerdings wird die Sichtung eines einzigen Nah’ranen den König kaum dazu bewegen seine Truppen zu sammeln.

Allerdings, betonte er und hob mahnend einen Finger, sollten wir ab jetzt noch vorsichtiger agieren. Odrak, du wirst in unser Lager zurückkehren und unauffällig neue Söldner rekrutieren. Dalion wird versuchen den Jungen zu finden und ich selbst werde mit Sleycer nach Almon reisen, um mir den Thronfolger einmal mit eigenen Augen anzusehen. Wenn ihr nichts anderes hört, treffen wir uns zum vereinbarten Zeitpunkt wieder im Lager. Meine Herren, wir werden unsere Rache am König von Ryloven bekommen.“

Alle vier Männer erhoben sich gemeinsam von ihren Stühlen. Odrak verließ den Raum als erstes und warf Dalion noch einen bösen Blick zu. Sleycer ging ebenfalls, um die Pferde für sich und Aroc vorzubereiten. Aber Aroc selbst machte keine Anstalten den Raum zu verlassen, sondern ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen zu einem der Fenster und blickte in die Finsternis der Stadt dahinter. Wenige Augenblicke später stellte sich Dalion neben ihn und blickte ebenfalls nach draußen auf die dunkle Straße. Sie standen einige Minuten einfach schweigend nebeneinander, bis Aroc zu sprechen begann:

„Dalion, der König wird nicht auf der Hut sein, Nicolas jedoch schon. Möglicherweise weiß er nicht, warum ein Nah’rane ihn angegriffen hat und vielleicht ist er sogar nur zufällig mit dem Jungen unterwegs. Ich glaube nicht, dass er weiß, wer ihm da in die Hände gefallen ist. Wahrscheinlich weiß es der Junge nicht einmal selber, aber Nicolas wird jetzt bestimmt aufmerksam sein, Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und Nachforschungen anstellen.“

„Wo soll ich mit der Suche nach ihnen beginnen?“

„Irilias Informationen zufolge hat Nicolas eine Nachricht von einem Nah’ranenangriff hinterlassen, was eine Verdoppelung der diensthabenden Stadtwachen nach sich zog. Allerdings ist er selber nicht dort geblieben, sondern ist in Begleitung des Jungen nach Norden gereist. Die Reichsschützen haben einen großen Einfluss beim König und werden versuchen ihn von einer drohenden Gefahr zu überzeugen. Aber auch wir haben einigen Einfluss im Reichsrat. Mehr Wachen bedeutet mehr Kontrollen an den Grenzen, was wiederum mehr Unannehmlichkeiten für die Handelsgilden bedeutet. Die Macht des Königs ist in Zeiten des Friedens nicht mehr so allumfassend wie früher. Er wird nicht riskieren die Handelsgilden aufgrund von Gerüchten über einen längst vergessenen Orden zu lange zu verärgern. Denn er kann es sich nicht leisten, ihr Gold zu verlieren. Im Krieg haben der König und seine Armee die Macht, doch im Frieden regiert das Geld das Reich. Gehe zunächst nach Reduna und triff Irilia. Sie weiß bestimmt mehr über den Aufenthaltsort des Jungen.“

„Gut, ich werde gleich morgen früh aufbrechen“, sagte Dalion und wollte das Zimmer verlassen.

Er hatte schon die Türklinke in der Hand, als Aroc noch etwas zu ihm sagte, ohne sich dabei zu ihm umzudrehen: „Warte noch. Wenn du den Jungen findest, unternimm nichts auf eigene Faust, sondern erstatte mir zuerst Bericht.“

„Wohin soll ich die Nachricht denn schicken, wenn Ihr in Almon seid?“, fragte Dalion.

„Schicke sie einfach in unser Hauptquartier. Wenn ich wieder zurück bin, werde ich dort sein und wenn nicht, dann werde ich Odrak beauftragen dir genügend Truppen zu schicken, die dir helfen werden.“

„Verstanden“, antwortete Dalion knapp und ließ Aroc alleine im Zimmer zurück. Er schritt durch den Flur zurück zur Treppe und dann schnell hinunter. Dalion blieb nicht, um noch etwas im Schankraum zu trinken. Am Fuße der Treppe setzte er seine Kapuze wieder auf und verschwand wie ein Schatten hinaus aus der Hintertür und hinein in die Finsternis der Nacht. Dalion ging, so schnell er konnte, ohne dabei Aufmerksamkeit zu erregen, durch die Straßen. Erst jetzt, als er sich von dem Gasthof entfernte, merkte er, wie angespannt er die ganze Nacht gewesen war. Dalion wollte einfach nur noch weg, weg von dem Gasthof und weg von den Leuten dort. Als er gerade um eine Ecke bog, dachte er etwas aus seinem Augenwinkel zu sehen und drehte sich um, aber in der leeren Gasse hinter ihm war niemand. Dalion ging einfach weiter und vermutete, dass ihm seine Sinne einen Streich gespielt hatten. Allerdings hatte er zwei Gassen weiter erneut so ein merkwürdiges Gefühl. Sein Herz schlug nun schneller, denn er befürchtete, dass Odrak vielleicht jemanden auf ihn angesetzt hatte. Doch als er sich erneut umdrehte, konnte er wieder niemanden entdecken, der ihn verfolgte.

Nachdem er sich, seiner Meinung nach, weit genug vom Gasthof entfernt hatte und er sich nicht mehr beobachtet fühlte, lehnte er sich erschöpft und schwer atmend gegen eine Hausmauer in einem kleinen Hinterhof und gab seine verbesserten Sinne auf. Es wurde immer dunkler vor seinen Augen und umso dunkler es wurde, umso müder wurde auch Dalion. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, sein inneres Feuer so lange zu benutzen. Dalion wusste nicht, wie lange er an die Hausmauer gelehnt am Boden saß. Er saß einfach nur im Gras des kleinen Hofes und versuchte sich über einige Dinge klar zu werden. In letzter Zeit tat er das öfters und er merkte, dass es ihm half. Er dachte an sich, an die Nah’rane, an das, was aus ihm geworden war, was er als Kind einmal machen wollte und an seine Eltern. Dalion konnte es nicht vergessen, er wollte es nicht vergessen. Ihn interessierte keine Revolution, nicht wirklich. Er war nur ein Mitglied der Nah’rane geworden, um es zu erfahren, um die Wahrheit zu erfahren. Doch bis dorthin würde er alles tun, was nötig war, und wenn er dazu diesen Jungen finden musste, würde er auch das tun. „Ich bin viel zu nahe an meinem Ziel, um jetzt aufzugeben. Ich habe schon schlimmere Dinge getan, die ich mir nie verzeihen werde, als diesen Jungen aufzuspüren.“

Wild entschlossen setzte sich Dalion wieder auf und machte sich auf den Weg ins Zentrum der Stadt, wo der Gasthof lag, in dem er sich ein Zimmer gemietet hatte. Dalion wechselte nun auf die Hauptstraße, um schneller voranzukommen. Die Grenze zwischen dem Viertel, in dem er sich befand, und dem Zentrum der Stadt, in dem die reichere Bevölkerungsschicht lebte, bildete ein Fluss. Als Dalion die große Steinbrücke gerade überqueren wollte, blieb er kurz stehen und blickte über den Rand der Brücke ins dunkle Wasser. Für einen Moment konnte er bei dem Anblick des fließenden Wassers im Mondlicht alle seine Sorgen vergessen. In den breiten Straßen im zentralen Bezirk war so spät so gut wie niemand mehr auf den Beinen. Dalion betrat den leeren Schankraum, nickte dem Wirt, der hinter dem Tresen stand und Gläser polierte, höflich zu, lehnte ein Glas Wein ab und ging dann auf sein Zimmer. Dort angelangt, legte er sich gleich in sein Bett, weil er wusste, dass er am nächsten Tag einen langen und anstrengenden Ritt vor sich haben würde.

Im Norden des Reiches lebten nur wenige Leute, also würden Neuankömmlinge sofort auffallen, aber Dalion bezweifelte nach allem, was er über Nicolas gehört hatte, dass sie sich einfach in einem Dorf niedergelassen hatten. „Vermutlich sind sie in den Wald geritten, um sich dort im Schutz der Bäume zu verstecken. Die Wälder sind riesig und nach mehreren Tagen würde es ausgesprochen schwierig werden noch Spuren zu entdecken. Es gibt im Wald zwar genug Tiere, die man jagen und essen könnte, doch für andere Dinge, wie Brot oder Gemüse müssten sie in ein Dorf gehen. Vielleicht habe ich ja Glück und jemand kann sich an sie erinnern.“ Dalion schloss seine müden Augen und fasste den Entschluss, sich morgen darüber Sorgen zu machen, wie er sie finden sollte. Er würde nicht aufgeben, bis er den Jungen gefunden hatte.

Ryloven

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