Читать книгу Ryloven - Manuel Tschmelak - Страница 8

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Training, Training, Training

Als Keron aufwachte, befand er sich alleine im Zimmer. Schnell zog er sich an und öffnete die Tür zum Hauptraum der Hütte. Doch auch dort war niemand und plötzlich kamen ihm wieder die Geschehnisse der letzten Tage ins Bewusstsein. Erschrocken stürzte Keron aus der Tür auf die Veranda und blickte sich nach einem Feind um, konnte aber niemanden entdecken.

„Guten Morgen“, sagte Sir Nicolas, der lässig rechts neben ihm auf der Veranda saß und Pfeife rauchte. „Was ist denn mit dir passiert, dass du hier so aufgeschreckt aus der Hütte rennst?“, fragte er und hob eine Augenbraue.

Keron, der vor Aufregung an ihm vorbeigerannt war, machte einen erschrockenen Satz nach hinten und hob die Arme kampfbereit. Als er jedoch sah, dass es nur Nicolas war, ließ er sie wieder sinken und atmete erleichtert aus. Im Versuch, noch etwas Würde zu bewahren, versuchte Keron ihm so unbekümmert wie möglich zu antworten. „Ach, es ist nicht der Rede wert.“

Sir Nicolas reagierte nicht auf diese Antwort, sondern gab nur ein amüsiertes Schnaufen von sich und blies einen Ring aus Rauch in die Luft. Keron bemerkte, dass sein Gesicht heiß wurde und versuchte diese Peinlichkeit zu vertuschen, indem er das Gespräch in eine andere Richtung lenkte. „Wo ist denn Will eigentlich?“

„Er hat gemeint, es sei viel zu langweilig zu warten, bis du aufwachst. Also ist er losgezogen, um den Wald zu erkunden.“ Kerons Besorgnis wuchs erneut, was Sir Nicolas nicht entgangen war. Er musterte seinen neuen Lehrling eingehend und zog an seiner Pfeife. „Keine Sorge, der Bengel kann schon selber auf sich aufpassen. Komm, setz dich zu mir. Wir haben uns noch gar nicht richtig unterhalten, seit du bei mir bist. Kein Wunder bei allem, was passiert ist.“

Keron setzte sich ihm gegenüber und wartete gespannt darauf, was Sir Nicolas mit ihm bereden wollte. Sein neuer Meister sagte zuerst gar nichts, sondern rauchte nur ganz genüsslich seine Pfeife und sah Keron an, dem langsam etwas unbehaglich unter seinem Blick wurde. Er verspürte den Drang, die Stille zu unterbrechen, aber gerade als er etwas sagen wollte, hob Sir Nicolas seine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. Keron schloss seinen Mund wieder und sagte nichts. „Ich wollte mit dir darüber sprechen, was mit Francis passiert ist“, sagte Sir Nicolas. Keron wich seinem Blick aus. Er hatte befürchtet, dass sie darüber reden würden. Der Name seines alten Meisters versetzte ihm einen Stich im Herzen und er entschied sich dazu, vorerst nichts zu sagen. „Er war ein alter Freund von mir. Es tut mir sehr leid, was mit ihm passiert ist, aber es ist bezeichnend für ihn. Streit, Brutalität und Unmoralität waren ihm ein Gräuel und er wollte möglichst alles mit Vernunft zum Guten wenden“, sagte Sir Nicolas und nun lächelte er. Kerons Kehle hatte sich bei der Erinnerung an Sir Francis zusammengeschnürt und er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Kurze Zeit sagten beide gar nichts und waren in ihre eigenen Gedanken versunken. „Bevor ich es vergesse, ich habe noch etwas für dich“, erinnerte sich Sir Nicolas plötzlich und holte Keron damit wieder in die Gegenwart zurück.

Verwundert, was es wohl sein könnte, sah Keron zu, wie Sir Nicolas aufstand, in die Hütte ging und wenige Minuten später mit einem Blatt Papier wieder herauskam. Er setzte sich wieder hin und hielt Keron das Blatt vor die Nase. Keron nahm es und merkte, dass der Brief nicht an ihn, sondern an Nicolas adressiert war. Er wollte ihm den Brief schon zurückgeben, doch Sir Nicolas schüttelte den Kopf und sagte: „Lies.“ Keron tat, wie ihm geheißen und entfaltete das Stück Papier.

Mein alter Freund Nicolas,

Ich hoffe, du erfreust dich bester Gesundheit. Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte. Ich habe schon seit längerem einen neuen Lehrling namens Keron Adrin. Er ist sehr wissbegierig und lernt alles, was ich ihm beibringe, sehr schnell. Vielleicht ein wenig zu schnell, wenn ich es recht bedenke, und das ist genau der Grund, warum ich dir diesen Brief schreibe.

Kurz und gut, ich möchte, dass du ihn unter deine Fittiche nimmst. So ein Talent sollte nicht verschwendet werden und ich glaube, dass du ihm mehr beibringen kannst als ich. Außerdem werde ich schon langsam etwas zu alt, um nervigen Energiebündeln wie ihm etwas beizubringen. Ich habe vollstes Vertrauen zu diesem Jungen, dass er dich nicht enttäuschen wird.

Ich komme in einem Monat in dringenden Angelegenheiten nach Reduna und ich hoffe, dass du dort vielleicht einen Blick auf den Jungen werfen könntest. Er ist etwas ganz Besonderes, du wirst sehen.

In freudiger Erwartung dich bald zu sehen,

dein Freund Francis

Keron standen Tränen in den Augen, als er den Brief zu Ende gelesen hatte. Zu lesen, wie Sir Francis über ihn dachte, bedeutete sehr viel für ihn. Er las den Brief erneut und wollte ihn Sir Nicolas wieder zurückgeben.

„Behalte ihn nur. Er gehört dir“, sagte er und machte keine Anstalten den Brief entgegenzunehmen.

Nachdem Keron sich beruhigt hatte, wandte er sich wieder Sir Nicolas zu. „Also war es sein Wunsch, dass Ihr mich unterweisen würdet? Mir hatte er nie etwas von diesem Plan erzählt.“

„Das hatte ich auch nicht erwartet“, antwortete Nicolas mir einem Lächeln, als hätte Keron ihm eine Frage gestellt. „Wie ich dir schon bei unserer ersten Begegnung gesagt habe, werde ich dich lehren und dir so viel beibringen, wie ich kann, aber es wird nicht leicht und du musst meine Anweisungen genau befolgen. Ob du so talentiert bist, wie Francis es vorausgesagt hatte, wird sich noch zeigen müssen, doch ich glaube, du bist vielleicht genau der Richtige, der Will anspornen kann, das Training etwas ernster zu nehmen. Wir werden sehen. Aber eins ist gewiss, ich muss dir sicher nicht sagen, was für ein Glück du hast, von Nicolas von den Reichsschützen zu lernen“, fügte er hinzu und Keron wusste nicht, ob er es sarkastisch oder ernst meinte, also beschränkte er seine Reaktion auf ein entschlossenes Nicken. „Na gut. Da Will immer noch nicht zurück ist, lass uns einen kleinen Spaziergang machen.“

Daraufhin stand Sir Nicolas auf und Keron folgte ihm. Einige Zeit gingen sie nur nebeneinander her, bis Nicolas ihn etwas fragte: „Was weißt du über mich, außer, dass ich zu den Reichsschützen gehöre?“

Keron überlegte kurz und erzählt dann, was er wusste: „Ihr seid ein Kriegsheld und habt an der Seite des Königs gekämpft.“ Sir Nicolas nickte und Keron fuhr fort. „Außerdem gibt es viele Gerüchte, die eure Person betreffen.“ Er machte eine kurze Pause, als wüsste er nicht so recht, ob er seinen Gedanken zu Ende führen sollte. „Allerdings muss ich sagen, dass mir einige von ihnen eher unglaubwürdig erscheinen.“

„So? Was erzählt man sich denn über mich, was deiner Meinung nach so unglaubwürdig sei?“, fragte er und Keron konnte die Belustigung in seiner Stimme hören.

„Na ja, in ein paar Geschichten rettet ihr Jungfrauen vor Monstern und Dämonen. In anderen seid ihr selber fähig Dämonen zu beschwören. Und in wieder anderen zieht ihr mit einem magischen Schwert in die Schlacht, dessen Klinge in Flammen aufgeht, wenn ihr damit kämpft.“ Keron blieb stehen, als Sir Nicolas zu lachen begann. Es war das erste Mal, dass Keron ihn lachen sah. Vor diesem Gespräch war er eigentlich zu der Ansicht gelangt, dass Sir Nicolas zwar ein ehrenwerter Mann sei, aber für Kerons Geschmack etwas zu ernst. Er schüttelte den Kopf, weil er sich offenbar in seinem neuen Meister geirrt hatte.

„Weißt du, dieses Gerücht mit dem flammendem Schwert habe ich mir als Lehrling und Student selber ausgedacht, um mir einen Ruf aufzubauen, allerdings hätte ich nie gedacht, dass sich diese Geschichte so lange in den Gedächtnissen der Leute halten würde“, erklärte Sir Nicolas, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Im Großen und Ganzen hattest du natürlich recht damit, dass du diesen Geschichten keinen Glauben geschenkt hast. Die Menschen neigen dazu, deine Erfolge größer erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit waren, aber du solltest dir trotzdem immer einen offenen Geist bewahren. Ich bin mir sicher, dass du noch so einige Dinge erleben wirst, die dir jetzt vielleicht unmöglich erscheinen.“

„Ihr habt studiert?“, fragte Keron interessiert.

„Als Lehrling der Reichsschützen bekommt man eine umfangreiche Ausbildung, wenn man es will. Soldaten werden ausgebildet, um zu kämpfen und zu töten. Aber Reichsschützen müssen zu mehr fähig sein, als ein Schwert zu schwingen und Feinde niederzustrecken. Du erhältst an der Akademie für Reichsschützen zweifellos eine hervorragende Kampfausbildung und kannst dich ab einem gewissen Zeitpunkt auch auf diese beschränken, doch die Meister der Schule raten jungen Lehrlingen dazu, mehr Fächer zu studieren. Du kannst dort zum Beispiel eine diplomatische Ausbildung erhalten und später für den König mit anderen Fraktionen verhandeln. Du wirst dort auch im Rechnen unterwiesen und hast die Möglichkeit, andere Sprachen zu erlernen, die dir bei deinen Missionen weiterhelfen. Hinzu kommt, dass du ebenso eine medizinische Ausbildung erlangen kannst und die Akademie der Reichsschützen eine der größten Bibliotheken von Ryloven besitzt.“

„Warum heißt der Orden dann die Reichsschützen, wenn die Leute noch zu so viel mehr fähig sind, als mit dem Bogen umzugehen.“

„Natürlich wissen das nicht viele Leute, weil die Reichsschützen ihre Geheimnisse nicht mit jedem besprechen. Unsere außerordentlichen Fähigkeiten mit dem Bogen sind unser hervorstechendstes Merkmal und deshalb hat das Volk uns diesen Namen gegeben. Vor langer Zeit trug unser Orden einen anderen Namen, vielleicht wirst du ihn eines Tages erfahren“, sprach Sir Nicolas und wechselte dann das Thema. „Wie du dir sicher vorstellen kannst, wird nicht jeder an der Akademie der Reichsschützen aufgenommen. Einerseits muss man ein gewisses Talent mitbringen und andererseits machen sich die Meister bei einer Aufnahmeprüfung ein Bild von deiner Persönlichkeit. Viele von ihnen sind sehr gut darin geworden, abzuschätzen, wie weit sich ein Schüler entwickeln kann und ob er der Ausbildung überhaupt gewachsen ist. Was uns unweigerlich zu meiner letzten Frage an dich bringt. Ich stelle diese Frage jedem, der mein Schüler werden will, und deine Antwort wird darüber entscheiden, ob du der Ausbildung auch würdig bist.“

Keron erschrak, denn er dachte, dass ihn Sir Nicolas schon längst als Schüler akzeptiert hätte. Die beiden blieben am Ufer des Weihers stehen und Keron wartete gespannt, dass ihm Nicolas seine Frage stellte: „Wer bist du?“

Diese Frage hatte Keron wirklich nicht erwartet. Nachdenklich betrachtete er sein verschwommenes Spiegelbild im Wasser. „Wer bin ich?“ Sir Nicolas sagte nichts mehr, sondern wartete geduldig auf eine Antwort. „Also ich bin Keron, ein 18-jähriger Junge …“

„Nein“, unterbrach Sir Nicolas ihn und schüttelte den Kopf. „Ich will nicht wissen, wie alt oder wie groß du bist. Das kann mir jeder Dummkopf sagen und du kannst dir sicher denken, dass kein Dummkopf es wert ist, mein Schüler zu werden.“

Keron ärgerte sich. Frust stieg in ihm hoch, weil er nicht wusste, was Sir Nicolas von ihm hören wollte oder warum er ihm so eine Frage überhaupt stellte. Plötzlich brachen die ganzen Emotionen aus ihm heraus, die er in den letzten Tagen aufgestaut hatte und er schrie Sir Nicolas beinahe an.

„Ich bin Keron Adrin, Sohn von Sahra und Jerar Adrin, Freund von Will und bald ein stolzer Schüler der Reichsschützen. Und eines Tages werde ich ein starker und mächtiger Krieger wie Sir Francis, damit ich alle beschützen kann, die mir etwas bedeuten.“

Eine Zeit lang sagte keiner der beiden etwas. Sir Nicolas schaute Keron einfach nur an und Keron hatte das Gefühl, dass er ihn nicht nur anschaute, sondern irgendwie in ihn hinein. Dann begann Sir Nicolas langsam zu nicken. „Eine gute Antwort“, sagte er und Keron atmete unwillkürlich aus. „Sie zeigt, wo du herkommst, wer dir wichtig ist und was du im Leben erreichen willst. Es wäre mir eine Ehre dich zu unterweisen und ich verspreche dir, wenn du mir vertraust, werde ich dich soweit bringen, dass du jedes deiner Ziele erreichen kannst.“ Sir Nicolas beendete seinen Satz mit einer leichten Verbeugung, was Keron etwas peinlich war.

„Danke“, antwortete er verlegen und verbeugte sich ebenfalls, aber etwas tiefer als Sir Nicolas.

„Komm, ich sehe gerade, dass Will von seinem Ausflug aus dem Wald zurückgekommen ist. Es wird Zeit, dass wir mit eurer Ausbildung beginnen“, sagte Sir Nicolas und gemeinsam gingen sie zur Hütte zurück. Als die beiden dort ankamen, wartete Will schon auf der Veranda auf sie.

„Was hast du entdeckt?“, fragte ihn Sir Nicolas.

„Nichts. Ich habe keine Anzeichen gefunden, dass Menschen in letzter Zeit hier waren oder dass uns jemand gefolgt ist“, antwortete er mit einem Achselzucken.

„Gut, dann lasst uns beginnen“, sagte Sir Nicolas und ging in die Hütte.

Will wandte sich verwundert an Keron: „Mit was genau beginnen wir?“

„Sir Nicolas will mit unserer Ausbildung zu Reichsschützen beginnen“, erklärte Keron. Woraufhin ein breites Lächeln auf Wills Gesicht erschien. Als Sir Nicolas wieder zurückkam, hatte er sein Schwert an seinem Gürtel befestigt und trug je ein Holzschwert in einer Hand. Er stellte sich vor den beiden hin und überreichte ihnen die Schwerter.

„Wir kriegen keine richtigen Schwerter?“, fragte Will und die Enttäuschung in seiner Stimme war kaum zu überhören.

„Natürlich nicht“, sagte Sir Nicolas mit Bestimmtheit. „Ihr seid vollkommene Anfänger im Schwertkampf und ihr würdet euch nur selber verletzten. Ihr bekommt erst ein richtiges Schwert, wenn ich der Meinung bin, dass ihr auch damit umgehen könnt. Und selbst dann werdet ihr in Übungskämpfen nur mit den Holzschwertern gegeneinander antreten. Ein Schwert ist kein Spielzeug, sondern eine Waffe“, sagte Sir Nicolas und bedachte Will mit einem strengen Blick, woraufhin dieser betreten zu Boden blickte. „Und jetzt schaut her und passt genau auf.“ Sir Nicolas zog sein eigenes Schwert aus der Scheide, nahm einen etwas breiteren Stand ein und ließ das Schwert ein paar Mal in geschmeidigen Bewegungen durch die Luft schneiden. Es war beinahe so, als würde er eine Art Tanz aufführen. Zum Schluss kam er wieder in seine Ausgangsposition zurück und versiegelte seine Klinge in ihrer Scheide. Danach begann das Training.

Sir Nicolas zeigte ihnen, wie sie ihr Schwert am besten halten sollten, damit ein Gegner es ihnen nicht so leicht aus der Hand schlagen konnte. Nachdem Will seinen Unmut darüber geäußert hatte, dass er wusste, wie man ein Schwert hält, nahm Sir Nicolas Keron das Schwert aus der Hand und entwaffnete Will mit einer einzigen schnellen Bewegung. Will wusste überhaupt nicht, was passiert war, und unterbrach den Unterricht danach nicht mehr. Ihr Meister zeigte ihnen die Bewegungen mit seinem eigenen Schwert, die Will und Keron nachmachen sollten. Nachdem er ihnen eine Reihe von Bewegungen vorgeführt hatte, sollten die beiden sie hintereinander vollführen, während Sir Nicolas sie genau beobachtete und nötigenfalls korrigierte. So übten sie den ganzen Vormittag weiter. Nicolas zeigte ihnen, wie man welche Angriffe am besten parierte und wie sie ihre Beine bewegen müssen, damit sie nicht das Gleichgewicht verlieren, wenn sie einen kräftigen Schlag blocken mussten oder ihr Gegner ihren Schlägen auswich. Keron hätte nicht gedacht, dass das Training so anstrengend sein würde, aber er beschwerte sich nicht, sondern machte einfach weiter, weil er es unbedingt lernen wollte.

Als Sir Nicolas verkündete, dass sie eine Mittagspause machen würden, war Keron überhaupt nicht zufrieden mit seinen Ergebnissen und nach Wills Ausdruck zu urteilen ging es ihm ähnlich. Der erfahrene Reichsschütze entdeckte jeden kleinen Fehler und jede Unaufmerksamkeit, wenn ihre Konzentration nachließ. Und jedes Mal, wenn einer von ihnen einen Fehler machte, mussten sie die komplette Übung noch einmal wiederholen. Beim Essen redete niemand, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Keron ging im Geiste noch einmal die Bewegungsabläufe durch, bei denen er am meisten Schwierigkeiten hatte. Nach dem Essen machten sie einen anstrengenden Dauerlauf durch den Wald, bei dem sie laut Sir Nicolas ihren Kopf wieder frei bekommen würden. Aber die einzige Veränderung, nachdem sie zwei Stunden durch den Wald gelaufen waren, waren ihre schmerzenden Beinmuskeln. Keron wusste, das ihm das Schlimmste erst am nächsten Tag bevorstehen würde.

Am Nachmittag nahmen sie dann wieder das Training mit den Holzschwertern auf und Keron merkte, dass ihm noch weniger gelang als am Vormittag. Während er bei einem Hieb von oben das Gewicht auf seinen anderen Fuß verlagern wollte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte. Außer Atem und am Boden liegend schaute er zu Will hinüber, der einige Meter weit weg von ihm übte. Zu seinem Erstaunen stellte Keron fest, dass Will wirklich schon etwas Ahnung vom Schwertkampf hatte, denn er vollführte die gleiche Übung, bei der er gerade das Gleichgewicht verloren hatte, ohne einmal kurz innehalten zu müssen. Keron war beeindruckt. Vor ein paar Tagen hätte er noch erwartet, dass der Anblick seines Freundes, der eindeutig besser war als er, ihn entmutigen würde. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Er stand wieder auf und begann seine Übungen von neuem.

Immer wieder verbesserte Sir Nicolas sie, wenn sie zum Beispiel auf dem falschen Bein standen oder sie ihr Schwert nicht hoch genug hielten, um ihren Oberkörper zu schützen. Keron verlor noch drei Mal das Gleichgewicht, bis Sir Nicolas sie endlich zum Abendessen rief. Erschöpft, aber doch etwas zufrieden mit sich, weil er nicht aufgegeben hatte, stapfte Keron zur Hütte und setzte sich an den Tisch im Wohnbereich. Das warme Essen in seinem Bauch tat ihm unglaublich gut und seine Laune verbesserte sich schlagartig. Auch Will hatte nach den ersten paar Bissen wieder sein typisches Grinsen im Gesicht. Nachdem Keron seinen Teller bis auf den kleinsten Rest aufgegessen hatte, bedankte er sich bei Sir Nicolas für das Mahl und ging in sein Zimmer. Erschöpft und mit schmerzenden Gliedmaßen ließ er sich ins Bett fallen und fiel, kaum dass er sich hingelegt hatte, in einen tiefen Schlaf.

Als Keron am nächsten Tag die Augen öffnete, war er das erste Mal vor Will wach. Damit er seinen Freund nicht weckte, stand er so leise wie möglich auf und verließ das Zimmer. Fast jede Bewegung schmerzte. Allerdings versuchte er, es zu ignorieren, und trat hinaus ins Sonnenlicht. Keron blickte hoch und versuchte an dem Stand der Sonne herauszufinden, wie früh es wirklich war, und er schätzte, dass die Sonne seit etwa zwei Stunden aufgegangen war. Langsam ging er zum Weiher, um seine Glieder im kalten Wasser zu kühlen und sich zu waschen. Er zog sich sein Hemd über den Kopf und legte es zusammen mit seiner Hose am Ufer ab und stieg dann ins Wasser. Das Wasser war zwar eiskalt, aber es fühlte sich einfach himmlisch auf seinen schmerzenden Gliedern an. Vorsichtig formte er mit seinen Händen eine Schale und träufelte sich etwas Wasser über den Kopf. Nachdem er erfrischt war und seine Muskeln nicht mehr ganz so stark schmerzten, zog er sich wieder an und holte sein Holzschwert, das er auf der Holzveranda am vergangenen Tag liegen gelassen hatte. Einige Meter entfernt von der Hütte begab er sich in seine Grundposition und begann mit einer einfachen Folge von Schwerthieben. Nachdem er sie drei Mal hintereinander ohne für ihn bemerkbaren Fehler geschafft hatte, hielt er inne und blickte zur Hütte. Dort stand Sir Nicolas auf der Veranda und beobachtete ihn. Keron hatte ihn während seiner Übungen überhaupt nicht aus der Hütte kommen sehen. Sir Nicolas winkte ihn zu sich und Keron setzte sich in Bewegung.

„Verausgabe dich nicht zu sehr. Du hast heute noch einen langen und harten Tag vor dir. Komm rein und iss erst einmal etwas, dann machen wir weiter“, sagte er, als Keron nahe genug war, damit er nicht schreien musste.

„Ja, Meister.“

„Ach, sag einfach Nicolas“, sagte er mit Bestimmtheit und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Jetzt, wo ihr endgültig meine Schüler geworden seid und den ersten Schritt in Richtung Reichsschützen gemacht habt, können wir auf diese unnötigen Anreden wie Sir oder Meister verzichten. Wir werden noch eine ganze Weile hier auf engstem Raum zusammenleben und da sind solche Höflichkeiten nicht notwendig“, schloss er mit einem Lächeln und Keron glaubte kurz etwas Väterliches in seiner Stimme entdeckt zu haben. Keron folgte Nicolas ins Haus, in dem Will schon am Tisch saß. Er schaute noch etwas schlaftrunken aus und Keron vermutete, dass Nicolas ihn gerade erst geweckt hatte, denn er blickte ganz und gar nicht glücklich auf den Teller vor ihm.

„Tja, du könntest dir ruhig ein Beispiel an Keron nehmen, der ist schon seit einer Stunde auf und hat auch schon mit den Übungen angefangen“, schlug Nicolas Will vor.

„Wenn er keinen Schlaf braucht, ist das seine Sache“, gab er schnippisch zurück und wies mit dem Kopf in Kerons Richtung. „Ich hingegen laufe nur zur Höchstform auf, wenn ich genug Schlaf bekomme. Und weil wir gerade davon reden, es wäre nicht nötig gewesen mich aus dem Bett zu zerren.“

„Hättest du auf mein Rufen reagiert, wäre das überhaupt nicht nötig gewesen, da hast du recht.“ Keron versuchte sein Lachen zu unterdrücken, was ihm aber nicht besonders gut gelang und erntete deshalb einen bösen Blick von Will.

An diesem Tag begannen sie gleich mit einem Dauerlauf durch den Wald und trainierten erst danach mit dem Schwert. Nicolas zeigte ihnen neue Übungen und Angriffsmöglichkeiten, doch da Keron die vom gestrigen Tag noch nicht gut genug beherrschte, übte er zuerst diese, während Will schon mit den neuen beschäftigt war. Sein schmerzender Körper machte es ihm nicht gerade leichter. Seine steifen Beine und Arme reagierten einfach nicht so schnell, wie Keron es gerne gehabt hätte. Es wurde immer schlimmer. Umso mehr Keron sich anstrengte, umso weniger gelang ihm am Ende, was wiederum seine Laune verdüsterte. Es war ein Teufelskreis. Doch plötzlich wurden seine verärgerten Gedanken durch lautes Fluchen unterbrochen. Keron hielt in seiner Bewegung inne und sah zu Will hinüber, der gerade vom Boden aufstand und sich den Schweiß von der Stirn wischte.

„Gar nicht so leicht, eh?“, fragte ihn Will mit einem Lächeln im Gesicht, bevor er wieder in die Grundhaltung ging. Mit dem Gefühl, dass er nicht der einzige war, der Schwierigkeiten hatte, war es Keron irgendwie gleich wohler und er übte weiter. Zum Ende des Vormittages konnte Keron die ersten Übungen und Bewegungsabfolgen endlich ohne nennenswerte Fehler durchführen und machte sich nach einer kurzen Pause gleich daran, die heutigen Lektionen zu trainieren.

Nach der Mittagspause wollten Will und Keron schon wieder nach draußen gehen und mit ihrem Training weitermachen, als Nicolas sie zurückrief: „Wartet einmal. Wir machen mit etwas anderem weiter.“

Will und Keron setzten sich wieder an den Tisch und warteten, bis Nicolas mit einem Stapel von Papieren zurückkam. Es waren Karten. Karten von Ryloven, die ehemalige Reichsschützen selber angefertigt hatten. Nicolas zeigte ihnen die einzelnen Karten und erklärte ihnen, wo sich strategisch wichtige Punkte befanden oder welche Stellen man am leichtesten verteidigen könnte. Will und Keron hatten die Aufgabe, sich die Karten, so gut es ihnen möglich war, einzuprägen und zu merken. Keron faszinierten diese Karten sehr. Sie enthielten so viele Orte, von denen er überhaupt nicht gewusst hatte, dass es sie gab. Die beiden saßen fast den ganzen Nachmittag über die Karten gebeugt und versuchten sich die einzelnen Namen der Regionen und Städte zu merken. Nach einigen Stunden kam Nicolas wieder zu ihnen und fragte sie nach bestimmten Namen oder bei welchen Orten sie sich gegen mögliche Feinde verteidigen würden. Nach Wills Einschätzung sah ihr Lehrer nicht enttäuscht von ihren Leistungen aus, auch wenn sie viele Fragen noch nicht beantworten konnten.

„Na gut“, sagte Nicolas dann endlich. „Das war für den Anfang gar nicht so schlecht. Ihr werdet morgen weiter die Karten studieren. Es ist besonders wichtig für einen Reichsschützen, dass er sich im Königreich auskennt, falls er einmal losgeschickt wird, um eine Nachricht so schnell wie möglich zu überbringen. Aber jetzt geht bitte hinaus und nutzt die letzten Sonnenstrahlen noch für eure Schwertübungen.“

Ihr Training ging immer so weiter. Am Vormittag machten sie zuerst einen Dauerlauf durch den Wald, der mit der Zeit immer länger wurde. Dann trainierten sie mit dem Schwert bis zur Mittagsstunde, als es am heißesten war. Nach der Pause machten sie schließlich verschiedene Sachen. Oft saßen sie über den Karten, bis Nicolas kam und sie ausfragte. Aber an anderen Tagen nahm ihr Lehrmeister sie auch mit in den Wald und erklärte ihnen, an welchen abgebrochenen Zweigen oder fehlenden Moosen sie erkennen konnten, ob jemand hier gewesen war. Oder er brachte ihnen bei, sich so lautlos und so ungesehen wie möglich in verschiedenen Umgebungen zu bewegen. Diese Übungen machten Will besonderen Spaß, weil er darin sehr gut war. Nicolas ließ sie gegeneinander antreten. Einer von ihnen musste einen gewissen Bereich ihm Wald bewachen und der andere musste versuchen sich an ihm vorbeizuschleichen. Meistens gewann Will bei diesen Aufgaben und erzählte Keron dann nur zu gerne ganz genau, wie er an ihm vorbeigekommen war oder an welcher Bewegung er ihn entdeckt hatte. Das Prahlen seines Freundes ging Keron auf der einen Seite zwar gewaltig auf die Nerven, aber auf der anderen Seite erzählte ihm Will genau seine Fehler und er hatte nicht vor den gleichen Fehler ein zweites Mal zu begehen. Schließlich schaffte es Keron dann nach wenigen Tagen zum ersten Mal an Will vorbeizukommen, ohne bemerkt zu werden, und als er Will von hinten an der Schulter berührte, war dieser vollkommen überrascht und machte vor Schreck einen kleinen Sprung zur Seite, woraufhin beide zu lachen begannen und sogar Nicolas anerkennend nickte. Keron wurde im Schleichen zwar immer besser und schaffte es immer öfter an Will vorbei, aber der Meister der Schatten, wie er sich gerne selbst bezeichnete, war weiterhin Will. Wenn Keron an der Reihe war mit dem Suchen, kam es kaum vor, dass er Will entdeckte, obwohl Nicolas ihm versicherte, dass er nichts falsch gemacht hatte. Nach fast einem Monat und nach unzähligen Siegen von Will hintereinander beschloss Nicolas selber Wache zu halten und Will wäre es auch beinahe gelungen, an ihm vorbei zu gelangen, wenn er nicht kurz vor seinem vermeintlichen Triumph unvorsichtig geworden und auf einen morschen Ast gestiegen wäre. Das Knacken entging Nicolas natürlich nicht und er entdeckte Will sofort, aber er war trotzdem überrascht, wie weit Will an ihn herangekommen war, ohne dass Nicolas ihn gesehen hatte. Er meinte, dass Will ein ausgesprochen großes Talent dafür hatte, sich ungesehen zu bewegen und dass er eines Tages vielleicht zu den Besten „Schattenwanderern“ gehören könnte, die es bei den Reichsschützen gab. Will und Keron wussten nicht was „Schattenwanderer“ waren, doch da Nicolas gleich mit der nächsten Übung fortfahren wollte, blieb ihnen auch keine Zeit, um danach zu fragen.

Am siebten Tag ihres Trainings hatten sich Kerons Muskeln schon besser an die viele Bewegung gewöhnt und er hatte keine Schmerzen mehr, was vor allem im Schwertkampf dazu führte, dass er große Fortschritte machte. Er war natürlich nicht so gut wie Will und nach sieben Tagen Übung immer noch ein Anfänger, aber Nicolas meinte, dass seine Bewegungen jetzt schon etwas mehr mit Schwertkampf zu tun hätten.

Am selben Tag verschwand der Meister der Reichsschützen, während die beiden übten, für mehrere Stunden und kam mit ein paar Ästen wieder zurück. Er setzte sich auf die Veranda, lehnte sich an die Außenwand der Hütte und begann mit einem kleinen Messer den ersten Ast zu bearbeiten. Immer wenn Will oder Keron ihn fragten, was er da mache, wich er ihren Fragen aus und sagte nur „schnitzen“ oder „es wird eine Überraschung“ oder „geht wieder an die Arbeit“. Drei Tage lang saß Nicolas, immer wenn Will und Keron übten oder sich die Landschaft auf den Karten einprägten, auf der Veranda und arbeitete an den Ästen.

Am zehnten Tag gab Nicolas ihnen vom Training frei. Keron nutzte die freie Zeit, um sich um sein Pferd zu kümmern und etwas notwendigen Schlaf nachzuholen. Er ging hinter die Hütte zu dem kleinen Unterstand, wo die Pferde untergebracht waren. Zuerst striegelte er Weher, der ihn mit einem erfreuten Wiehern begrüßte, und dann legte er sich ins Heu und schlief ein. Nachdem er wieder aufgewacht war, fühlte er sich so erholt wie schon seit Tagen nicht mehr. Er ging um die Hütte und entdeckte Will, der gerade im Schatten des Waldrandes saß und etwas polierte, jedoch konnte er nicht genau erkennen, was es war. Als er näher an ihn herantrat, sah er schließlich, was es war. Sein Freund polierte geraden einen Dolch. Als Will seinen Freund und Kameraden bemerkte, schaute er auf und grinste Keron an.

„Na, wieder aufgewacht?“, fragte er Keron spöttisch, der sich neben ihn hinsetzte.

„Wieso, wie spät ist es denn?“

„Es ist schon längst Nachmittag. Du hast das Mittagessen verpasst. Ich wollte dich ja aufwecken“, erzählte er und pikte mit seinem Dolch einen schlafenden imaginären Keron. „Aber Nicolas hat gemeint, dass du schon aufwachen würdest, wenn du Hunger bekämest.“

Jetzt, nachdem Will es ausgesprochen hatte, merkte Keron, dass er wirklich ziemlich hungrig war. „Dann werde ich mir mal etwas zum Essen holen“, sagte er zu Will und ging zur Hütte. Er schlenderte an Nicolas vorbei, der jetzt schon den vierten Tag hintereinander an seinen Werken arbeitete, holte sich ein Stück Brot sowie ein Stück Käse und geräuchertes Fleisch aus ihren Vorräten und machte sich auf den Weg zurück zu Will. Dort angekommen, wollte er ihn fragen, wo er den Dolch denn herhatte, aber sein Mund war so voll, dass er nur unverständliche Laute erzeugte, die niemand hätte verstehen können. Will schaute ihn fragend an und zog verwundert eine Augenbraue in die Höhe, während Keron damit beschäftigt war, den riesigen Bissen in seinem Mund hinunterzuwürgen.

„Ich wollte fragen, woher du diesen Dolch hast?“

Will grinste sein typisches Grinsen. „Kannst du dich noch erinnern, wie ich dir in Reduna von den Gauklern aus meiner Kindheit erzählt habe?“ Keron nickte. „Eines Tages habe ich bei einem Auftritt von ihnen als junger Messerwerfer mitgeholfen. Nachdem ich mit meiner Vorführung fertig war, jubelten mir die Leute zu und ein paar gaben mir auch Münzen, weil ich sie beeindruckt hatte. Als der größte Teil der Menge gegangen war, kam ein Mann in einem weiten dunkelblauen Umhang auf mich zu. Er lächelte mich an und sagte, er möchte mir etwas zeigen. Der Mann kniete sich hin und holte einen in einen Stoff gewickelten Gegenstand aus seiner Tasche heraus. Er wickelte den Gegenstand aus und ein wunderschöner Dolch kam darunter zum Vorschein.“ Will hielt den Dolch in seiner Hand höher, damit Keron ihn besser sehen konnte. Er hatte eine leicht gebogene Klinge, wie der Dolch der Nah’rane, den Nicolas ihnen gezeigt hatte. Aber Wills Dolch war nicht rot. Er hatte ein ganz feines Muster auf der Klinge und ein gelber Stein war am oberen Teil des Griffes unter der Klinge eingelassen, was ihm eine gewisse Eleganz verlieh, wie er so im Sonnenschein glänzte. Die Klinge und der Griff waren aus demselben Material und es schaute beinahe so aus, als wäre er aus einem Stück Metall gefertigt worden. Aus welchem Material der Dolch bestand, konnte Keron allerdings nicht sagen. Die Klinge schimmerte silbern und er kannte kein Material, aus dem man Waffen fertigen würde und das dann so aussah. Als er nickte, fuhr Will mit seiner Geschichte fort. „Er gab mir den Dolch und es war der wunderschönste Gegenstand, den ich je gesehen hatte. Als ich ihn in der Hand hatte … wie soll ich das beschreiben … es fühlte sich einfach richtig an, als wäre er ein Teil von mir oder ein alter Freund, der wieder da war … nein, das drückt nicht aus, was ich sagen will, aber es fühlte sich einfach gut an, als ich ihn in den Händen hielt. Der Mann fragte mich, ob er mir gefalle, und ich nickte und wollte ihm seinen Dolch zurückgeben, doch er bestand darauf, dass ich ihn behielt. Er meinte, es sei ein Geschenk und dass ich ihn besser gebrauchen könnte als er. Bevor er verschwand, meinte er noch, dass dieser Dolch mir eines Tages vielleicht das Leben retten würde. Ich hatte damals Tränen in den Augen, weil mir noch nie jemand so etwas Schönes geschenkt hatte. Ich kann immer noch sein lächelndes Gesicht vor mir sehen, als er aufstand, mir durch die Haare fuhr und in der Menge verschwand. In den nächsten Tagen übte ich immer wieder mit dem Dolch zu werfen und ich verfehlte mein Ziel nie. Die Gaukler meinten, es sei mein Talent oder einfach nur Glück, aber ich war mir da nicht so sicher.“

„Du hast dein Ziel wirklich nie verfehlt?“, fragte Keron erstaunt.

„Nicht mit diesem Dolch“, sagte er und stand auf. „Siehst du den Baum dort drüben?“ Keron blickte in die Richtung, in die Will zeigte, und sah einen etwas größeren Baum, der von kleineren Bäumen umgeben war und etwa 10 Meter von ihnen entfernt stand. Keron nickte. Will holte aus und warf den Dolch, der sich in der Luft mehrmals drehte und dann genau mit der Klinge voraus im Baum steckten blieb. Er holte den Dolch und zeigte ihn Keron. Er hatte keinen Kratzer und schaute genauso aus wie zuvor. Doch bevor Keron noch etwas fragen konnte, stand Nicolas plötzlich hinter ihnen, ohne dass sie sein Kommen bemerkt hätten.

„Sie sind endlich fertig“, sagte er.

„Was ist fertig?“, fragte Will.

„Eure Bögen natürlich“, antwortete Nicolas und hielt ihnen zwei fast gleiche Bögen hin. „Sie haben nicht so eine große Reichweite wie die Langbögen, die wir Reichsschützen normalerweise verwenden, aber für den Anfang werden diese hier euch gute Dienste leisten. Na los, nehmt sie schon. Sie gehören jetzt euch. Wir fangen morgen am Nachmittag mit dem Bogenschießen an. Doch heute solltet ihr euch noch ausruhen“, sagte er und überreichte ihnen die Bögen. Gemeinsam gingen sie zur Hütte zurück und Nicolas zeigte ihnen, wie sie die Sehnen abnahmen und wieder befestigten und wie sie ihren Bogen von jetzt an pflegen mussten. Will und Keron verstauten ihre neuen Waffen behutsam in ihrem Zimmer und konnten den nächsten Tag kaum noch erwarten.

Keron folgte Will und schaute sich seine Umgebung bei jedem Schritt genau an. Mit dieser Taktik kamen sie zwar nur langsam voran, aber andererseits wollten sie nicht wieder einen Fehler machen, indem sie eine Spur übersahen. Als Keron und Will an diesem Tag aufgestanden waren, entdeckten sie, dass ein an sie adressierter Brief am Tisch im Wohnbereich lag. In diesem Brief stellte Nicolas ihnen die Aufgabe, dass sie mit ihren Bögen zum Waldrand gehen sollten. Dort würden sie einen Baum finden, in dem ein Pfeil steckte. Nachdem sie den Pfeil aus dem Stamm gezogen hatten, sollten sie seinen Spuren durch den Wald folgen, bis sie ihn fanden. Aufgeregt rannten sie in ihr Zimmer, holten ihre Bögen und machten sich sofort auf, um den Pfeil zu suchen. Es dauerte nicht lange und Keron entdeckte ihn im Stamm einer großen Eiche. Sie nahmen den Pfeil mit und folgten der Spur von Nicolas, wie er es ihnen beigebracht hatte. Nach einer halben Stunde hatten sie ein halbes Dutzend Pfeile aus den Bäumen befreit. Danach wurde ihre Verfolgung schwieriger. Die Anzeichen, dass eine Person durch den Wald streifte, wurden undeutlicher und weniger und nach einer weiteren halben Stunde endete die Spur einfach. Zuerst suchten die beiden die nähere Umgebung ab, weil sie dachten, dass sie irgendetwas übersehen hatten. Doch als sie nichts fanden, mussten sie sich eingestehen, dass Nicolas eine falsche Spur gelegt hatte, um sie in die Irre zu führen. Etwas verärgert, da sie einer falschen Fährte gefolgt waren und Nicolas es ihnen so schwer machte, kehrten sie um und gingen zu dem Baum zurück, in dem der letzte Pfeil gesteckt hatte. Dort entdeckten sie dann wirklich eine zweite Spur, die in Richtung Nordosten führte.

Dieser Spur folgten sie jetzt schon eine ganze Weile und jedes Mal, wenn einer von ihnen einen weiteren Pfeil entdeckte, stieg ihr Selbstvertrauen wieder ein klein wenig an. Nach einer weiteren Stunde, die sie damit verbrachten in gebückter Haltung durch den Wald zu schleichen und der Spur von Nicolas zu folgen, hörte Keron ein Pfeifen, dass dem eines Vogels ähnelte, aber es hörte sich nicht ganz richtig an. Keron blieb stehen, lauschte und versuchte so herauszufinden, aus welcher Richtung der vermeintliche Vogelruf kam. Nach einigen Sekunden hörte er dasselbe Pfeifen erneut und konnte die Richtung ausmachen. Das Pfeifen war ein Signal, das sich Will und Keron ausgedacht hatten, um dem anderen zu signalisieren, dass einer von ihnen noch einen Pfeil oder etwas anderes entdeckt hatte.

Als Keron bei dem Baum ankam, vor dem Will stand, hatte der schon ihren zwölften Pfeil aus dem Stamm des Baumes geholt. Doch dieses Mal hatte Will zu Kerons Erstaunen noch etwas anderes beim Stamm dieses Baumes gefunden. Er hielt zwei Köcher in den Händen und überreichte einen von ihnen Keron. Sie füllten ihre ledernen Köcher mit jeweils sechs der gefundenen Pfeile und schnallten die Köcher dann auf ihre Rücken.

„Hast du auch schon den nächsten Hinweis entdeckt?“, fragte ihn Keron.

„Ja. Dort wurde das Moos unter einem Stiefel vom Stein abgerieben“, er nickte und zeigte Richtung Norden. „Und ungefähr 100 Meter weiter sind etliche Zweige in der Höhe der Beine abgeknickt, als wäre jemand durchs Dickicht gerannt“, sagte Will und beendete damit seine Schlussfolgerung.

„Aber könnte es nicht auch sein, dass ein Tier die Zweige abgeknickt hat?“

Will überlegte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Ich glaube nicht. Wenn es wirklich ein Tier gewesen wäre, hätte ich irgendwo Pfotenabdrücke oder etwas in der Art sehen müssen. Oder es wären Haare von dessen Fell an den abgeknickten Zweigen hängen geblieben, als das Tier durch die Büsche gelaufen ist.“

Die beiden setzten ihren Weg also in Richtung Norden fort und bald darauf konnten sie Sonnenlicht durch die Bäume vor ihnen in der Ferne scheinen sehen. Umso weiter sie der Spur folgten, umso näher kamen sie auch dem Rand des Waldes. Es dauerte nicht lange, bis sie die letzten Bäume erreicht hatten und ins Sonnenlicht hinaustraten. Wegen der langen Zeit im dunklen Wald mussten sich ihre Augen erst wieder an das grelle Licht der Sonne gewöhnen. Doch anders als sie vermutet hatten, bildeten die Bäume nicht den Rand des Waldes, sondern nur die Grenze zu einer sehr großen Lichtung. Bis auf fünf alleinstehende Bäume war die einzige Erhöhung auf der großen Wiese ein einzelner Stein, der sich ganz in ihrer Nähe befand. Keron wunderte sich, wie ein einzelner Felsbrocken auf diese Lichtung gekommen war. In ihrer näheren Umgebung war alles flach und kein Berg war dieser Lichtung so nahe, dass der Stein einfach vom Berghang abgerutscht sein konnte.

Als Will den Brocken aus der Ferne musterte, entdeckte er plötzlich eine Gestalt, die sich gegen das Sonnenlicht am Stein abzeichnete. Er schirmte sich die Augen gegen die Sonne ab und erkannte zu seinem Erstaunen Nicolas, der auf dem großen Stein saß. „Keron, schau doch“, rief er seinem Freund aufgeregt zu und zeigte in die Richtung des Felsens. Keron schirmte sich ebenfalls die Augen gegen die Sonne ab, um besser sehen zu können und schaute zum Stein hinüber, wo er, wie zuvor Will, niemand anderen als Nicolas entdeckte. Erleichtert, weil sie ihn endlich gefunden hatten, rannten sie auf ihn zu.

Nicolas erwartete sie Pfeife rauchend auf dem Stein und blies, wie es seine Art war, Ringe aus Rauch in den blauen Himmel, während er den beiden entgegenblickte. Etwas außer Atem blieben Will und Keron vor dem Felsbrocken stehen und blickten erwartungsvoll zu Nicolas nach oben, der sie mit ausdrucksloser Miene musterte.

„Ihr habt es geschafft. Gut gemacht“, sagte er schließlich.

„Na ja, wir sind einige Zeit einer falschen Spur gefolgt und haben damit viel Zeit verloren“, gab Keron wahrheitsgemäß zu.

Nicolas nahm einen Zug von seiner Pfeife und nickte. „Das Ziel war es, mich auf dieser Lichtung zu finden. Außerdem habt ihr eine wichtige Lektion gelernt. Ihr könnt nicht immer davon ausgehen, dass eure Feinde keine Erfahrung im Verfolgen von Personen haben. Ihr müsst stets wachsam bleiben, um mögliche Fallen und falsche Spuren entdecken zu können. Außerdem könnte euch jemand auch in die Irre führen, indem er seine Spuren verwischt. Aber da ihr jetzt hier vor mir steht, würde ich sagen, dass ihr eure Aufgabe erfüllt habt.“

„Ich hätte noch eine Frage“, stellte Will fest.

Nicolas seufzte. „Und die wäre?“

„Warum habt ihr uns hierher geführt?“

„Ich dachte, das läge doch auf der Hand. Ihr seid hier, um zu trainieren“, antwortete Nicolas, hüpfte von dem Felsbrocken hinunter und verschwand dahinter, um gleich wieder mit seinem Bogen in der Hand aufzutauchen. „Genauer gesagt, seid ihr beide an diesem Ort, um die Kunst des Bogenschießens zu erlernen.“

Nicolas ging voran. Will und Keron folgten ihm in die Mitte der Lichtung. „Ich habe um meine Pfeile ein rotes Band gebunden, damit ihr sie von euren eigenen besser unterscheiden könnt“, sagte er und zeigte ihnen den Pfeil, den er mit einer fließenden Bewegung aus seinem eigenen Köcher herausgeholt hatte. „Ich werde einen Pfeil in jeden dieser fünf Bäume dort auf der anderen Seite der Lichtung schießen und eure Aufgabe ist es, eure Pfeile so nahe wie möglich an meinen zu platzieren. Verstanden?“ Will und Keron nickten und nahmen ihre eigenen Bögen in die Hände, um ihre Bereitschaft zu signalisieren.

„Das ist es, was ihr am Ende eures Trainings können sollt.“ Gleich nachdem er diesen Satz beendet hatte, schoss Nicolas auch schon den ersten Pfeil ab und dann den nächsten und den nächsten. Keron konnte nicht glauben, dass ein Mensch in so einer Geschwindigkeit zielen konnte, aber keiner der Pfeile verfehlte sein Ziel. Nicolas zog in dem Zeitraum eines Blinzelns einen neuen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an und schoss. Hätte er es nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern nur in einem Gasthof davon gehört, hätte er kein Wort geglaubt. Doch er sah es und es machte ihm Angst. Sich vorzustellen, dass Nicolas nicht auf Bäume sondern auf Soldaten, auf Menschen schoss, bereitete ihm Gänsehaut. Er zweifelte nicht daran, dass sein Lehrmeister mit jedem Pfeil in seinem Köcher einen Menschen in weniger als einer Sekunde aus einer großen Entfernung töten konnte. Wahrscheinlich würde sein Gegner nicht einmal wissen, wer auf ihn geschossen hatte. Nun verstand Keron vollkommen, warum sich der Name des Ordens im Laufe der Zeit in Reichsschützen geändert hatte.

Nicolas ließ seinen Bogen sinken und schaute zu seinen Schülern hinüber, die ein wenig abseits von ihm standen und sich noch kein bisschen bewegt hatten. Keron stand einfach nur erstaunt da und Will blickte mit offenem Mund zwischen den Pfeilen in den Bäumen und Nicolas hin und her.

„Na los. Jetzt seid ihr an der Reihe. Nehmt einen Pfeil aus dem Köcher und legt ihn an“, forderte Nicolas sie auf und zeigte ihnen die richtige Haltung, indem er es ihnen vormachte.

Will schüttelte ungläubig den Kopf. „Das sollen wir können?“, fragte er etwas zweifelnd. „Das ist doch Wahnsinn. Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.“

Nicolas verstand endlich, was in seinen Schülern vorging. „Natürlich nicht heute, aber mit viel Übung werdet ihr es irgendwann ebenfalls können. Nicht morgen und auch nicht in einer Woche oder einem Monat. Um diese Geschwindigkeit zu erlangen, braucht es viel Übung und Training. Aber ja, ihr werdet es können.“ Will und Keron wirkten nicht überzeugt und Nicolas wurde langsam ungehalten. „Ich habe euch als meine Schüler angenommen und seid versichert, dass ich es nicht getan hätte, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass ihr dazu fähig seid. Doch gut, wenn ihr nicht wollt, dann können wir auch gleich abbrechen“, sagte er wütend und machte Anstalten zu gehen, indem er sich von ihnen abwandte. Nicolas’ Zorn weckte Keron aus seinen Gedanken und eine ungewöhnliche Entschlossenheit breitete sich in ihm aus.

„Warte. Ich werde es versuchen.“ Keron stellte sich dorthin, wo Nicolas vorher gestanden hatte und nahm einen Pfeil aus seinem Köcher. Er legte ihn an und spannte die Sehne. Zu seiner Überraschung war es gar nicht so einfach, die Sehne ganz nach hinten zu ziehen. Aber ein angenehmes Gefühl breitete sich in ihm aus. Es fühlte sich an, als hätte er sein ganzes Leben nur darauf gewartet, einen Bogen zu spannen. Es war ein unglaubliches Glücksgefühl. In diesem Moment erinnerte er sich daran, als Will das Gefühl beschrieben hatte, welches er empfunden hatte, während er das erste Mal seinen Dolch in den Händen gehalten hatte. Keron zielte. In dem Moment, in dem er den Baum in der Mitte, der am nächsten zu ihm stand, im Visier hatte, ließ er den Pfeil los. Die Sehne schnellte zurück und der Pfeil schoss davon. Er schaute ihm nach, aber er verfehlte sein Ziel. Doch Keron war ganz und gar nicht entmutigt. Er ließ den Bogen sinken und Will begann lauthals zu lachen. „Na, das war aber ein Volltreffer!“, brachte er zwischen seinem Gelächter hervor. Keron lächelte ebenfalls, nahm allerdings sonst keine Notiz von seinem Freund, der sich über ihn lustig machte. Er starrte mit Begeisterung auf seinen Bogen, nahm gleich einen neuen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn an. „Dieses Mal werde ich treffen.“ Er spannte die Sehne, zielte und schoss. Keron wusste schon beim Loslassen, dass er den Baum dieses Mal treffen würde und schaute dem Pfeil nach, wie seine Spitze mit einem leisen Geräusch in den Holzstamm eindrang. Sein Pfeil war gut einen Meter unter dem von Nicolas, aber er fühlte sich, als hätte er nie etwas Besseres in seinem Leben vollbracht. Erst jetzt merkte er, dass Wills Gelächter verstummt war, er auf seinen Pfeil starrte und Nicolas anerkennend in die Hände klatschte. Nach Kerons geglücktem Versuch erwachte Wills Ehrgeiz und er versuchte ebenfalls einen der Bäume zu treffen, allerdings verfehlte sein erster Versuch das Ziel und auch sein zweiter Pfeil landete gut zwei Meter neben dem Baum, den er eigentlich treffen wollte. Nach den vielen Niederlagen, die Keron gegen Will im Schleichen hinnehmen musste, war es ein Gefühl der Genugtuung für Keron, dass er in etwas besser war als sein Freund. Doch tief im Inneren befürchtete ein Teil von ihm, dass Will es nicht gut finden würde, dass Keron besser war. Bis jetzt war Will ihm sowohl beim Schwertkampf als auch im Schleichen etwas voraus. Er wusste nicht, was für Auswirkungen es auf ihre Freundschaft haben würde, wenn er nun in etwas besser war als Will. Doch Keron fand bald heraus, dass seine Sorgen unbegründet waren. Nachdem die beiden ihre sechs Pfeile verschossen hatten und Will noch immer keinen Baum getroffen hatte, mussten sie ihre Pfeile wieder aufsammeln. Keron hatte mit seinen nächsten beiden Schüssen wieder nicht getroffen, aber die letzten zwei Pfeile blieben im Holz stecken. Es dauerte nicht lange und ihre Pfeile befanden sich wieder sicher in ihren Köchern.

„Wie stellst du es an, dass du die Bäume triffst“, fragte Will Keron, während sie zu Nicolas zurückgingen.

„Hmmm … Ich bin nicht sicher, wie ich dir diese Frage beantworten soll. Du hast mir gestern erzählt, wie du dich gefühlt hast, als du das erste Mal diesen Dolch in den Händen gehalten hast und ich glaube, dass ich so etwas Ähnliches auch gespürt habe. Es fühlte sich einfach richtig an und ich ließ den Pfeil los. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

„Nicht so ganz, aber es ist ja auch nicht so wichtig. Du wirst schon sehen. In höchstens einer Woche werde ich schon genauso gut sein wie du“, fügte Will hinzu und lächelte Keron schelmisch an, der das Lächeln herausfordernd erwiderte.

Sie übten den ganzen Tag voller Begeisterung weiter, bis die Bäume, auf die sie zielten, schon lange Schatten warfen. Will und Keron kamen ein weiteres Mal vom Aufsammeln ihrer Pfeile zurück, als Nicolas ihnen mitteilte, dass sie zur Hütte zurückkehren. Die beiden schulterten ihre Bögen und trotteten erschöpft hinter Nicolas her. Erst jetzt merkte Keron, wie hungrig und müde er wirklich war und konnte das Abendessen kaum noch erwarten. Für den Rückweg brauchten sie bei weitem nicht so lange wie am Vormittag, weil sie schneller gingen und Nicolas ihnen beichtete, dass er sie eine Zeit lang im Kreis und dann in eine ganz andere Richtung geführt hatte, bevor er den Weg zur Lichtung einschlug. In Wirklichkeit dauerte es zu Fuß nur ungefähr eine halbe Stunde, um von der Hütte zur Lichtung zu gelangen. Doch sowohl Keron als auch Will waren viel zu müde, um sich über ihre überflüssig lange Jagd am Anfang des Tages zu beschweren. Bevor die beiden die Hütte betraten, wuschen sie ihre Hände und ihr Gesicht in dem kleinen Weiher. Das kühle Wasser fühlte sich einfach wundervoll auf ihren schmerzenden Armen an. Danach stürzten sie sich auf das Essen und, da Nicolas sie an diesem Abend vom Abwaschen der Teller im Weiher befreite, zogen sie sich in ihr Zimmer zurück und legten sich in ihre Betten.

Es war noch nicht ganz dunkel geworden. Keron lag in seinem Bett und versuchte einzuschlafen. In Gedanken ging er die letzten Tage in seinem Kopf noch einmal durch, seit sie bei der Hütte angekommen waren. „Es waren die anstrengendsten Tage meines Lebens, aber habe ich mir nicht genau das gewünscht? Zu lernen, wie man kämpft, und neue Orte kennenzulernen? Nein, das ist nicht, was ich wollte, es ist noch besser, weil Will auch noch da ist, der mich anspornt und die Schmerzen des harten Trainings mit mir durchsteht. Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich einmal ein Reichsschütze werden könnte.“ Während Keron noch über seinen besten Schuss und dieses Gefühl, das er bei seinem ersten Treffer verspürt hatte, nachdachte, versank er langsam, ohne es recht zu merken, ins Reich des Schlafes.

Die nächsten Tage verbrachten sie wie schon die Tage zuvor. Am Vormittag gingen sie zu der Lichtung und übten den Schwertkampf und das Bogenschießen und am Nachmittag machten sie verschiedene Dinge: Sie studierten weiterhin die Karten des Reiches, erledigten häusliche Pflichten, wie zum Beispiel das Säubern ihrer Zimmer, den Abwasch oder sie versorgten die Pferde. Außerdem begann Nicolas ihnen die Umgangsformen bei Hofe beizubringen. Seiner Meinung nach war es eines der wichtigsten Dinge, die sie bei ihm lernen würden, weil man immer wissen sollte, wem man gegenüberstand und wie man diese Person zu behandeln hatte. Keron auf der anderen Seite empfand es als todlangweilig, die Stammbäume der wichtigsten Familien von Ryloven auswendig zu lernen. Er hatte zwar schon einiges über die Verhaltensweisen bei Hofe von Sir Francis gelernt, aber er empfand die vielen verschiedenen Dinge, auf die man laut Nicolas achtgeben musste, verwirrend und viele waren in seinen Augen einfach unnötig. Keron wäre viel lieber auf der Lichtung gewesen und hätte weiter trainiert. Aber Will und Keron lernten eines ganz schnell. Umso mehr sich die beiden beschwerten, umso länger verbrachten sie damit Zeit, langweilige Verhaltensregeln und Stammbäume zu studieren.

Ihre Muskeln schmerzten zwar immer noch jeden Abend, doch es war bei weitem nicht mehr so schlimm wie am Anfang ihrer Ausbildung. Das Merkwürdige war nur, dass Will auch in der Früh noch leichte Schmerzen hatte, wohingegen Keron am nächsten Morgen überhaupt keinen Schmerz mehr verspürte. Als Will ihn schon das zwanzigste Mal deswegen verfluchte, konnte Keron sich immer noch keinen Reim darauf machen, warum er sich so viel schneller als Will von den Strapazen erholte.

Als Junge war er einmal vom Pferd gestürzt und hatte einen tiefen Schnitt am Unterarm davongetragen, aber am nächsten Tag konnte man nur noch eine feine Narbe erkennen. Ein anderes Mal war er schrecklich krank geworden und der Arzt, den seine Eltern geholt hatten, meinte, dass er noch mindestens zehn Tage das Bett hüten müsse. Nach drei Tagen jedoch, als der Arzt wiederkam und Keron wieder vollkommen gesund war, war dieser verblüfft gewesen und gab zu, dass er so etwas noch nie erlebt hätte. Am Anfang hatte es Keron noch brennend interessiert, warum er schneller heilte als andere, aber da niemand eine plausible Antwort darauf hatte, gab er das Thema schließlich auf und freute sich einfach.

Keron fand, dass das Training gut lief. Er machte spürbare Fortschritte im Bogenschießen und traf den Baum, auf den er zielte, so gut wie immer. Allerdings schaffte er es noch nicht, dass der Pfeil genau dort einschlug, wo er es wollte. Sein Ehrgeiz verlangte von ihm unbedingt noch besser zu werden und er zweifelte nicht daran, dass er es auch schaffen würde.

Ryloven

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