Читать книгу Thailand ohne Wiederkehr - Manuela Garbini Kuhn - Страница 4
Unverbesserlich
ОглавлениеPaul Meister gehörte zu jenen Menschen, die innerlich keine Ruhe fanden. Ausgerechnet er, ein im Grunde genommen einfacher und sensibler Mann, der sehr bescheiden lebte und für die Familie stets sein Möglichstes tat, suchte in der Ferne die grosse, weite Freiheit. Auch seinem sozialen Umfeld hatte er schon oft seine Hilfe und Unterstützung angeboten, bis er dabei sogar beinahe sein letztes Hemd verschenkt hätte. Doch Thailand liess er sich von niemandem nehmen!
Schon lange hatte er in seinen Gedanken seine nächste Reise dorthin geplant und so war er bereits im Spätherbst zur Tat geschritten und hatte voller Vorfreude seinen Flugschein bestellt. Durch die frühe Buchung hatte er sich einen ange- nehmen Sitzplatz am Fenster gesichert. In gewisser Hinsicht war der Herr doch ein wenig eitel. Aber er hatte eben lieber auf Nummer sicher gehen wollen, damit sein Flug so komfor- tabel wie möglich ablief.
Zudem benötigte er ein Visum bei der entsprechenden Botschaft in der Schweiz, welches er ebenfalls frühzeitig beantragen musste. Die Aufenthaltsgenehmigung war jeweils für drei Monate gültig und die gedachte er auch voll auszuschöpfen und seine treue Familie über die kalte Jahreszeit allein zurück- zulassen. Der Hauptgrund seiner Reise war nämlich inzwischen seine Vorliebe für das feuchtwarme Klima geworden, welches Paul Meister aufgrund seiner Lungenkrankheit besser bekam als die kalte trockene Winterluft zu Hause in der Schweiz. Allein wegen der Lebensweise im thailändischen Alltag hätte Paul bestimmt nicht verreisen müssen. Denn in seinem geliebten Bang Lamung, in der Nähe von Pattaya, lebte er in ganz ähnlichem Stil wie zu Hause in St. Gallen. Er mietete sich stets in ein gut gepflegtes Hotel ein, in dem das geräumige Appartement beinahe alles bot, was er täglich zum Leben brauchte. Selbst ein Fernseher stand dort auf einem kleinen Holztischchen und wartete darauf, sein Programm ausstrahlen zu dürfen. Weil er das Hotelzimmer über einen längeren Zeitraum buchte, konnte er stets den Mietpreis problemlos auf den niedrigsten Tarif herunterhandeln und sich so einen preiswerten Aufenthalt sichern. Pauls Ansprüche waren dabei eher bescheiden und alles, was er über die Jahre nicht im Hotel bereits hinterlegt hatte, nahm er in seinem Gepäck mit auf die Reise. Das galt vor allem für seine komplette Computer-Ausrüstung mit allem nötigen Zubehör, die un- möglich fehlen durfte. Im Hotel hatte er bereits einen Video- recorder deponiert, auf dem er an einsamen Abenden seine alten Lieblingsfilme wie Western und Mafiastreifen abspielen konnte.
Als Fortbewegungsmittel mietete er sich vor Ort stets einen komfortablen Roller. Den platzierte er unmittelbar vor dem Hotel. So musste er nie weit zu Fuss gehen. Das war für ihn das Angenehmste, denn ohne sein Gefährt wäre er nicht mehr weit gekommen. Seine Lungenkapazität war seit längerer Zeit auf ein absolutes Minimum zusammengeschrumpft, sodass er selbst dann auf seinen Roller steigen musste, wenn die Distanz zum nächsten Restaurant oder Ausflugsort nur zwanzig Meter betrug.
Seine Bescheidenheit war dabei äusserst bemerkenswert. Obwohl er sich diesen längeren (Kur-)Aufenthalt leistete, rechnete er täglich jeden thailändischen Bath ab. Er führte dabei eine Art Haushaltsbuch und notierte von Hand jede Ausgabe peinlichst genau in einem Notizbuch. Sobald er seine Tagesausgaben auch nur geringfügig überschritten hatte, schränkte er sich am nächsten Tag umso mehr wieder ein.
Mitunter kam es vor, dass Paul abends ausging und dabei zu tief ins Whiskyglas schaute. Dies war verlockend, da der heimische Whisky namens Mekong in Thailand sehr günstig zu bekommen war. Wenn er jedoch zu viel ausgegeben hatte, verkniff er sich auch dieses Vergnügen.
Der grösste Verzicht für diesen Mann bedeutete allerdings, sich morgens zum Frühstück keinen gut gebratenen Speck mit Eiern mehr zu leisten, auch wenn es für ihn sicher besser gewesen wäre, sein Gewicht zu reduzieren. Abgesehen von seinem runden Bauch konnte er für sein gesetztes Alter immer noch eine gute Figur vorweisen. Doch der dicke Bauch drückte ihm immer mehr auf die Lunge, was ihm das Atmen zunehmend erschwerte. Wie die meisten anderen Menschen auch konnte er jedoch kaum auf seine kleinen Sünden und lasterhaften Bedürfnisse verzichten. Natürlich war es nicht leicht, den süssen Genüssen zu widerstehen. Der Verstand ver- suchte zwar meist vernünftig zu sein, doch oft genug standen einem die lästigen Erbanlagen im Weg, die das eigene Handeln ins Gegenteil verkehrten – und das nicht nur beim Essen. Die Gene waren einfach nicht zu kontrollieren! Doch welchen Wert hatte schon das Leben ohne Laster und Genüsse? Wahrscheinlich wäre es stinklangweilig!
Immerhin hatte Paul das Rauchen aufgegeben, eine beachtliche Leistung, die er seiner Gesundheit zuliebe bereits vor Jahren erbracht hatte. Dabei wusste er genau, dass er keine einzige Zigarette mehr anzünden durfte, weil er sonst sofort wieder mit dem Rauchen beginnen würde. Doch er hatte es tatsächlich geschafft, die Finger davon zu lassen. Dieser Kraftakt tat ihm zwar gut, genügte aber nicht mehr, um seinen Gesund- heitszustand merklich zu verbessern. Seine Krankheit war bereits zu weit fortgeschritten und so gab es nichts mehr, was ihm wirklich helfen konnte. Normal zu atmen fiel ihm zusehends schwerer.
Gerade deshalb waren wohl auch die anderen kleinen Sünden so unverzichtbar für ihn. «Etwas Feines braucht der Mensch», pflegte Paul zu sagen und so konnte ihn selbst sein miserabler Gesundheitszustand am Ende nie davon abhalten, sich wenigstens seinen gebratenen Speck mit Eiern zu gönnen. Er machte sich deswegen jedenfalls weit weniger Sorgen, als sein beunruhigtes Umfeld. Dieser eigenwillige, sture Herr wollte eben leben, wie es ihm gerade passte. Ohne grosses Wenn und Aber und ohne ständig Rücksicht auf seine Gesundheit nehmen zu müssen. Einfach so, aus dem Bauch heraus! Diese Einstellung war aber nicht zum Nulltarif zu haben und so war zum Beispiel eine steile Wanderung den Berg hinauf für ihn nicht mehr zu bewältigen. Dazu fehlte ihm eindeutig der nötige Atem.
Was den alten Herrn – wie ihn seine Frau immer nannte – deshalb inzwischen am meisten erfreute, war, mit seinem Moped durch die Gegend zu fahren. Er wollte die traumhafte Landschaft in Thailand voll auskundschaften. Alles in der Umgebung entdecken, was es Neues zu sehen gab. Ab und zu genehmigte er sich irgendwo auf dem Weg ein Getränk als Erfrischung, doch nahm er während des Tages nur Limonade zu sich. Einerseits hatte er dies mit sich selbst so abgemacht, andererseits war er ja im Verkehr unterwegs und da verhielt er sich stets konsequent, rücksichtsvoll und vorbildlich gegen- über seinen Mitmenschen. Das war nicht immer so gewesen. Ansonsten verbrachte er seine Tage und Abende in Thailand auf seinem Hotelzimmer mit Lesen und Surfen im Internet, spielte Karten am Computer und las Zeitung. Oder er schrieb seinen Liebsten per E-Mail einen Brief nach Hause. Bis auf die Ausflüge in die Umgebung hätte er also genauso gut auch zu Hause bleiben können. Aber nein, was sich dieser Dick- schädel einmal vorgenommen hatte, das zog er in der Regel ohne grosse Fragen auch durch. Allein schon aufgrund seiner Sturheit hätte ihn niemand von seinem Vorhaben abbringen können, jedes Jahr den Winter über erneut in sein geliebtes Thailand zu reisen. Dies war sein fester Entschluss und sein unbändiger Drang nach Leben und Freiheit, ja, dieser unstill- bare Lebenshunger war für seine Nächsten kaum auszu- halten. Was für ein rastloser Mann! Ständig unterwegs, auf der Suche nach sich selbst und nach immer Neuem. Der pure Wahnsinn!
Doch da war er nicht der Einzige. In den 60er-Jahren war es üblich, dass Frauen und Männer früh heirateten und Kinder zur Welt brachten. So mussten sich viel zu junge Eltern sehr schnell einer grossen Verantwortung stellen. Dabei verhielten sich die meisten noch selbst wie Kinder. Viele schwache und labile Menschen waren dieser Aufgabe gar nicht gewachsen. Manche entwickelten eine Sucht und stürzten ab, andere liessen ihre Familien im Stich. Der Überlebenskampf wurde für viele immer härter. Finanziell schwach Gestellten erging es meist schlecht, weil sie es viel schwerer im Leben hatten als Leute aus «gutem Hause». Frauen waren damals zudem sehr ab- hängig von ihren Ehegatten und hatten selten die Möglichkeit, sich aus einer misslichen Lage zu befreien. Abhängige Mütter mussten sich von ihren Ehemännern beinahe alles gefallen lassen. Sie wurden oftmals gedemütigt, schlecht behandelt, manchmal sogar misshandelt und geschlagen. Und zuletzt sogar im Stich gelassen. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen.
So begann die Zeit, da Frauen sich immer mehr zur Wehr setzten. Sie lernten, sich unabhängig zu machen, und ver- suchten, immer selbständiger zu werden. Starke Frauen brauchte das Land. Und so ist es auch heute noch!
Ob das Leben durch die sich einschleichende Emanzipation einfacher geworden ist, sei dahin gestellt. Die Kehrseite dieser Entwicklung war jedenfalls, dass Mütter ihre Kinder nun oftmals selbst ihrem Schicksal überliessen, indem sie sich in die Arbeitswelt stürzten, um sich selbst zu behaupten. Und so musste für ein wenig mehr Wohlstand das Familienleben arg leiden. Niemand fand mehr genug Zeit, sich dem zu widmen, was im Grunde wirklich wichtig war – den zwischenmenschlichen Beziehungen. Obwohl der Lebensstandard zusehends stieg, waren viele Menschen nicht in der Lage, dem zunehmenden Druck, den diese Veränderungen mit sich brachten, standzuhalten. Immer mehr kapitulierten und landeten am Ende meist im Elend. – Was für ein Drama! Die drastischen Veränderungen in den 70er- und 80er-Jahren führten die Menschheit schliesslich noch in eine andere furchtbare Misere. In dieser Zeit begannen viele europäische Männer zum Vergnügen ins ferne Asien zu reisen. Sie gingen von zu Hause weg, um in den armen Entwicklungsländern das zu bekommen, was ihnen daheim angeblich vorenthalten wurde. Aber geschah das wirklich nur aus diesem Grund oder war es nicht viel mehr eine Flucht vor sich selbst und der Verantwortung für seine Angehörigen?
Sicherlich trug auch der zunehmende Wohlstand negativ dazu bei, dass die Menschen immer egoistischer und rück- sichtsloser wurden und auf die unmöglichsten Ideen kamen. Hohe Lebensqualität definierten viele immer häufiger nur noch über den Konsum. Alles, was mit Geld zu bekommen war, erweckte Neugier. Die Unzufriedenheit wuchs von Jahr zu Jahr. Gefrustete, Einsame, Betrogene und verlorene Seelen waren stets auf der Suche nach etwas Neuem. Aber fanden sie dadurch letztlich wirklich mehr Erfüllung im Leben? Oder war es am Ende nur blosse Selbsttäuschung?
Reiche Schweizer, aber auch andere Europäer, meinten sich ihre sexuelle Freiheit in den armen Ländern erkaufen zu können. Und viele Asiaten glaubten im Gegenzug an ein besseres Leben in Europa. So begann sich die Welt langsam
zu vermischen. Die Globalisierung war nicht mehr auf- zuhalten. War die Schweiz bis dahin von Einheimischen beherrscht gewesen, begann nun ein stetiger Zuzug aus Asien und Afrika. Verschiedene Kulturen und Glaubensgruppen trafen in einem modernen Land aufeinander. Die Europäer zog es mehr und mehr nach Asien. Und die Asiaten suchten irgendeinen Weg nach Europa, in der Hoffnung, hier ein Paradies auf Erden anzutreffen. Was für ein Irrtum!
Bald mussten sie erkennen, dass der Überlebenskampf im reichen Europa härter war, als sie sich je vorgestellt hatten, und oftmals führte dies unweigerlich in die Kriminalität. Ein so kleines Land wie die Schweiz war schliesslich völlig überfordert von einer so grossen Zuwandererzahl. Dies schürte eine gewisse Fremdenfeindlichkeit und schliesslich entbrannte ein erbitterter Konkurrenzkampf um Arbeits- plätze und Wohnraum.
Es war für alle nicht leicht, den richtigen Weg zu finden und eine Richtung im Leben einzuschlagen, die ein Zusammen- leben von verschiedenen Kulturen ermöglichte. Denn letzt- lich fühlt sich doch jeder dort am wohlsten, wo sein Herz hingehört. Wo sonst könnte es auch schöner und besser sein? Doch die Meinungen, Lebensansichten und Glaubensein- stellungen, die sich nun auf kleinem Raum zusammenballten, hätten unterschiedlicher nicht sein können und so war es nicht einfach, auf die Dauer Ruhe, Ausgeglichenheit und Frieden in einem so kleinen Land zu bewahren und diesen sehr sozialen und demokratischen Staat im Gleichgewicht zu halten. Eine grosse Herausforderung, der sich jeder auf seine Weise stellen musste.
J edes Leben g leich viel zählt.
J eder Mensch einen ande r n W eg wählt. J eden ein ande r es Schicksal f r eut oder quält.