Читать книгу Die Muse von Florenz - Manuela Terzi - Страница 8
Kapitel 3
ОглавлениеDer Backstein war nicht besonders. Einer von unzähligen Steinen, die unweit der Stadt zu Hunderten und Aberhunderten gebrannt wurden. Dieser Stein hatte ein ungewöhnliches Zuhause gefunden. Am Boden einer Truhe in Julianas Kammer lag er. Stummer Zeuge einer Begegnung, von der ihr sonst allwissender Vater nichts ahnte. Kein Wort war beim Morgenmahl über den gestrigen Tag und den sonderbaren Mann gefallen, dem sie den Stein verdankte. In einigen Momenten, in denen sich ihr Vater unbeobachtet gewähnt hatte, war ein dunkler Schatten über ihn geglitten, den auch Mutters Fürsorge nicht vertreiben konnte. Wie hatte sie es nur geschafft, ihren Vater nach Hause zu bringen? Die überraschende Hilfe von Darios Widersacher, diesem Roberto, verunsicherte sie. Immer wieder brannte die Erinnerung an diese schrecklichen Stunden des vergangenen Tages schmerzhaft in ihr auf. Robertos schamlose Blicke hatten sie erzürnt. Fand er Gefallen an dieser peinlichen Situation, in der sie und ihr Vater gänzlich von seiner Unterstützung abhängig gewesen waren? Er hatte die stillen Seitengassen gemieden und sie damit gezwungen, sich den hämischen Blicken der Nachbarn auszusetzen. Auf der Piazza della Signoria hatte er sich besonders viel Zeit gelassen, während Juliana gebetet hatte, dass Vaters Freunde und die meisten der Ratsmitglieder sich in die kühlen Räume des Palazzo zurückgezogen hatten und von dem ungewöhnlichen Schauspiel nichts bemerkten.
»Sie haben mit Steinen nach uns geworfen, Assunita. Mit Steinen«, flüsterte sie und schmiegte sich an die Freundin. Erleichtert, sich endlich jemandem anvertrauen zu können.
Assunita strich über Julianas Kopf, küsste sie sanft auf die Stirn. »Es sind Dummköpfe. Sie geben deinem Vater, dem notario, die Schuld für die Not.« Assunita konnte niemandem böse sein. In allem und jedem sah sie Gutes. Wäre ihr Haar hell wie Flachs und nicht dunkel, hätte man glauben können, sie wäre ein Engel. Reinen Herzens und voller Verständnis.
»Von wem sprichst du?« Juliana sah verwirrt zu ihrer Freundin hoch.
»Die Arbeiter bekommen Schuldscheine, die sie später einlösen können, wenn die cupola vollendet ist. Nicht alle Patrizier unterstützen diese Idee.«
»Die Patrizier, Mitglieder des Rats meinst du?«
»Dummchen, du kennst es nicht anders. Nicht jeder kann es sich wie dein Vater leisten, eine Büste anzufertigen, die mehr kostet, wie ein eifriger Anwalt in einem einzigen Jahr verdient. Oder in einem solch prachtvollen Haus zu wohnen.«
Juliana seufzte. Warum hatte sie ihrer Freundin bloß von dieser dummen Büste erzählt, die ein Künstler aus der Dombauhütte von ihrer Mutter anfertigen sollte? Unschlüssig hob sie die Schultern und lächelte traurig. Was verstand sie von Geld oder dem, warum Vater diese Büste anfertigen ließ? Diese Büsten und Statuen wurden zu Ehren wichtiger Persönlichkeiten geschaffen, vergeblich suchte sie nach deren Sinn. Die Aufregung um Vaters Etablissement der Künste, einen großen Saal voller Skulpturen und Statuen, die außer ihm niemand sehen durfte, verstand Juliana auch nicht. Selbst die feinsten Patrizier ließ er nicht in dieses Reich. Stundenlang verweilte er darin und trug den Schlüssel dafür an einer Kette um seinen Hals.
Juliana blickte zu der dunkel gebeizten Truhe, in der sie seit Kurzem nicht nur ihre Surcots und Unterkleider aufbewahrte. »Es ist nicht Vaters Schuld, dass sie reich sind.«
Assunita schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre dunklen Locken umhersprangen. »Einen Teil dazu hat dein Vater gewiss beigetragen. Meinst du, ich würde nicht gern in einem Palazzo wie dem euren wohnen? Dummchen! Ihr habt fließendes Wasser und die Köchin fährt euer Essen durch dieses Loch …«
»Das nennt man Fahrstuhl.« Juliana schniefte verlegen. Die beiden Mädchen waren sich so nah in ihren Gedanken, dass Juliana oftmals vergaß, aus welch einfachen Verhältnissen ihre Freundin stammte. Die Tochter des hiesigen Bäckers musste zwar nicht Not leiden, doch die Casa Serrati mit ihren kunstvollen Wandmalereien und dem kostbaren Mobiliar aus aller Welt musste ihrer Freundin einem Märchen gleich erscheinen. Umso mehr freute sie sich über Julianas abgetragene Kleider, auch wenn sich kaum Gelegenheit bot, diese auszutragen. Juliana hielt inne. Durfte sich ihre Familie glücklich schätzen? Sie dachte an den schweren Tresor, den Vater streng bewachen ließ. Oft saß er nachts neben diesem Kasten und starrte auf die schweren Ketten und Schlösser. Sie seufzte leise. Niemand sah in all dem Reichtum und der prunkvollen Casa ihre Fesseln und den goldenen Käfig, der alles von ihr fernhielt, was sie so gern erleben würde.
»Juliana?«
Längst war sie mit ihren Gedanken bei der Piazza, der Basilika und den sehnigen Händen des ungehobelten Handwerkers. Darios Anblick verfolgte sie, wenn sie ihre Augen schloss, und so tat sie, als blende sie die Sonne, um nicht Assunitas Aufmerksamkeit zu wecken. Ob die Freundin verstehen würde, was ihr selbst unerklärlich war? Sie war ein Kind für den erfahrenen Mann. Gewiss hatte er ihre kurze Begegnung längst vergessen. Juliana hingegen konnte an nichts anderes denken.
»Zeig ihn mir. Nur ein einziges Mal, bitte!«
Das hatte Assunita mehrmals gesagt, Juliana hatte das Flehen ihrer neugierigen Freundin nicht gehört. Gedankenversunken blickte sie auf die dicken Stadtmauern, die Florenz umringten. Ihre Ungeduld wuchs, der Enge des Elternhauses für ein paar Stunden zu entfliehen. Sie brannte darauf, die Stadt zu erkunden. Vielleicht begegnete sie ihrem unverhofften Retter aus dem Duomo?
»Gehen wir zu den Stadtmauern oberhalb von San Niccolò?«, fragte sie Assunita unbedarft und tat, als interessiere sie der Backstein und dessen Überbringer nicht länger. Der Wachturm von San Niccolò lag am Ufer des Arno. Er war unzählige Ellen breit. Im Schatten der Stadtmauern konnten sie sich meist unbehelligt aufhalten. Im Dickicht der silbrig glänzenden Olivenbäume entkamen sie oft der brütenden Hitze in den engen Gassen und konnten die stickigen Kleider bis über die Knie raffen. Trotz eines Regenschauers, der zumindest in der Nacht für Abkühlung gesorgt hatte, versprach der klare Morgen einen weiteren heißen Tag. Von dem Wachturm bot sich ein unvergesslicher Ausblick über die Stadt und ihren dichten Kern, dessen Herz Santa Maria del Fiore bildete. Wie prächtig die Kuppel über der Stadt thronen würde, wenn sie fertig war. Auf dem Weg zum Wachturm würden sie unweigerlich die Piazza del Duomo überschreiten, und wer weiß, vielleicht trafen sie wahrhaftig Dario.
Juliana wandte sich fragend um. Assunita kniete bereits mit einem erwartungsvollen Lächeln vor der geöffneten Truhe. Kaum hatte Juliana zustimmend genickt, glitten die Hände ihrer Freundin unter den sorgsam gefalteten Stapel Kleider.
»Ich verstehe nicht, was es damit auf sich hat.« Assunita betrachtete den Backstein belustigt von allen Seiten, dann sah sie bestürzt auf ihre rot gefärbten Hände. »Vielleicht möchte er dich einladen, gemeinsam mit ihm die cupola zu bauen?« Kaum hatte sie das gesagt, bekreuzigte sie sich und senkte den Blick. »Verzeih. Was auch immer diesen Mann dazu bewogen haben mag.«
Juliana horchte auf. »Kennst du Dario?«
»Das ist nicht möglich. Er ist geizig und eigenbrötlerisch, aber verschwenderisch im Verteilen fremder Geldscheine.« Assunita sog überrascht die Luft ein. »Dario gab dir diesen Backstein? Niemals hätte er dir erlaubt, dich dem Modell zu nähern. Er ist gefühlskalt und rau, der Freund deines capomaestro.«
»Sein Freund, sagst du?« Juliana schüttelte ungläubig den Kopf. Auch mochte Dario vieles sein, gewiss nicht gefühlskalt. Sie lächelte verträumt. Die Leidenschaft, mit der er das Modell und sie vor Roberto beschützt hatte, verriet, dass Assunitas Behauptungen nicht zutrafen. Sie hätte nicht gewagt, sich nach dem Mann zu erkundigen, der offenbar ein Vertrauter des capomaestro war, und ausgerechnet Assunita wusste, was es mit ihm auf sich hatte? Angespannt wartete sie darauf, dass Assunita weitersprach.
Um den Mund ihrer Freundin zeichnete sich ein sanftes Lächeln ab. »Du hast keine Vorstellung! Viele Männer rühmen sich, an der Seite Brunelleschis helfen zu dürfen, die Kuppel zu bauen!« Sie genoss Julianas Ungeduld, dann lachte sie lauthals auf. »Ich habe eine Idee, allerdings musst du all deinen Mut zusammennehmen.«
»Niemals, Assunita! Ich kann Vater nicht fragen, ob er ihn kennt! Dann müsste ich ihm beichten, dass ich Dario so nah war.« Dario, nahe. Sie hielt inne. Es klang vertraut.
Sofort erntete sie furchtsame, gar bestürzte Blicke. »Juliana Serrati! Es ist hoffentlich nichts passiert, dessen du dich schämen musst, oder?«
»Was, wenn es so wäre?«, flüsterte Juliana erstickt. Ihr Herz schlug so heftig gegen die Rippen, dass es wehtat. »Assunita. Was weißt du noch über …?«
»Juliana!« Harsch erklang die Stimme ihres Vaters über die Galerie, die den Innenhof an drei Seiten umrahmte.
Beschämt blickte Juliana zur Tür, wo Maria, ihre Kinderfrau, sie rügend ansah. »Was hast du wieder angestellt?«
Hastig entriss Juliana ihrer Freundin den Backstein und legte ihn in die Truhe zurück. Ungestüm schlug sie den Deckel zu und hätte Assunita beinahe die Finger eingeklemmt. »Ich bin die Tochter meines Vaters, Maria«, gab sie leichthin zurück und warf Assunita einen besorgten Blick zu.
»Er kann dir keinen Vorwurf machen. Nicht nachdem …«, sagte Assunita.
Sich keiner und aller Schuld bewusst, wich Juliana Marias Umarmung aus und eilte über die knarrende Galerie.
»Verzeiht, Vater!«, rief sie in den Salon, wo ihr der Vater verärgert entgegensah.
»Ich dulde deine Eskapaden nicht länger, Juliana. Du bringst in meinem Arbeitszimmer die Akten durcheinander, und kaum drehe ich dir den Rücken zu, läufst du aus dem Haus.«
Verwirrt blickte Juliana ihre Mutter an. »Ich bin seit dem Morgen in meiner Kammer, Vater! Assunita ist hier.«
»Sei nicht so streng mit ihr, Ferdinando.« Dina schmiegte sich an ihren Mann und küsste ihn sanft.
Er erwiderte die Zärtlichkeiten nicht. »Es ist meine Pflicht, mich um Julianas Wohl zu sorgen.«
»Bewahrst du Juliana vor Unheil oder ist sie es, die dich beschützt? Gespottet haben sie, weil dein Kind dich heimbringen musste!«
Mit aufrechtem Rücken saß ihr Vater hinter dem mit kostbaren Schnitzereien verzierten Tisch und nickte ergeben. »Wer war dieser Mann? Ich glaube, ihn zu kennen.«
»Er heißt Roberto Ma…«
Dina unterbrach ihre Tochter. »Wie auch immer, du hast Juliana gerufen, mein Lieber. Was wolltest du denn?« Offenbar hatte auch sie bemerkt, dass seine Gedanken in eine weit entfernte Welt glitten.
Nachdem ihre Mutter ihn ermahnt hatte, sah er auf und fand in die Casa Serrati zurück. »Geh, bevor ich etwas sage, das mir leidtut. Geh mit Assunita raus. Das wolltest du fragen, nicht wahr?«
Juliana brachte ein klägliches Nicken zustande. Zu bitter schmeckte ihr Triumph, geboren auf ihres Vaters Niederlage.
»Danke, Vater, ich sage es gleich Assunita!«, presste sie hervor. Aus dem Schatten der Galerie sah sie zurück. Vaters Gesicht neigte sich verzerrt nach oben. Was quälte ihn nur, dass er die Sorge um ihr Wohlbefinden neuerdings so übertrieb?
*
Juliana seufzte. Ungeduldig blickte sie auf die Via Porta Rossa zurück, wo Assunita zögernd stehen geblieben war. »Wenn du Angst hast, das Gebet zu verpassen, dann bleib hier, Assunita.« Da Vater ihr erlaubt hatte, die Casa zu verlassen, konnte Juliana es kaum erwarten, durch die Straßen zu laufen und die Neuigkeiten, die man sich über Brunelleschi erzählte, selbst zu erfahren.
»Sie läuft dir nicht davon, diese Kuppel«, murmelte Assunita verärgert, aber ihre treue Begleiterin folgte Juliana, wie sie es immer tat.
Das vom nächtlichen Regen dunkel gefärbte Mauerwerk der Casa Serrati wirkte bedrohlicher als die Strafpredigt, die Juliana erwartete, wenn ihr Vater von ihrem wahren Ziel erfahren würde. Verträumt stellte sie sich vor, mit Dario am Arno entlang zu streifen, bis die Abendglocken mahnten, die Porta al Prato zu passieren, bevor das Tor über Nacht geschlossen wurde. Allein die Vorstellung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn, dabei regierte kühlender Schatten zwischen den Zinnen der Geschlechtertürme. Bald schon würde die Hitze ihr blondes Haar kräuseln. Unwillig schüttelte sie den Kopf, weil Assunita erneut ihr Tempo verlangsamte und vor dem sechseckigen Turm der Badia stehen blieb.
»Ich kann nicht so schnell, Juliana«, jammerte sie.
»Komm weiter!« Die Erwartung spornte Juliana an. So sehr, dass sie kaum dazu kam, sich um die Freundin zu sorgen, die neuerdings öfter seltsam bleich im Gesicht und rasch außer Atem war.
»Man hat ihn wieder aus der Sitzung geworfen!«, rief Assunita wohl in der Hoffnung auf eine kurze Pause bei einem Brunnen.
»Brunelleschi?« Juliana vergaß, dass sie ihre Freundin antreiben wollte, worauf Assunita schmollte und weiterging.
»Die Kuppel. Immer nur diese Kuppel. Kaum erwähne ich sie oder den capomaestro, ist mir deine Aufmerksamkeit sicher. Hast du nicht von der neuen Fehde gehört?«
Just in diesem Moment passierten die beiden Mädchen den Bargello. Hier fanden die Sitzungen der Priori delle Arti statt, eines Teils der Signoria. In den tiefer gelegenen Kellerverliesen darbten die Gefangenen, die von goldglänzenden Gulden, Licht und Sonne nur träumen konnten. Juliana schluckte. Wenn der capomaestro seinen Zorn nicht mäßigte, landete er im Gefängnis, und was passierte dann mit dem Bau der Kuppel? Und Vater? Auch ihn warnten seine Freunde, dass sein Jähzorn ein böses Ende finden könnte.
Nein, heute wollte sie nichts von Fehden hören oder gar Trübsal blasen, wo ihr Bernardo am Morgen nach dem Frühstück von einer neuen Lieferung Marmor berichtet hatte. Erst gestern waren schwere Karren durch die Gassen gepoltert. Schwer beladen mit frisch gebrannten Ziegeln, Tausende und Abertausende, die Woche für Woche hergebracht wurden. Einen Teil davon brannten die Arbeiter in der Via Ghibellina. Sie kamen mit dem kleinen Brennofen kaum hinterher, die Backsteine waren schneller verputzt als geliefert. Sie dachte an den, der in der Truhe in ihrer Kammer lag und sie stetig an den Mann erinnerte, der ihr dieses ungewöhnliche Geschenk gemacht hatte. Ihr Herz schlug schneller.
»Kaum endet eine Fehde, beginnt eine neue«, meinte Juliana daher geistesabwesend und überging die Frage ihrer Freundin. Die Streitigkeiten der großen Familienclans, der Lippi und Baretti, Catalani und Medici, interessierten sie nur, wenn sie mit der Arbeit ihres Vaters zu tun hatten. Gelegentlich bedurften solche Lappalien und größere Zwiste eines notario. Viel spannender war für Juliana, was auf den Baustellen zwischen der Via dell’Oriuolo und der Via dei Servi vor sich ging. »Hörst du, Assunita? Sie arbeiten wieder.« Sie genoss den Klang des gleichmäßigen Aufeinandertreffens von Äxten und Holz.
Kaum eine Straße konnten sie nahe der Piazza del Duomo durchqueren, ohne auf Arbeiter oder unvollendete Baustellen zu treffen. Brunelleschis Absicht forderte wohl auch den Ehrgeiz anderer heraus. An den Hauswänden, mehrere Braccia hoch gestapelt, ließen Bretter und Backsteine die Gassen so beengt werden, dass die Fuhrwerke kaum hindurchpassten. An der Zahl der Wagen und Händler, die bereits die Stadttore passiert hatten und zum mercato fuhren, ahnte Juliana, dass sie viel Zeit vergeudet hatten. Warum musste Assunita über die Via del Colomero laufen, wo andere Abzweigungen viel leichter zu passieren wären?
»Schneller!«, rief sie Assunita ungeduldig zu.
»Nicht mal Brunelleschi treibt seine Ochsen so an! Du bist ihm nicht unähnlich. Verbohrt.«
»Ochsen? Die ließe man nicht in die Kirche.« Juliana lachte, verlangsamte ihre Schritte aber kaum.
»Der capomaestro hat Maschinen erfunden, an denen Ochsen stundenlang im Kreis laufen. Da staunst du, was?«, erklärte Assunita erhobenen Hauptes. Sie genoss es, Julianas Neugier geweckt zu haben. »Der Mann sitzt ganze Nächte über Plänen und baut Maschinen, die niemand zuvor gekannt hat.«
Juliana hatte davon bislang nur gehört, denn bei ihrem kurzen Ausflug mit Vater war ihr dieser Anblick verborgen geblieben. »Da siehst du es wieder, Assunita! Ochsen! Es kommen so viele Gelehrte in unsere Stadt, die sehen wollen, was Brunelleschi erschaffen will. Überall wird gebaut. Gelehrt. Und du sagst das, als wären solche Apparate das Gewöhnlichste auf der Welt.« Sie dachte an das Modell, das sie gesehen hatte. »Brunelleschi wird zeigen, dass seine Kuppel kein Hirngespinst ist.«
»Siehst du, verbohrt!« Assunita schnaufte heftig, denn Julianas Schritte wurden größer und gewannen an Tempo, je näher sie der Piazza del Duomo kamen. Vor einem kleinen Brunnen blieb Assunita erschöpft stehen. »Genug! Ich will nicht länger in der Hitze herumlaufen.«
Juliana blinzelte. Nicht mehr lange, dann waren sie endlich am Ziel. Assunita durfte ihre Pläne nicht zunichtemachen. Juliana konnte ihre Ungeduld kaum noch zügeln. »Wir könnten uns später Abkühlung gönnen«, sagte sie flehend.
»An unserem Platz hinter der letzten Brücke? Oder unter der Ponte Vecchio?« Assunita lächelte. »Zwischen den Abfällen?«
»Ein Stück weiter oben, wenn du die Stelle nicht wieder verrätst.«
»Was passiert, wenn uns jemand dabei ertappt?«
»Was passiert, wenn du so fett wie unsere Köchin wirst? Bei Gott.«
Assunitas Lächeln schwand. Erst als Juliana ihre Freundin mit kühlem Brunnenwasser bespritzte, ließ sie das Grübeln sein.
»Wir gehen später zum Fluss, wirklich.« Juliana lächelte. »Bitte, Assunita!«
Mit einem lauten Seufzer erhob sich die Freundin und folgte ihr ergeben. Kurze Zeit später kicherten die beiden Mädchen und liefen eingehakt weiter. Assunita berichtete ihr vom neuesten Tratsch und Klatsch aus der elterlichen Bäckerstube. Das Lachen ihrer vertrauten Freundin bekümmerte Juliana. Assunita mochte ein schweres Los ertragen, dafür konnte sie unbedarft aus dem Haus gehen beim Brotaustragen. Wenn Assunita die Stadt verließ, war sie allein. Mit ihren Ängsten, ihren Träumen. Juliana schauderte plötzlich trotz der heißen Sonnenstrahlen, die auf ihre weiße Haut brannten.
*
»Wie kann er es wagen, mich derart zu hintergehen? Giovanni wird sich dafür erklären müssen. Antonio, setz sofort einen Brief auf.«
Der scharfe Ton in der Stimme ihres Vaters weckte Juliana am nächsten Morgen. Hastig warf sie sich ein Kleid über und schlich barfuß aus ihrer Kammer. Auf der Galerie blieb sie erstarrt stehen. Der Innenhof wirkte abweisend und bedrohlich. Wo sonst Sonnenstrahlen fächerartig den Boden in Streifen teilten, spürte sie nur eine ungewohnte Kälte. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann verstand sie. Die Fenster waren mit breiten Balken verriegelt. Der Morgensonne gelang es nicht, durchzubrechen. Die Diener wandelten mit flackernden Talglichtern umher und flüsterten, was Julianas Beklommenheit verstärkte. »Vater?«
»Lasst mich, Federico«, hörte sie die furchtsame Stimme ihrer Kinderfrau. »Großer Gott, wenn das nur gut ausgeht!«, stieß Maria entsetzt aus.
Im Zwielicht setzte Juliana vorsichtig einen Fuß vor den anderen auf der Treppe, bis sie den Innenhof erreicht hatte. »Was ist hier los? Aua!« Etwas Scharfes, Spitzes hatte sie am Handrücken getroffen.
»Juliana!« Maria schlug die Luke zum Portikus zu und versperrte Juliana mit ihrem massigen Körper den Weg.
»Federico, du alter Narr! Was hältst du auch diese vermaledeite Lanze in der Hand!«
Unmittelbar neben Juliana wurde ein Licht herangetragen. Einer Fratze gleich wirkte das Gesicht des älteren Dieners in dem unruhigen Flackern. Er beugte sich vor und besah bestürzt, was er angerichtet hatte. Julianas Haut war aufgeschürft. »Vergebt mir, Juliana.«
Mit einem dumpfen Knall prallte etwas gegen das Tor, sodass Federico und Bernardo, der inzwischen hinzugetreten war, ihre Lanzen sofort wieder hochrissen. Bestürzung verzerrte ihre Gesichtszüge. Juliana wollte die Luke öffnen und nachsehen, was draußen vor sich ging. Sie hatte die Hand schon auf dem Riegel, da hielt Federico sie im letzten Moment zurück.
»Was wollen diese Menschen?«
»Sie verlangen, Euren Vater zu sprechen«, erklärte er widerstrebend.
»Erbost sind sie, meint Ihr nicht? Warum lässt man sie dann nicht ein?«
Hinter dem Tor erhob sich ein Chor zorniger Stimmen.
»Serrati, lasst uns ein! Viva Firenze!«
Warum war Federico so nervös? Hilflos umklammerte er die Lanze und tauschte fragende Blicke mit Bernardo.
»Die Weigerung Eures Vaters, sie zu empfangen, ist der Grund für ihre Wut«, erklärte Bernardo an Federicos Stelle. Die Augen des jungen Dieners blieben an Julianas schmalen Fesseln hängen, die das zu kurze Kleid, das sie sich rasch übergezogen hatte, kaum verhüllte. Marias Räuspern brachte ihn zur Besinnung. Mit glühenden Wangen wandte Bernardo seinen Blick ab.
»Setzt den Herrn in Kenntnis, dass es an der Zeit ist«, wies Federico Maria an.
»Zeit wofür?« Julianas Blick glitt zur Luke. Bernardo durchschaute wohl ihre Absicht und senkte seine Lanze. Dicht vor ihm blieb sie stehen. »Ich bin ebenso Eure Herrin.«
»Antonio hat mich gewarnt vor Eurem Starrsinn«, murmelte der Diener, aber in seinem Gesicht zeigte sich diese Entschlossenheit nicht. Verunsichert schaute er zu Federico und zuckte ratlos mit den Schultern.
Maria seufzte tief und zog an der Hand ihres neugierigen Schützlings. »Genug jetzt, Juliana. Zieh dich an, bevor dich dein Vater so sieht.«
Juliana lächelte. Sie folgte Marias Bitte gern, denn Federico war ihr zugetan. Ihn konnte sie ausfragen, später.
Kaum kehrte sie den beiden Dienern den Rücken, hörte sie Bernardo leise fluchen. »Das kommt davon, wenn man Unrecht zu Recht erklärt.«
»Sei still«, wies Federico den jüngeren Diener barsch zurecht. »Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu richten, was unser Herr tut oder nicht.«
»Blind geworden bist du und taub. Genau wie die anderen, doch Brunelleschi …«
»Genug oder ich öffne das Tor! Dann werden sie über dich herfallen, glaub mir!«
Juliana hielt inne und ging nachdenklich in ihre Kammer zurück. Was war so schlimm, dass Vater den Menschen den Einlass verwehrte? So grauenvoll, dass er sogar eine geschwätzige Kinderfrau zum Schweigen verdammte. Maria behielt nie länger als ein paar Stunden etwas für sich. So wusste Juliana zum Beispiel auch von der geschwätzigen Kinderfrau, dass Bernardo um Angelina warb, einer Magd aus dem Haus gegenüber. Und hatte nicht auch Maria Vaters Befehl umgangen, indem sie an der Luke gestanden und hinausgesehen hatte? Warum sollte sie es ihr nicht gleichtun? Nur einen einzigen Blick hinaus wollte sie wagen.
Einem Donnerwetter gleich durchdrang in diesem Augenblick ein lautes Grollen das Haus. Die hohen Querbalken mit den spitzen Enden, die über der Eingangshalle schwebten, einst zum Trocknen der Tuche genutzt, wurden hinabgelassen, sodass die Casa Serrati im Nu einem Bollwerk glich. Niemand fand nun mehr Einlass. Einmal war das geschehen, erinnerte sich Juliana bestürzt und sah auf die Balken, die ihr den sehnlichen Ausgang versperrten. Es war damals um eine Frau aus Pisa gegangen, die ein anderer so begehrte, dass er ihrem Vater den Tod wünschte. Warum, wusste Juliana nicht. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass Vater jemals einer anderen Frau seine Liebe erklärt hätte als Dina. Beinahe wäre es dem Angreifer gelungen, ihren Vater zu töten. In letzter Sekunde hatte sich Federico vor seinen Herrn geworfen und ihm damit das Leben gerettet. Darum genoss Federico manches Privileg, dennoch blieb er ein Diener, dessen Ehre keine Vernachlässigung der Arbeit duldete.
Ein Schauer glitt über Julianas Rücken. Sie dachte an die Ereignisse zurück. Ein Toter war offenbar dennoch zu beklagen gewesen in jener Nacht, über die Maria trotz Julianas neugierigen Fragen bis heute eisern schwieg. Ein einziges Mal nur hatte Juliana es gewagt, ihre Mutter zu fragen, worauf diese in Tränen ausgebrochen war und von einem schrecklichen Ende gesprochen hatte. Niemand sprach seitdem darüber.
Was aber war heute geschehen, dass sich ihr geliebtes Heim binnen weniger Stunden in eine Festung verwandelt hatte? Die Beklommenheit, die so jäh über ihr bislang beschauliches Heim gezogen war, zwang sie, sich ein eigenes Bild zu verschaffen. Juliana war die Geheimnisse und Verbote leid. Flugs hastete sie in ihre Kammer und blickte aus dem Fenster. Einem Ameisenhaufen ähnelte die aufgewühlte Menge, die sich mittlerweile vor dem Haus versammelt hatte. Es waren nicht ein paar Menschen, die Vater zu sprechen verlangten – nein, es waren Dutzende. Die auf unbestimmte Zeit vertrösteten Männer waren aufgebracht und versuchten, gewaltsam einzudringen. So uneins sie in den Sitzungen der Signoria waren, an diesem Morgen verfolgten sie ein gemeinsames Ziel. Mit einem dicken Holzpfeiler rammten sie das Tor, über dem das Wappen der Familie Serrati hing. Immer wieder bündelten die Männer die Kräfte für einen neuen Angriff, bis das Portal an einigen Stellen zu bersten drohte. Die Erschütterungen verspürte Juliana bis in den dritten Stock hinauf.
»Antonio! Wo zum Teufel steckt er?« Die Stimme ihres Vaters überschlug sich vor Zorn und Ungeduld.
»Kommt heraus, Serrati, damit Ihr mit eigenen Augen seht, was Ihr mit Euren Verleumdungen anrichtet!«, rief einer der Männer, kaum dass Juliana einen Blick auf die Straße gewagt hatte.
»Da ist jemand!« Einer der Männer in einem roten Umhang mit goldglänzendem Wappen zeigte auf Juliana. »Macht auf! Wir wollen mit Eurem Herrn reden.«
Der Mann hielt sie offenbar für eine Magd! Empört wich Juliana zurück.
»Geh vom Fenster weg, sofort!« Maria stand keuchend neben ihr. Hilflos schwangen ihre Fäuste in der Luft umher.
»Was wollen sie von Vater? Hat es etwas mit diesem Mazaretto zu tun, diesem ungehobelten Mann vor der Basilika?« Was immer Vater mit diesem Mann zu schaffen hatte, es musste etwas Frevelhaftes sein, dass er ihn verfluchte und die Angelegenheit für solchen Aufruhr sorgte. Erneut erbebte das Haus unter den heftigen Stößen der Eindringlinge.
Maria erbleichte. »Was weißt du darüber?« Die alte Kinderfrau schien alles um sich herum vergessen zu haben. Sie umklammerte Julianas Hand und schnaufte vor Aufregung. »Es musste so kommen. Ich habe immer gesagt, dass dieser Frevel uns eines Tages einholt. Heilige Jungfrau, vergib mir.«
»Juliana, geht weg vom Fenster!« Antonio betrat ihre Kammer. Ohne um Einlass gebeten zu haben, stürzte er zum Fenster und schloss die Läden, sodass auch die kostbaren Wandmalereien mit ihrer Farbpracht dieser unerträglichen Dunkelheit zum Opfer fielen. »Ich bin es leid, Euch nachzulaufen!« Der junge Mann wirkte aufgelöst und war außer Atem.
»Vater verlangt nach Euch. Habt Ihr ihn nicht rufen gehört?«
»Antonio, warum war das Fenster offen?« Ihr Vater stand mit Zornesfalten über der Stirn im Türrahmen und fixierte seinen Gehilfen aufgebracht.
»Vater, was ist …«, begann Juliana zu fragen, doch Antonio fiel ihr ins Wort.
»Ich musste den Geheimgang nehmen, notario, sonst wäre ich eher hier gewesen. Juliana half mir, die Fenster in den oberen Etagen zu schließen.« Er warf ihr einen warnenden Blick zu, sofern sie ihn in der ungewohnten Düsternis richtig zu deuten verstand.
Die beiden Männer wollten allein sein. Rasch zogen sie sich in das Arbeitszimmer des notario zurück.
»Seid unbesorgt. Ich habe alles zu Eurer Zufriedenheit erledigt«, hörte sie noch, bevor Maria die Tür von Julianas Kammer schloss.
Antonio war erst jetzt gekommen. Das hatte Vater sicherlich gewusst. Nachdenklich blieb sie vor der Tür stehen und lauschte. Wovon sprachen sie? Sie sah Maria erwartungsvoll an, doch diese blieb unschlüssig vor der Tür stehen.
»Ihr könnt nicht alle so tun, als gäbe es diese Menschen da draußen nicht. So sprich endlich, oder soll ich Vater sagen, dass auch du durch die Luke gespäht hast?«
»Sei still. Tu einmal, was man dir sagt, ungezogenes Ding.« Mit diesen ungewohnt heftigen Worten verließ Maria die Kammer ihres Zöglings und versperrte hinter sich die Tür.
Niemals zuvor hatte Maria die Tür abgeschlossen. Wütend riss Juliana an dem Knauf. »Ich werde nicht aufhören zu fragen. Auch wenn du mich einsperrst, hörst du?«
Ein harter Schlag gegen das dunkel gebeizte Holz der Tür brachte Juliana zum Verstummen. Verzagt wich sie zurück und setzte sich mit dem Rücken zur Tür, in der Hoffnung, dass Maria bald zurückkäme. Nach einer Weile kauerte sie sich auf den kühlen Boden und entzündete ein Talglicht. Im fahlen Schein begann sie leise zu beten. Es gelang ihr nicht, sich Gott zu öffnen wie an anderen Tagen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab.
Der Tag zog sich hin und ließ Juliana Zeit, über die cupola und ihre Begegnung mit Dario nachzudenken, diesem ungehobelten Handlanger Brunelleschis. Was würde sie ihm sagen, wenn sie ihm begegnete? Vielleicht freute er sich, sie zu sehen.
War die Meute vor dem Haus erschöpft? Die aufgebrachten Rufe waren inzwischen verstummt, denn sie hörte den Glockenschlag der nahen Basilika. Angestrengt lauschte sie an der Tür. Schwere Schritte hallten auf dem ersten Treppenabsatz, nicht die vertrauten Schritte ihres Vaters, sondern die eines Fremden. Galt ihm vielleicht der Zorn der Menschen? Gewährte Vater ihm heimlich Zuflucht?
»Du schließt Frau und Kind ein, Ferdinando?«
»Du hast die unerträglich heißen Sommer in Florenz vergessen, mein Freund!« Ihr Vater lachte. Unbeschwert, als wären die letzten Stunden in der Casa Serrati nur ein böser Traum gewesen. »Es wurde Zeit, dass du kommst. Du siehst selbst, was mich dein Rat gekostet hat. Schlaflose Nächte, Angst um meine Familie. Diese Männer vor meinem Haus werden nicht eher ruhen, bis sie die Wahrheit herausfinden.«
»Es war eure Entscheidung, die Verträge zugunsten der Opera zu ändern, Ferdinando. Nun findet einen Weg, das zu klären. Zwar fand Brunelleschi bisher nie Zeit, alles zu kontrollieren, aber …«
Suchte der Fremde eine Aussprache mit Brunelleschi? Seit seinem Erscheinen mussten gut zehn weitere Männer durch den Geheimgang gekommen sein. Nur so konnte sie sich die plötzliche Anwesenheit mehrerer Männer erklären, deren Stimmen jenen ähnelten, die sie vor einigen Tagen gehört hatte, bevor die überraschenden Besucher des Hauses verwiesen worden waren. Antonio empfing sie. Nur Giovanni Baldachi fehlte.
Eifersucht durchfuhr Juliana. Warum vertraute Vater Antonio neuerdings? Und schlimmer! Alle kannten den Geheimgang und konnten ungehindert in die Casa Serrati eindringen. Nun saßen sie in der Falle, umgeben von dicken Balken, die Licht und Zuversicht aussperrten, vor geschlossenen Fenstern und mit der bangen Frage, ob das Licht des nächsten Morgens die Casa wieder durchfluten würde.
Seufzend starrte Juliana ins Halbdunkel ihrer Kammer, bis plötzlich das Talglicht flackerte. Sie hob es an und hielt ihre Hand schützend davor. Da bemerkte sie einen matten Lichtschein, der die hintere Wand ihrer Kammer teilte. Behutsam strich sie mit der Hand über die Wand und wich überrascht zurück. Ein weiterer Geheimgang? Schon drückte sie gegen die mit weichem Brokat bezogene Wand. Sie meinte, die Stimmen lauter zu hören, drückte, bis die Wand einen Gang preisgab.
»Er wird dafür büßen, was er mir und meiner Familie angetan hat!« Nach einigen Schritten vernahm sie die Stimme ihres Vaters so laut, als stünde er unmittelbar neben ihr.