Читать книгу Im Bann des Bernsteins - Manuela Tietsch - Страница 5
Die Legende
ОглавлениеDie Kinder saßen um Amber verteilt auf dem Sofa, nur Oli saß kerzengerade auf dem Sessel, um in den Fernseher zu gucken. Sie schlackerten unruhig mit den Beinen vor und zurück, waren aufgekratzt. Man sah ja auch nicht alle Tage den eigenen Großvater im Fernsehen, räumte Amber mitfühlend ein. Zwar gab es die Übertragung nur im Regionalprogramm, aber für die Kinder war auch das etwas ganz Besonderes. Becki drückte sich eng an sie, während sie mit einer Hand an ihrem Ohrläppchen spielte. Nur Nicki interessierte sich noch nicht für das ganze Schauspiel. Seine hellbraunen Locken kringelten sich um das runde, noch sehr kleinkindliche Gesicht. Seine Züge waren fein und zart.
„Wann kommt denn nun endlich Großvater?“, fragte Oli.
Amber zuckte die Schultern. „Bestimmt gleich!“
Die Ansagerin las gerade die letzten Zeilen zu dem vorangegangenen Bericht. Amber atmete erleichtert auf, als sie die Rundum-Aufnahme der Stadthalle erblickte. Endlich, sie konnte die Kinder auch kaum noch beruhigen. Die Kamera schwenkte einmal im Saal herum, zeigte die vielen Menschen, die sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen wollten, ehe sie auf dem Rednerpult hielt. Ihr Vater stand aufrecht, eine recht gute Figur machend, neben einem schlaksigen Berichterstatter, der ihm aufdringlich das Mikro in das Gesicht hielt.
„Da! Da, ist ja Großvater!“ Die Kinder stürmten auf den Bildschirm zu, als könnten sie ihren Großvater dadurch berühren und um dichter am Geschehen zu sein.
Die Kamera zog erneut eine Runde im Saal; Leon und Ellen waren einen Augenblick zu sehen, ehe sie schließlich erneut auf dem Rednerpult zum stehen kam. Oli wandte sich aufgeregt an Amber. „Hast du auch gerade Mami und Papi gesehen?“
Sie nickte bestätigend, unnützerweise, da Oli sich bereits wieder dem Bildschirm widmete.
Der Berichterstatter stellte seine erste Frage. „Herr Bürgermeister Wiederhold, wie erklären Sie sich den diesjährigen großen Ansturm auf unser jährliches Rattenfängerfest?“
Amber sah, wie ihr Vater bei dieser Frage vor Stolz fast platzte.
„Wir konnten schon seit einigen Jahren regen Zuwachs feststellen. Auch weltweit, worauf ich sehr stolz bin. Es kommt also nicht ganz überraschend für uns!“
Der Berichterstatter lächelte aufmunternd. „Dann können wir dem Rattenfänger ja sogar dankbar sein!“
Ihr Vater lachte etwas gezwungen, sie merkte, dass der Mann ihn aus der Fassung brachte.
„Und das, obwohl Ihr Vorgänger von 1284 ihm nicht einmal den versprochenen Lohn gab!“ setzte er noch hinterher.
Ihr Vater erstrahlte. Damit hatte ihm der Berichterstatter das richtige Stichwort gegeben. „Ein dunkler Fleck in Hamelns Vergangenheit! Aber heutzutage halten wir unsere Versprechen natürlich. Auch die unserer Vorgänger! Die einhundert Goldstücke liegen bereits seit vielen Jahren für den Rattenfänger bereit!“ Er freute sich ehrlich, dem Berichterstatter das erzählen zu können.
Der lachte leicht anzüglich. „Und Ihre Tochter?“
Amber hätte ihn erwürgen können. Was stellte der Kerl denn für blöde Fragen. Ihr Vater wurde rot, lachte verunsichert.
Der Mann wandte sich an die Zuschauer. „Damit beenden wir die Übertragung aus der Stadthalle zum Auftakt der Rattenfängerfestlichkeiten. Morgen senden wir live den Rattenfängerumzug, und ho...“
Amber drückte schwungvoll auf den Ausschalter der Fernbedienung. Diesen blöden Kerl wollte sie sich nicht noch länger ansehen.
Die Kinder entspannten sich sichtlich. Sina blickte sie mit Augen, treu wie die eines Hundes, an. Amber ahnte was kommen würde. Sie schaute nach draußen, es braute sich ein Gewitter zusammen.
„Bitte, erzählst du uns die Geschichte vom Rattenfänger?!“
„Ja...Bitte!“, fielen die anderen ein.
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist doch gar keine schöne Geschichte, und außerdem kennt ihr sie schon!“
„Bitteeeee.....!“
Sie wusste, sie hatte keine Gelegenheit mehr, jetzt nicht mehr, nachdem sie schon auf die Frage eingegangen war. Warum hatte sie nicht ganz einfach nur NEIN gesagt! „Na gut, ihr habt es so gewollt. Aber hinterher nicht wieder kommen, dass ihr nicht schlafen könnt, weil ihr solche Angst habt!“
Ein lauter Donnerschlag ließ die Luft erzittern. Die Kinder hüpften urplötzlich noch näher an Amber heran. Sie musste lachen, soviel zum Thema Angst. Oli, Nicki und Becki machten es sich währenddessen neben, und auf ihr gemütlich, Sina holte sich noch ein Glas Saft, dann setzte auch sie sich zu ihnen.
Amber begann gekonnt zu erzählen, denn das hatte sie als Kindergärtnerin gelernt.
„Als der Rattenfänger, namens Hans Bunting, die schöne Margret das erste Mal erblickte, war es um ihn geschehen. Er folgte ihr bis zum Hause ihres Vaters, des Bürgermeisters. Ihm war klar geworden, dass er das Herz dieser schönen jungen Frau nur erobern konnte, wenn er etwas Außergewöhnliches vollbrachte. So wollte er die Ratten vertreiben, denn das hatte bisher noch niemand geschafft. Als er jedoch vor den Ratsherren und dem Bürgermeister stand, hatte er doch ein sonderbares Gefühl im Bauch. Der Bürgermeister wollte ihm seine Tochter natürlich nicht ohne weiteres geben, und die einhundert Goldstücke erst Recht nicht. Aber was sollte der Geiz; erst einmal sehen, ob dieser Landstreicher in seinen bunten Kleidern überhaupt halten konnte, was er versprach und so sagte er zu. Der Rattenfänger machte sich am nächsten Morgen sogleich an die Arbeit. Mit seiner Zauberflöte, die ihm einst ein weiser Mann schenkte, lockte er alle Ratten aus der Stadt und in die Weser.“
Becki starrte sie mit großen Augen an. „Das war aber nicht sehr nett von ihm. Da haben die Ratten bestimmt um Hilfe gerufen.“
Amber nickte. „Ja, das haben sie wohl, aber Ratten können gut schwimmen, ganz sicher konnten sie sich retten.“
Becki strahlte wieder glücklich, damit war sie zufrieden.
Amber erzählte weiter. „Wie tobten und jubelten da die Bürger von Hameln, als endlich die Ratten fort waren. Hans Bunting sah sich das Treiben eine Weile an, ließ sich von den Bürgern feiern, ehe er in das Rathaus ging, um seinen Lohn abzuholen. Er sollte jedoch eine böse Überraschung erleben, denn das Versprechen wurde gebrochen, und noch schlimmer, man jagte ihn mit Schimpf und Schande fort. Das hätten die Leute lieber nicht tun sollen. Hans war sehr wütend. So wütend, dass er ihnen Rache schwor, und er hielt sein Wort. Am Johannistag kam er wieder. Er trug dieses Mal ein anderes Gewand und sah auch anders aus, aber es bestand kein Zweifel, dass er mit seiner Flöte seinen Lohn einklagte. Die Kinder waren wie von Sinnen, folgten ihm tanzend und singend aus der Stadt. Niemand konnte sie aufhalten. Und so verschwanden 130 Kinder, unter ihnen auch die schöne Tochter des Bürgermeisters, Margret, auf Nimmerwiedersehen, im Koppenberg. Nur ein kleiner blinder Junge und ein stummes Mädchen kamen nach vielen Wochen zurück. Doch der Blinde hatte nichts gesehen und die Stumme konnte nicht darüber reden. So erfuhr nie ein Mensch, was mit den armen Kindern geschah.“ Amber genoss die Schweigeminute, die entstand, nachdem sie ihre Geschichte beendet hatte. Jeder dachte für sich an die Legende, machte sich nach eigener Fantasie Bilder dazu. Lächelnd blickte sie auf Nicki hinunter, der mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen war.
Schließlich brach Becki, natürlich Becki, das Schweigen. „Opa hätte ihm doch den Lohn gegeben, oder?“
„Ganz bestimmt!“
Oli legte eine nachdenkliche Miene auf. „Meinst du, Opa würde dich an den Rattenfänger versprechen, wenn dieser jetzt hier wäre?“
Amber lachte. „Das läuft heutzutage Gott sei Dank etwas anders. Ich kann mir meinen Mann immer noch selber aussuchen.“
Oli war noch nicht zufrieden. „Und warum hast du noch keinen Mann?“
Amber lächelte, obwohl sie das Gefühl hatte, ihr hätte jemand einen Tiefschlag verpaßt. Warum nur mussten Kinder ihre kleinen bohrenden Finger immer genau in die tiefsten Wunden stecken?! „Ich habe eben einfach noch nicht den richtigen gefunden, mein Schatz.“ Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. „Hm, wer weiß, vielleicht warte ich einfach bis du groß bist!“ sagte sie lächelnd.
Oli strahlte über das ganze Gesicht. „Das wäre toll, dann könntest du uns immer Geschichten erzählen!“
Amber lachte. Kinderfolgerung. Sie blickte erneut durch das Fenster des Wohnzimmers nach draußen, wo sich noch immer das Gewitter austobte.
Ein dicker, gezackter Blitz durchzuckte die Nacht, gefolgt von einem lauten Donnerschlag. Sie würde die Kinder bei diesem Wetter nicht ins Bett bekommen, sie brauchte es gar nicht erst versuchen. Also blieben sie sitzen.
Als Leon und Ellen etwa eine halbe Stunde später zur Tür hereinkamen, schliefen die Kinder bereits alle auf dem Sofa, und auf Amber. Leon lachte gutmütig und Gemeinsam brachten sie die Kinder in ihre Betten. Amber ging in den Flur, sie war irgendwie müde, wollte nach Hause. Das Gewitter war weitergezogen, es gab keinen Grund mehr zu bleiben. Sie nahm ihre Tasche von der Kommode. Ihr Bruder tauchte in der Wohnzimmertür auf, während sie sich die Jacke anzog. Er sah abgespannt aus.
Amber lächelte ihn an. „Ich will los, Leon. Bin ziemlich müde.“
Er nickte. „Bist du sicher, dass ich dich nicht bringen soll?“
„Ja, ich gehe gern ein Stück zu Fuß.“
Leon gab sich noch nicht geschlagen. „Danke fürs Aufpassen! Hast du dein Handy dabei?“
„Ach Leon! Es sind noch nicht einmal fünf Minuten bis zu mir.“ Sie gab ihm einen schwesterlichen, wohlmeinenden Kuss auf die Wange.
Ellen erschien hinter Leon.
Amber winkte ab, als sie sah, dass ihre Schwägerin sie dasselbe fragen wollte wie eben Leon. „Wirklich, ich bin doch kein Kleinkind mehr. Was soll denn passieren?“
Leon lächelte entwaffnend. „Warte mal: Erstens der Himmel könnte dir auf den Kopf fallen, zweitens du könntest bis zum Mittelpunkt der Erde stürzen, drittens dir könnte wieder ein Geist begegnen.“
Zack. Das saß. Aber sie machte gute Miene zum schlechten Gefühl. „Hör endlich auf!“ Ihr fröstelte ein wenig, als sie die Haustür öffnete.
Leon versuchte sie noch einmal mit Blicken zu überzeugen.
„Leon, wenn du sehen würdest, wie müde du aussiehst, dann würdest du mir nicht vorschlagen, mich nach Hause zu bringen. Grüßt die Kinder morgen von mir.“
„Du könntest doch zum Essen kommen!“ sagte Ellen.
Amber schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt, bin ich auch mal froh, wenn ich keine Kinder sehe.“
Leon wirkte ungläubig. Er wusste, wie sehr sie Kinder und ihre Arbeit im Kindergarten liebte und wie sehr sie darunter litt, durch ihren Unfall nicht mehr fähig zu sein, eigene Kinder zu bekommen. Trotzdem nickte er.
Amber trat einen Schritt hinaus. Sie atmete die Nachgewitterluft tief ein. Lächelnd drehte sie sich zu ihrem Bruder und Ellen um. Sie umarmten sich herzlich, ehe sie weiterging. Sie hob noch einmal den Arm zum Gruß, ehe sie noch einen tiefen Zug der würzigen Luft einsog.
Leon blickte ihr einen Augenblick nachdenklich nach, derweil sie die Stufen der Treppe hinunterging, um fast wie eine Elfe vom dichten Nebel verschluckt zu werden. Er schloss die Tür.