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Die Ratten sind weg

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Laute Rufe, vermischt mit fröhlichem Gesang, weckten Amber aus ihrem unbequemen Schlaf. Zögernd ging sie ein paar Schritte bis zur Straße, um sich umzusehen.

Ein Zug von etwa fünfzehn Menschen tanzte ausgelassen an ihr vorbei. Sie benahmen sich wie toll. Und alle, wie sie mit Erschrecken feststellte, trugen mittelalterliche Kleidung. Als sie vorbei waren, wagte sie sich hinaus. Das musste es sein! Sie hatte lediglich nicht mitbekommen, dass dieses Jahr bei den Spielen die ganze Stadt beteiligt war. Was für ein Aufwand, wenn sich sogar die normalen Bürger verkleideten.

Wohl fühlte sie sich jedoch überhaupt nicht. Sie fand sich noch immer nicht zurecht, erkannte die Gegend nicht wieder. Verstört lief sie den Leuten hinterher; das schien ihr die sicherste Vorgehensweise, um wieder an übliche Menschen zu gelangen.

Immer mehr Leute sammelten sich auf den Straßen, tobten ausgelassen und fröhlich, als hätten sie wirklich etwas zu feiern. Und alle, ohne Ausnahme, bemerkte sie, waren verkleidet. Wieso hatte ihr Vater ihr denn nicht davon erzählt. Sie kam sich reichlich albern vor, so ohne Verkleidung, zwischen all den anderen. Nun ja, blieb ihr nichts übrig, als sich so unter die Touristen zu mischen, die sich die Festlichkeiten ansahen. Mißmutig folgte sie der Gruppe. Nach kurzer Zeit hielten sie vor einer Bäckerei. Sie sah, dass die Bäckersfrau Brötchen verteilte. Ein Brötchen zum Frühstück kam ihr ganz gelegen, denn ihr Magen meldete sich bereits. Sie drängte sich zwischen die Menschen.

Ihre Laune hob sich etwas, sie konnte sogar wieder lächeln; schnell erstarb ihre gute Laune jedoch wieder, als sie begriff, dass die Leute ihr bei weitem nicht so freundlich entgegentraten, wie sie ihnen. Im Gegenteil! Sie bemerkte argwöhnische Blicke, die ihr mehr als unangenehm waren. Irgendwie fühlte sie sich genötigt, etwas zu sagen.

„Ich hatte heute noch keine Gelegenheit mich zu verkleiden. Schade eigentlich, sieht ja ganz toll aus. Wie echt.“ Sie lachte erzwungen. „Man könnte wirklich meinen im Mittelalter zu sein!“

Eine junge Frau schaute beschämt zur Seite. Mein Gott, die übertrieb das Spiel aber gewaltig. Amber ärgerte sich über diese Leute. Nur weil sie heute mal alle verkleidet ausgingen, hatten sie noch lange kein Recht, sich über sie lustig zu machen, oder sich besser zu fühlen. Sie war doch nicht vom Mars! Trotz ihrer Versuche, sich selber zu bestärken, fühlte sie sich noch unwohler in ihrer Haut, als zuvor. Sie versuchte die Leute nicht zu beachten, während sie darauf wartete an der Reihe zu sein.

Die Gruppe zog endlich weiter, sie war dran. Mutig lächelte sie die wohlbeleibte Bäckersfrau an. Ihr langes Gewand schien schon seit langem nicht mehr zu passen und die ehemals weiße Schürze hatte sicher auch schon bessere Tage erlebt. Sehr einladend war ihr das ganze nicht. Aber sie hatte Hunger. Ein unangenehmes Kribbeln kroch ihren Arm hinauf.

Was, wenn die Frau ihr kein Brötchen gab? Unsicher streckte sie die Hand aus, damit die Frau sie nicht übersah. Sie versuchte den misstrauischen Blick der Bäckerin zu übersehen.

„Ich wusste gar nicht, dass dieses Jahr die ganze Stadt mitspielt!“

Die Bäckerin öffnete die Lippen, um Luft abzulassen, wobei ihr das Doppelkinn wabernd auf den Ausschnitt ihres Kleides fiel. „Sie wär wohl gar nicht von Quernhamelen?“

„Doch natürlich, deswegen wundere ich mich ja so.“

Die Frau blickte sie argwöhnisch an. „Ach Fräuleyn, s‘ ist doch wegen des Rattenpackes!“

Amber lachte angespannt, doch sie wollte das gerade in Gang kommende Gespräch nicht gefährden. „Natürlich, wie jedes Jahr.“

Die Bäckerin bediente zwischendurch drei junge Männer, die Amber höchst anzügliche Blicke zuwarfen. Sie schaute errötend zur Seite. Was zuviel war, war zuviel.

Als die Bäckersfrau sich ihr wieder widmete, wirkte sie durcheinander. „Das sey eyn guter Scherz, Fräuleyn. Wie jedes der Jahre!“ Sie lachte lauthals los. Dann unterbrach sie sich selber unvermutet. „Dem Herren sey gedanket, deret halben wir solch eyn Unglück nicht jedes der Jahre hätten.“ Ihr Blick wurde verschwörerisch.„Wenn sie mich fraget, Fräuleyn, ich wollt ihr sagen, der Mann wär eyn verfluchter Zauberer!“ Sie beugte sich weiter zu Amber hin, die Miene noch geheimnisumwitterter als zu vor. Wispernd fuhr sie fort. „Die guten Herren des Rates und unser allerbester Herr Bürgermeyster, Gott sey mit ihm, hätten ihm seynen Lohn wohl geben sollen! Denket an meyne Worte. Ihn unter Schmach und Schand aus unserer schönen Stadt zu vertreyben, das bringet nur Unglück über uns. Wo er uns doch von dem Rattenpack befreyte. Hauptsache die gefräßigen Viecher seyn fort. Ich sag ihr, dass könnt noch bös enden.“

Amber verstand die Welt nicht mehr. Unsicher beobachtete sie die Menschen, während sie sich schützend die Arme um den Oberkörper legte. Was war denn bloß geschehen? Der Mann mit den goldenen Augen konnte doch unmöglich Recht haben. Ihre Oberarme streichelnd versuchte sie ihrer Gänsehaut Herr zu werden.

Ein paar Kinder kamen auf die Bäckerei zugelaufen. Die Bäckerin gab Amber ihr Brötchen, aus grob gemahlenem Vollkornmehl, sie nickte ihr dankend zu, während sie die heranstürmenden Kinder begutachtete.

Das Schlußlicht bildete ein kleiner, lahmer Junge von etwa sechs Jahren. Seine schulterlangen, braunen Locken hingen struppig und ungepflegt um seinen Kopf. Er trug viel zu kleine, schmutzige Lumpen am Körper.

Die Bäckerin gab jedem der Kinder ein Brötchen. Sogleich stürmten sie weiter, nur der kleine lahme Junge blieb zurück. Die Bäckerin guckte ihn böse an.

„Lovis, Taugenichts! Verschwind er! Er hätt am heutigen Tage schon eynmal eyn Brötchen erhalten!“

Der Junge duckte sich unter ihren Worten, wie unter einem tanzenden Knüppel. Wie konnte die Frau nur so herzlos sein. Mit hungrigen Blicken auf die Backwaren und Auslagen wandte er sich ab, um wieder zu gehen. Amber warf der Frau einen bösen Blick zu, ehe sie den Jungen am Arm zurückhielt. Wortlos reichte sie ihm ihr Brötchen.

Lovis strahlte sie an. In seinen Augen lag Bewunderung.

Amber lächelte aufmunternd. Er trollte sich eilig, ehe sie sich anders besann.

Amber wollte ebenfalls gehen, sie hatte genug von dem Geschwätz der Frau. Genug von dem ganzen Mittelaltergetue.

Doch die Bäckerin hielt sie am Arm zurück. Sie war wirklich anmaßend. Dicht an ihr Ohr gedrängt wisperte sie. „Ich habs mit denen, meynen eygenen Augen gesehen...Wie sie ihn mit Knüppeln durch die Stadt trieben...Und ob sie‘s wollet glauben oder auch nicht, er hat den Teufel im Leybe! Keynen Laut gab er von sich. Aber dieser Blick! Der Blick, sag ich ihr, der ginget mir durch Mark und Beyn! Diese schrecklichen gelben Augen. Wolfsaugen, sag ich ihr, Fräuleyn.“

Gelbe Augen! Unwillkürlich durchlief sie ein Schauer. Sie konnte das Gerede nicht mehr ertragen. Mit sanfter Gewalt befreite sie sich aus der Umklammerung.

„Danke für das Brötchen, aber ich muß jetzt wirklich gehen.“ Ohne die Frau weiter zu beachten, entfernte sie sich schnell von diesem Ort. Hatte sie wirklich gelbe Augen gesagt? Was ging hier vor sich?

Wäre nicht alles so beängstigend, sie würde nur staunend durch die Gassen laufen. Ihr schien unmöglich, dass jemand die Stadt in einer Nacht hatte dermaßen verändern können. Selbst der größte Künstler, oder reichste Mensch der Welt konnte so etwas nicht vollbringen.

Das Pflaster, sofern es welches gab, bestand aus kleinen, wohl gesetzten Steinen. An den unbepflasterten Stellen lag Sand oder Erde, teilweise schon recht staubig durch die Sommerliche Wärme. Im Winter mussten diese Wege eine einzige, matschige Sauerei geben, spaßig nur für Kinder, die anschließend ins warme Wasser in die Wanne konnten.

Hin und wieder warf sie einen heimlichen Blick in die kleinen Fenster der Häuser. Was sie sah, beunruhigte sie allerdings im höchsten Maße, denn niemand würde seine Wohnung, nur für ein oder zwei Tage Feierlichkeiten, in dieser Form umbauen oder einrichten. Die Stuben waren eng, dunkel, mit kleinen Holzmöbeln, wie Hocker, Truhen und je einem Holztisch in der Mitte. Selten stand eine Kerze oder Öllampe auf den Tischplatten. Ihr fröstelte es. Hatte sie je schon einmal ein so echt gespieltes Mittelalter erlebt?

Nein nie, wenn sie ehrlich mit sich war. Kein Mittelaltermarkt war jemals so wirklichkeitsnah gewesen. Und immer wieder streiften sie misstrauische, oder gar anzügliche Blicke.

In einiger Entfernung lief Lovis hinter ihr her. Er wunderte sich sehr über diese seltsame Frau. Gehörte sie womöglich zu den Leuten um Hans Bunting? Er musste ihn unbedingt fragen. Hoffentlich bemerkte sie nicht, dass er ihr folgte; er war so neugierig, was sie wohl als nächstes vorhatte. Vielleicht würde sie böse werden, wenn sie ihn bemerkte. Doch sie gefiel ihm so sehr. Eine solche Frau hatte er noch nie gesehen, wenn sie auch mit ihren albern kurzgeschnittenen Haaren recht eigenartig aussah. Ebenso ihre seltsame Bekleidung; so rannte keine anständige Frau herum, und doch hatte sie ihm ihr Brötchen geschenkt, einfach so. War das denn nicht anständig? Solch eine Mutter zu haben, wäre bestimmt sehr schön!

Amber blickte verstohlen auf ihre Armbanduhr. Tatsächlich traute sie sich nicht öffentlich einen Blick darauf zu werfen, aus Angst vor den Leuten. Das blöde Ding war stehen geblieben, genau um zwölf Uhr. So ein Mist, dachte sie ärgerlich. Sie musste doch irgendwo eine Kirchturmuhr finden. Wo sie auch hinschaute, sie fand keine Uhr. In einiger Entfernung konnte sie zwar einen Turm entdecken, aber keine Uhr. Das war zu lächerlich, nach Lächeln war ihr andererseits überhaupt nicht zu Mute.

Und wenn er doch Recht hatte! Wenn, ja, wenn! Wenn es der Wahrheit entsprach, und sie sich im Mittelalter befand, dann gab es natürlich keine Kirchturmuhren. Erschöpft von den Gedanken, die sie so sehr verwirrten und vom Umherirren in der Stadt, die sie zwar als Hameln wiedererkannte, aber nicht als jenes, in dem sie aufgewachsen war, ließ sie sich ein weiteres Mal auf einem dieser eckigen Steine nieder, die an den Gassenrändern standen. Wofür die wohl waren, fragte sie sich erst, obwohl sie diese schon in der Nacht bemerkt hatte.

Müde wanderte ihr Blick über den Platz, an dessen Rand sie saß. Anscheinend war sie auf dem alten Marktplatz gelandet. Vielleicht konnte sie am Stand der Sonne die Uhrzeit erkennen? Sie schirmte die Augen mit der Hand ab, derweil sie nach oben schaute. Hm, vermutlich Mittag?

Enttäuscht über ihre eigene Unfähigkeit, ließ sie die Hand wieder sinken. Warum nur hatte sie so wenig Anteilnahme an solchen Dingen gezeigt, als sie in der Schule die Gelegenheit dazu hatte! Jetzt könnte sie davon Gebrauch machen. Hinterher war man immer klüger!

Enttäuscht ließ sie ihre Augen über den Platz wandern und entdeckte zwei Paare, die schlendernd auf sie zukamen. Nicht so schlendernd, wie sie es von den Liebespaaren ihrer Zeit gewohnt war, sondern eher im Sinne von langsam, überlegte sie.

Das war die Gelegenheit, einen Versuch wollte sie noch wagen. Entschlossen stand sie auf, um ihnen entgegen zu gehen. Die vier warfen ihr argwöhnische Blicke zu. Wieder einmal mehr fühlte sie sich unwohl in ihrer Haut, völlig fehl am Platze. „Hallo, entschuldigen sie bitte, aber könnten sie mir die Uhrzeit sagen? Und den kürzesten Weg zur nächsten Gaststätte?“

Der große Mann mit dem roten Schnauzbart und einer braunen samtenen Weste blickte abfällig auf Amber hinunter. Unter seinem Blick fühlte sie sich winzig, zerbrechlich und vollkommen nackt. Warum eigentlich dachte sie trotzig, sie hatte doch nichts verbrochen, noch etwas zu verbergen.

„Was wollte wohl so eyne wie sie im Gasthaus? Sie hätt an eynem anständigen Orte nichts zu suchen, Weyb! Geh sie zu ihres gleychen, vor die Stadt. Pack zu Pack!“

Amber spürte wie die Wut in ihr stieg. Was erlaubte sich dieser blöde Fatzke eigentlich. So höflich, wie es ihr noch möglich war, fragte sie. „Bitte?“

Der zweite Mann mischte sich ein. Er war gut einen Kopf kleiner als der andere. Seine blonden, künstlich gewellten Haare lagen perfekt um seinem Kopf, liefen in einer leichten Rolle auf der Schulter aus. Er trug ein rotes Samtkostüm, was seinen gepflegten Gesamteindruck auf andere nur verstärkte. „Gehe sie zum Armenhaus, Frau, vielleycht findet sie dort eyn Mahl und eyne Unterkunft. Dort werden sie wohl kaum eynen Unterschied zwischen eynem Bettler, oder eynem treuelosen Eheweyb machen.“

Sie konnte es nicht fassen. Was hatte der Kerl eben zu ihr gesagt, treuloses Eheweib? Sein Ton war zwar bedeutend freundlicher, als der des anderen, aber er dachte kein Stück besser von ihr. Sie blickte zu den beiden Frauen hinüber, die einige Schritte weiter weg standen, in sicherer Entfernung. Keine von beiden wagte einen Blick zu ihr. Hatte sie etwa die Pest? Sie schüttelte fassungslos den Kopf.

„Treulose Eheweiber, ihr habt sie wohl nicht mehr alle!“

Die Männer tauschten überhebliche Blicke, während die Frauen noch einen weiteren Schritt zurück wichen.

„Ich rufe sogleych nach den Bütteln, wenn sie uns weyter belästigte.“

Sie fand keine Worte mehr. Die benahmen sich ungeheuerlich, diese Kerle.

„Sie fänd das Armenhaus am Stadtrand. Und wenn ich ihr eynen guten Rat geben sollt, Frau, so bedecke sie ihr Haupthaar!“

Der größere von beiden blickte den anderen scharf an. „Herr Gerret, ich müßt mich doch schwer wundern. Was verteylet ihr noch Ratschläge, an solch eyn Pack?“

Gerret schien es nicht zu stören, dass ihn der Große rügte. Er deutete mit dem Ausgestreckten Arm, Amber den Weg nach rechts und nickte ihr tatsächlich noch aufmunternd zu.

Als er zu seiner Frau ging, um ihren Arm zu führen, hatte diese einen hochroten Kopf. Beschämt blickte sie zur Seite, als ihr Mann sich ihr zuwandte.

Amber konnte es nicht glauben. Sie blickte den vieren unangenehm berührt hinterher.

Als sie außer Sicht waren, schritt sie mutig in die angezeigte Richtung. Es dauerte allerdings noch eine ganze Weile, ehe sie durch die Gassen, die so fremd wirkten, den Weg bis zum Armenhaus fand. Ganz abseits, damit auch ja niemand sonst gestört wurde. Fast wie bei uns Zuhause, schoß es ihr durch den Kopf. Was dachte sie da, sie wollte doch nicht etwa glauben, dass sie sich in einer anderen Zeit befand!?

Im Bann des Bernsteins

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