Читать книгу Im Bann des Bernsteins - Manuela Tietsch - Страница 6
Im Nebel
ОглавлениеAmber genoß den feuchten Sommerabend. Die Luft war lau. Der Nebel zum Schneiden dick. Das Gewitter hatte die Natur schon vergessen, den Regen dankbar aufgenommen. Sie schlenderte nachdenklich weiter. Die Geschichte des Rattenfängers ging ihr nicht aus dem Sinn. Wie konnten die Leute das einfach so hinnehmen? Was war wohl wirklich geschehen im Jahre 1284? Die Hacken ihrer Sandalen hinterließen eine leise, eintönige Weise auf dem Asphalt. Eine Weile ließ sie sich von dem Geräusch dahintreiben. Hätte der damalige Bürgermeister dem Rattenfänger seinen versprochenen Lohn nur gegeben, dann wäre das Unglück doch nie geschehen. Außerdem stand es ihm zu. Sie musste über ihre Gedanken lachen. Es hieß nicht umsonst Rattenfängerlegende.
Wie schnell konnten Gerüchte in Umlauf sein, wie schnell bekam man einen guten oder auch einen schlechten Ruf! Wie auch immer, sie dankte Gott aus tiefstem Herzen, dass sie im Hier und Jetzt lebte und nicht im Mittelalter.
Sie schob gedankenverloren ihre Hand in ihre Hosentasche. Plötzlich fühlte sie den Stein wieder. Sie hatte ihn dort total vergessen. Mit einem gemischten Gefühl holte sie ihn heraus, um ihn auf der ausgestreckten Hand liegend zu betrachten. Unerwartet leuchtete er wieder. So wie heute Nachmittag, als sie und die Kinder ihn gefunden hatten. Als würde im tiefsten Inneren eine Flamme lodern. Klopfend, wie ein Herz.
Und wieder fühlte sie sich ganz eigenartig, traurig, glücklich, verloren und doch wiederum behütet. Das war zu sonderbar mit diesem Ding. Nachdem sie ihn in der Gosse hatte leuchten sehen, hatte sie alles dafür getan, um an ihn heranzukommen. Mit Mühe und Not war es Oli gelungen, ihn aus dem Schacht zu ziehen. Doch in dem Augenblick, da sie ihn in die Hand nahm, hörte das Leuchten augenblicklich auf. Sie hatte sich gefragt, was sie veranlaßte, solch einen häßlichen Klumpen aufzuheben. Sie war sicher, sich getäuscht zu haben, etwas anderes hatte geleuchtet. Eine Sonnenspiegelung vielleicht. Die Kinder waren jedoch fest überzeugt, einen magischen Schatz entdeckt zu haben, der auf jeden Fall zu Amber wollte, so dass sie sich gezwungen sah, ihn in ihre Hosentasche zu schieben, obwohl sie ihn eigentlich wegschmeißen wollte.
Nun lag er in ihrer Hand und leuchtete, hätte sie geschienen, mit der Sonne um die Wette. Das Licht wurde immer stärker, flackerte auf wie ein Feuer, welches neue Nahrung bekam.
Eigenartigerweise bemerkte sie jetzt erst, hatte sich auch die Oberflächenstruktur des Steines verändert. Er fühlte sich glatt wie Seide an. Sachte strich sie mit dem Daumen darüber. Nur an einer Seite war er uneben, als wäre er an dieser Stelle zerbrochen. Ja, als gäbe es irgendwo noch eine zweite Hälfte. Sie sollte das nächste Mal mit den Kindern nachschauen, ob sie nicht noch dort lag. Mit einem Mal hatte sie das starke Bedürfnis, den Stein wie schützend in ihrer Hand zu verbergen und ihn dicht an ihr Herz zu drücken.
Die Faust mit dem gelben Stein fest an ihre Brust gedrückt, richtete sie das erstemal wieder ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung. Der Nebel hatte sich inzwischen gehoben; es lag nur noch ein feiner Dunstschleier in der Luft. Schließlich musste sie hier irgendwo abbiegen. Ihr Blick suchte die dunkle Straße nach der richtigen Abzweigung ab.
Irgendetwas beunruhigte sie, wenn sie auch nicht hätte sagen können was. Sie fühlte sich seltsamerweise fremd, wie jemand, der ein ihm unbekanntes Land besucht. Auf ein Aha-Erlebnis wartend, blickte sie an den Häusern hoch. Es war jedoch alles wie immer.
Dort stand Oma Lieses kleines Fachwerkhaus, dort die Villa von...Wo in Gottes Namen war die Villa? Sie verfluchte lautstark die Laternen, die schon wieder einmal kaputt waren. Wie sollte sie bei diesem Licht erkennen, wo sie sich befand. Vielleicht hatte sie sich ja völlig im Nebel verlaufen. Mit einem mürrischen Blick versicherte sie sich erneut des Standortes von Oma Lieses Haus. Dennoch verunsicherte sie irgend etwas. Sie trat einen Schritt auf die Häuserwand zu, begutachtete diese genauer. Das wars! Die Fenster, Türen, ja sogar das Mauerwerk schienen gerade erst wieder bewohnbar gemacht worden zu sein. Wann war denn das geschehen? Sie hatte weder Gerüste noch Arbeiter bemerkt. Das Haus war doch ihres Wissens mindestens siebenhundert Jahre alt, jetzt sah es aus wie frisch erbaut. Unmöglich, sie musste sich täuschen.
Dies konnte nicht das geheimnisvolle, gefährliche Haus sein, indem sie mit ihrem Bruder und ihren Freunden Verstecken spielte. Gerade als sie ungläubig die feuchten Steine berühren wollte, hörte sie das leise Stöhnen.
Ängstlich blickte sie die Straße entlang. Eine große, gekrümmte Gestalt lehnte an der Wand des Nachbarhauses. Sehr vorsichtig, sich hilfesuchend nach allen Seiten umblickend, ging sie ein paar Schritte auf die Gestalt zu. In ihrem Magen tobten indes irgendwelche Wesen, von deren Vorhandensein sie bisher noch gar nichts wusste, oder doch; schon einmal in ihrem Leben hatte sie diese eigenartigen Schmetterlinge in sich gefühlt. Ebenso wie die feuchten Hände und das empfindliche Schlucken und Räuspern.
Sie schloss die Augen, um die Gedanken an dieses Erlebnis zu verscheuchen, erreichte damit jedoch genau das Gegenteil. Wieder sah sie den jungen Mann. Wieder das schreckliche Geschehen, das sie seit dem nie wieder ganz losließ. Und wieder sah sie die bernsteinfarbenen Augen, die sie unbeirrt beobachteten, während mehrere Autos durch seinen Körper fuhren, als stünde dort niemand.
Unerwartet zuckte sie zusammen, wie damals, als sie verstört durch den Geistermann, ohne aufzupassen, über die Kreuzung gelaufen war und die folgenschwerste Bekanntschaft mit einem Lastwagen machte, die sie je hatte. Wieder spürte sie den heftigen Stoß und Schmerz in ihrem Unterleib. Wieder hörte sie die Leute aufschreien, ehe ihr schwarz vor Augen geworden war.
Sie merkte, wie ihr der kalte Schweiß die Wirbelsäule hinunterlief. Konnte sie nicht endlich vergessen! Wütend öffnete sie die Lider und blickte unvermittelt in zwei bernsteinfarbene Augen!
Ihre Knie wurden butterweich. Eben noch war der Himmel wolkenverhangen, hatte keinen Strahl durchgelassen, doch jetzt riss die Wolkendecke auf, ließ den Mond sein fahles, dennoch starkes Licht hinunterstrahlen.
Sie konnte den Blick nicht abwenden von diesem auffallenden, von herbstblattbunten Haaren umrahmten Gesicht. Von diesen magisch wirkenden, seltenen Augen, mit dieser außergewöhnlichen Farbe. Ihr stockte der Atem, indes ihr ein Stöhnen des Unfassbaren über die Lippen entfloh. Ein Alptraum!
Sie wollte sich abwenden, den Blick lösen, doch sie konnte sich nicht entziehen, obwohl ihre Haut kribbelte, als säßen tausend Ameisen auf ihr. Ihre Körperhaare stellten sich auf.
Dieser Mann, Geist, wer auch immer, übte eine ungeheure Anziehungskraft auf sie aus, gleichzeitig war er der unheimlichste Mensch, dem ihr je begegnet war. Schweigend blickten sie sich an. Die Zeit flog dahin, doch sie hätte nicht sagen können, ob sie dort schon seit Stunden standen oder erst seit wenigen Minuten. Ein Schauer durchfuhr ihren Körper, trotz des lauen, warmen Wetters draußen.
Der Mann schien ebenso beunruhigt wie sie. Ja, sie glaubte auf seinen Zügen sogar dasselbe Erstaunen über ihr Zusammentreffen zu erkennen, wie sie es in sich spürte. Unerwartet wanderte sein Blick zur Seite, als befürchtete er einen Feind.
Damit gab er ihnen endlich die Gelegenheit ihre Blicke zu befreien.
Aus rauher Kehle rief er aus. „Ihr?!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wie seyd ihr hier her gelanget?“
Amber lachte trocken auf. Das war ja wohl die Höhe. Wieso stellte er ihr solch eine Frage, noch dazu in dieser seltsamen Mundart. Der Bann war für einen Augenblick gebrochen.
Sie schob den Stein unbewusst wieder in ihre Hosentasche, während sie ihm patzig antwortete. „Und du! Zufällig wohne ich hier, in dieser Stadt!“
Er zauberte, trotz seiner offensichtlichen Schmerzen, ein wissendes, fast überhebliches Lächeln auf seine Lippen. „Ich weyß,“ sagte er,“ aber nicht in dieser, meyner Zeyt!“
Wenn sie nicht sowieso schon völlig verstört gewesen wäre, dann wäre sie jetzt aus allen Wolken gefallen. Der Kerl hatte einfach nicht alle Tassen im Schrank. Sie sollte schnellstens ein Telefon suchen und die Polizei einschalten. Gut möglich, dass er sie plötzlich angriff. Sicherheitshalber trat sie möglichst unauffällig einige Schritte zurück.
Wieder lächelt er wissend; das ärgerte sie.
„Ihr tätet mir nicht glauben wollen, Fräuleyn, aber ich sprech wohl die Wahrheyt!“
Sie schüttelte wütend den Kopf. Obwohl ihr die wüstesten Beschimpfungen einfielen, die sie ihm wirklich liebend gerne an den Kopf geschmissen hätte, sagte sie nichts. Sie hatte zuviel Angst, ihn zu reizen und wütend zu machen, und wer konnte dann noch für ihre Sicherheit bürgen? Hilfesuchend schaute sie sich nach allen Seiten um.
Wo waren denn all die Menschen? Es war doch noch gar nicht so spät in der Nacht, dass sie und dieser merkwürdige Kerl die einzigen wachen Leute sein konnten.
Seine Augen folgten ihrem Blick, doch müde und geschwächt durch die Verletzung, schloss er einen Augenblick die Lider. Seine Hand nestelte an seinem Hemdausschnitt herum. Was hatte er denn jetzt vor; sie fühlte wie ihr die Angst den Rücken hochkroch.
Nach kurzer Zeit zog er eine Schnur mit einem Bernsteinanhänger hervor, welcher wie ihrer aussah. Wie konnte das sein? Auch dieser Stein flackerte, wie ihrer, in seiner hohlen Hand. Sie schluckte unruhig, wollte nur noch fort von hier. Weg von diesem Mann, den sie trotz ihrer Angst so seltsam anziehend fand. Weg von diesem dunklen Ort, den sie nicht recht erkannte. Sie wusste genau, es war dumm von ihr, trotzdem sagte sie herausfordernd.
„Mein Vater ist der Bürgermeister von Hameln! Wenn du mir etwas zu leide tust, dann, dann,“ ja was dann? Sie wusste nicht weiter.
Er öffnete seine Augen wieder. Dieses Mal ein eindeutig spöttisches Lächeln um die Mundwinkel. Er verneigte sich leicht, unter Schmerzen, machte eine weitläufige Geste mit dem Arm, die Straße entlang zeigend.
„Bitte verehrtes Fräuleyn, tuhet euch keynerley Zwang an. Ihr seyd frey zu gehen, wohin euch eure zarten Füße auch tragen mögen.“ Sein Lächeln wich einem verbitterten Zug. „Vielleycht führet euch der Weg wiederum zurück, in euer eygenes Quernhamelen!“
Wenn sie schlau war, dann nahm sie diese großzügige Geste umgehend an. Mutig ging sie, einige Schritte Abstand haltend, an ihm vorbei, die Straße hinunter. Aber wohin sollte sie eigentlich gehen, sie wusste es nicht. Sie drehte sich nach einigen Metern noch einmal um, teils um zu überprüfen, ob er ihr auch nicht folgte, zum andern, um ihm entgegenkommend zuzurufen:
„Du solltest dringend zu einem Arzt mit deiner Verletzung.“
Noch während sie sprach, merkte sie, wie ihr Schritt schneller wurde. Sie bog die nächste Straße zur Linken ab. Nach einem letzten Blick auf den seltsamen Mann achtete sie wieder auf den Weg. Völlig verunsichert, durch die Tatsache, dass sie nichts als solches wiedererkannte, wie sie es gewohnt war, überfiel sie eine lähmende Angst.
Hatte er womöglich doch Recht? War es erdenklich, dass sie in einer anderen Zeit gelandet war? Sie versuchte sich an seine Kleidung zu erinnern, um sie zeitlich einordnen zu können. Das lange, rostbraune Gewand, die Schnabelschuhe, seine schulterlangen Haare? Sie blickte an den Häusern hoch, die so alt, und doch so frisch wirkten. Mittelalter! Die einzige Zeit, die ihr dazu einfiel. Genauso hat es angeblich im Mittelalter ausgesehen. So ein Quatsch! Und sie glaubte auch noch daran.
Müde und verzweifelt, da sie ihre eigene Wohnung nicht finden konnte, setzte sie sich auf einen eckigen, etwa hockerhohen Stein, der an der Gasse vor einem der Häuser stand. Da kam ihr der rettende Einfall. Sie brauchte doch nur bei einem der Anwohner klingeln, um zu telefonieren. Warum war sie denn darauf nicht schon zuvor gekommen.
Gedacht, getan. Sie stand auf, um sich geradewegs der Tür hinter ihr zu widmen und die Klingel zu drücken. Aber eine solche gab es nicht! Na gut, dann klopfte sie eben. Mutig setzte sie den gekrümmten Finger an, um erst einmal zaghaft zu klopfen. Drinnen rührte sich keiner. Sie klopfte erneut, dieses Mal jedoch lautstark und fordernd. Endlich hörte sie schlurfende Schritte. Sie atmete erleichtert aus; nun konnte sie sicher sein, dass sie und dieser Kerl nicht die einzigen Menschen in dieser verwandelten Stadt waren, denn dieser Gedanke nagte schon die ganze Zeit an ihr.
Ein schwaches Licht drang durch die kleine Scheibe neben der Tür. Eine männliche Stimme rief erbost. „Wer tät zu so später Stund an meyner Türe pochen? Verschwindet!“
Amber schluckte nervös ihre unbestimmte Angst herunter. „Ich wollte sie nur fragen, ob ich einmal telefonieren könnte! Ich bezahle auch dafür!“
Gleich würde sich die Tür öffnen.
„Verschwind, hätt ich gesaget! Lumpenweyb! Sie sollt sich Packen, sonst ruf ich nach den Bütteln!“
Sie zuckte zusammen, als habe er sie geschlagen. Lumpenweib! Büttel! Hatten hier alle eine Macke bekommen? Sie lief wie gehetzt los. Egal wohin, nur fort. Nur nach Hause. Hätte sie doch Leons Angebot angenommen, dann läge sie jetzt bereits in ihrer Wohnung, in ihrem Bett und irrte nicht wie eine Geisteskranke in der Stadt umher. Geisteskrank? Das musste die Kernfrage sein. Sie hatte sie nicht mehr alle. Spätfolgen ihres Unfalls! Deswegen hatte sie auch den selben Mann wieder gesehen. Sie lief weiter. Nur nicht stehen bleiben. Egal wohin sie jedoch lief, wohin sie kam, überall das gleiche Bild.
Nach Stunden des Umherlaufens ließ sie sich völlig erschöpft einfach an eine Hauswand gelehnt heruntergleiten. Müde blickte sie sich um. Das Haus neben ihr stand so dicht, dass nur noch ein etwa ein Meter großer Gang die Wände trennte. Sie überwand ihre schlappen Beine, die am liebsten hier sitzen geblieben wären, stand auf und ging in den Spalt. Hier überkam sie ein aberwitziges Gefühl von Sicherheit. Keiner konnte sie auf den ersten Blick erkennen und sie hätte ihre Ruhe, bis Morgen. Morgen! Da sah die Welt bestimmt anders aus. Sie freute sich schon auf ein Frühstück bei Leon! Egal das sie gesagt hatte, sie käme nicht, nach dieser Nacht würde sie hingehen! Der Gedanke daran tröstete sie. Zwar unbequem, aber unter den gegeben Umständen zufrieden, um des sicheren Platzes, schlief sie ein.