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2 Im Norden Englands, 11. Jahrhundert

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Ängstlich öffnete Malinda die Augen, setzte sich ruckartig auf. Sie lauschte in das Morgengrauen hinein. Außer dem Rauschen des Windes in den Blättern, dem entfernten Grunzen einer Wildschwein Gruppe und dem rascheln der Eichhörnchen, konnte sie jedoch nichts wahrnehmen. Es beunruhigte sie in zunehmendem Maße, dass sie in der letzten Zeit ängstlich hinter jedem Busch einen Feind vermutete. In all den Jahren war sie nie ängstlich gewesen, vorsichtig ja, aber nicht ängstlich! Was sollte ihr auch noch Angst einjagen? Der Tod? Sie hatte ihm Auge in Auge gegenübergestanden. Schmerzen? Sie wusste was es bedeutete Schmerzen zu empfinden, mehr als sie glaubte ertragen zu können. Ja, sie hatte Angst noch einmal solche Schmerzen ertragen zu müssen, jedoch nicht mehr als all die Jahre bisher. Was bereitete ihr also Sorgen? Das Leben? Das Morgen, das noch im Dunkel lag? Das andere, alte Leben war in weite Ferne gerückt und selten übermannten sie die Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse. Zehn Jahre war eine lange Zeit? Unvorstellbar inzwischen, wie eine Lady von edlem Blut zu leben. Des edlen Blutes war so viel vergossen worden, mehr als sie jemals Tränen hatte weinen können. Das Leben das sie führte war hart, doch war sie die Bestimmerin und kein anderer. Schon gar kein Mann!

Im Stillen dankte sie einmal mehr dem alten Einsiedler, der damals ihre körperlichen Wunden geheilt und versucht hatte, sie die seelischen vergessen zu lassen. Sie dankte ihrem Kampfgeist und ihrem Lebenswillen? Nicht immer war es leicht ihren weiblichen Körper und seine Formen zu leugnen, ihn unter festen Binden und lockerer Kleidung zu verstecken, doch manches Mal vergaß sie beinahe selber, dass sie kein Junge, sondern eine junge Frau war. So wie sie vergaß, dass sie des Sprechens nicht mehr fähig war, seit diesem verhängnisvollen Tag. Das Leben in den Wäldern und der Einsamkeit forderte ihr keine Worte ab. Im Sommer liebte sie die Ruhe und Freiheit in den Wäldern. Nur der Winter, der hatte es in sich, und dennoch, auch in der kalten, oft nassen Jahreszeit hatte sie in den Wäldern immer Schutz gefunden? Warum war sie also nun so missgestimmt?

Sie lehnte sich erneut an den Stamm der Buche zurück und schloss die Lider noch einmal. Der Tag begann erst zu erwachen, weshalb nicht noch ein wenig ausruhen? Wie um sie zu verspotten begannen in diesem Augenblick die ersten Vögel mit ihrem Morgengesang, dem Walderweckungsdienst. Ein Lächeln huschte über ihre schweigenden Lippen. Mit einem Mal wieder gutgelaunt öffnete sie die Augenlider.

Mit schnellem, geübtem Griff packte sie ihr kleines Bündel zusammen, sprang federnd auf die Füße und lief aufs geratewohl in nördlicher Richtung. Sie war neugierig, wohin trugen sie ihre Füße dieses Mal?

Sie schaute zum Himmel. Inzwischen musste sie seit etwa zwei Stunden unterwegs sein. Sie dankte dem Wald, der sie mit Beeren und Früchten versorgte und steckte die letzten Bissen in den Mund, während sie dem Lauf eines kleinen Baches folgte.

Ein unerwartetes Geräusch ließ sie innehalten. Vor ihr im Gebüsch lag ein Wesen das laut stöhnte. Es stöhnte vor Schmerzen. Vorsichtig schlich sie weiter durch das Gebüsch. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Etwa zwanzig Schritte entfernt lag ein Pferd im Gras am Bachufer. Sie beobachtete es eine Weile, suchte die Umgebung nach einem dazugehörenden Menschen ab. Offensichtlich war es alleine. Ebenso offensichtlich handelte es sich um eine Stute, die gerade im Begriff war zu fohlen. Sie stöhnte unter den Wehen. Doch die Geburt schien nicht die einzige Erschwernis zu sein. Ihr Körper war überzogen von blutigen Wunden. Ein Halfter lag viel zu eng um ihren Kopf geschnürt und ein abgerissener Strick schlängelte sich wie eine Schlange über den Boden bis zum Halfter. Ein Mensch hatte diese Stute grausam misshandelt, so viel stand fest. In ihrer Not war sie wahrscheinlich geflohen. Langsam trat Malinda aus ihrer Deckung, sie wollte weder die Stute erschrecken, noch einen Angriff des Tieres wagen. Bis zu diesem Augenblick war die Stute mit einer heftigen Wehe beschäftigt gewesen, nun schaute sie unerwartet auf und sah Malinda unmittelbar in die Augen. Einen langen Augenblick schauten sie sich an, bis Malinda sicher war. Sie musste ihr helfen.

Fionna hatte Malinda schon seit einer Weile erwartet. Sie wusste wohl, dass sie ihre Hilfe nötig hatte, denn die vielen Wunden schwächten sie mehr als sie geglaubt hatte. Sie war lange nicht mehr so stark und unverwundbar wie vor ihrer Liebe zu Donn ruadh. Die weisen Einhörner der Insel hatten sie gewarnt, doch sie war bewusst in die Beziehung mit ihm gegangen. Was bedeutete übernatürliche Kraft oder die Unsterblichkeit, gegen die Liebe? Wenn die Geburt nur nicht so anstrengend wäre! Eine neue Wehe verdrängte alle Gedanken, ließ sie, sich wieder voll mit dem Gebären befassen.

Malinda beugte sich herunter, langte, noch vorsichtig nach dem Halfter. Es war so eng geschnallt, dass es tief ins Fleisch einschnitt. Um die Stute schwirrten bereits die Schmeißfliegen auf der Suche nach Eiablageplätzen. Behutsam öffnete sie die Schnallen des Halfters. Die Stute ruckte kurz mit dem Kopf hoch, ehe sie das blutige Leder herunterzerren konnte. Verflucht sollte ihre Sprachlosigkeit sein. Sie wollte die Stute so gern mit Worten beruhigen. Was blieb, war, ihr beruhigend über den Kopf zu streichen, während sie in Gedanken mit ihr sprach. "Wer hat dich nur so zugerichtet? Bestimmt hatte sie großen Durst. Ich hole Wasser." Sie zog ihren Stiefel aus und holte damit vom Bach eine Ladung Wasser. Immer wieder schüttete sie sich anschließend etwas von dem Wasser in die hohle Hand, aus der die Stute gierig trank. Das ganze war sehr mühsam, aber notwendig.

Als schließlich das kleine, dunkelbraune Hengstfohlen vor Fionna im Gras lag, vergaß sie die anstrengende Zeit der Geburt. Glücklich und erschöpft blickte sie ihren Sohn einige Augenblicke an, ehe sie müde zurücksank und einschlief.

Malinda riss trockene Grasbüschel ab, sie musste den Blutkreislauf des Kleinen in Gang bringen. Auch er schien ermattet. Mit gleichmäßigen Bewegungen rieb sie sein Fell trocken. Es dauerte nicht lange bis er versuchte aufzustehen. Seine unförmigen langen Beine waren ihm dabei mehr hinderlich als nützlich. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Nach einiger Zeit schaffte er es tatsächlich zu stehen, wenn auch etwas wackelig, doch stolz. Was für ein kräftiger Kerl.

Fionna erwachte aus ihrem flüchtigen Schlaf. Die kurze Reise zu ihren Ahnen, hatte sie gestärkt. Sie musste alle Kraft für ihren Sohn haben. Ach wäre sie doch nur bei Donn ruadh! Schon wieder kraftvoller erhob sie sich, der kleine brauchte endlich seine Milch.

Malinda zog sich zurück und beobachtete das erste sich kennen lernen der beiden Pferde. Das war die Gelegenheit sich die Stute einmal genauer anzusehen. Ihr schneeweißes Fell glänzte, an den Stellen die nicht vom Blut befleckt waren, silbrig. Ihre Mähne hing ihr üppig, fein wie Menschenhaar, über beide Halsseiten, reichte beinahe bis zu ihren Kniegelenken. Wie pures Silber glänzten die nicht durch Blut verklebten Strähnen in der Sonne.

Der Kleine sah ihr von der Färbung her gar nicht ähnlich. Sein dunkelbraunes Haarkleid wurde von vier weißen Beinen und einer riesigen Blesse unterbrochen, die gut den halben Kopf überzog. Die Stute war nicht sehr groß, um weniges größer als die Pferde die von den Inseln kamen und sehr viel kleiner als die Kampfrösser der Ritter. Trotzdem wirkte sie sehr edel, nicht wie die kleinen zotteligen, kurzbeinigen. Ihre Stirn wurde von einem leuchtend weißen, faustgroßen Stern überzogen. So eine Blesse hatte Malinda noch nie gesehen und erst Recht nicht auf einem weißen Pferd. Täuschte sie sich, oder schien das Weiß der Blesse zu leuchten?

Noch immer schaute sie versonnen auf die beiden, als die Stute sich ihr unerwartet zuwandte. Sie schritt nahe an sie heran und senkte den Kopf zu ihr herunter. Malinda berührte sie sacht an der Stirn, geradewegs am Stern und ihr war, als führe ihr ein Blitz durch den Körper. Doch das Gefühl stärkte sie, es schwächte nicht.

Fionna sah sich Malinda genauer an und lächelte innerlich über die Gedanken der jungen Frau. Ja, sie hatte recht, sehr ähnlich war ihr Sohn ihr nicht. Dafür aber seinem Vater um so mehr, bis auf das viele Weiß an den Beinen und am Kopf. Später würde er einmal ein stolzer Hengst werden wie sein Vater und sein Fell würde, wenn es aus dem Fohlenalter herausgewachsen war, in der Sonne glänzen, als wäre es schweißnass. Seine Mähne würde wie Flachs im Wind wehen. Seine Vorfahren waren edelster Herkunft. Schließlich gehörte sie der ältesten Einhornfamilie an, welche einst von den Inseln im Nordwesten herüberkamen. Und wenn sie um ihrer Liebe willen auf ihre Unsterblichkeit verzichtete, so gab es wenigstens einen Nachkommen von ihr und Donn ruadh. Jetzt, nachdem sie die Geburt hinter sich gebracht hatte, gab es nur noch ein Ziel für sie. Sie musste so schnell es ging zu ihm zurückkehren.

Und Malinda würde mitgehen, dafür würde sie, Fionna von den Inseln, schon sorgen. Malinda lächelte sie an während sie in Gedanken mit ihr sprach. Gut, dass das Mädchen nicht ahnte, dass sie ihre Gedanken las.

"Ich möchte mir jetzt einmal deine Wunden ansehen, bevor die Fliegen sich darin verewigen. Lässt du mich?"

Die Stute nickte mit dem Kopf auf und ab, als hätte sie ihre unausgesprochenen Worte nicht nur gehört, sondern auch verstanden.

Sie öffnete ihren Beutel, holte alles was sie zurzeit noch an Heilkräutern und Salben dabei hatte, heraus. Zaghaft begann sie mit dem Säubern der Wunden und salbte sie anschließend ein. In Gedanken suchte sie sich einen passenden Namen für die Stute, doch ihr fiel kein anderer als Tapferes Mädchen ein. Ihr Blick wanderte zu dem Fohlen, das wie tot in der Sonne lag, sich wärmte und schlief. Ihn taufte sie Kleiner Bruder. Die Sonne brannte inzwischen heiß herunter und Malinda beeilte sich mit der Versorgung der Wunden.

Sie musste auf jeden Fall noch heute nach Kräutern suchen, mit dem bisschen Salbe kam sie nicht weit. Die Mengen die sie bei sich trug reichten für einen Menschen, aber nicht lange für einen Pferdeleib.

Nach gut zwei Stunden hatte sie genügend Ringelblumen, Beinwell und Bergwohlverleih zusammen. Anschließend sammelte sie noch Nahrung für sich, sie war inzwischen hungrig geworden. Als sie die kleine Lichtung am Bach erreichte, war auch Tapferes Mädchen gerade mit Nahrungsaufnahme beschäftigt. Kleiner Bruder lag wieder wie erschlagen im Schatten der Bäume. Tapferes Mädchen schaute einen Augenblick zu ihr herüber, ehe sie weiter graste. Malinda verstaute die Kräuter luftig und trocken, jedoch sicher vor etwaigen anderen, unerwünschten Abnehmern. Zum Trocknen würde sie kaum kommen. Sie aß ihr letztes Birkenbrot und hatte das sichere Gefühl, dass sie sich so schnell kein neues würde herstellen können.

Die Tage vergingen wie im Flug, obwohl sie einen Großteil damit verbrachte die Heilkräuter für Tapferes Mädchen und Nahrung für sich zu sammeln. Sie hatte das Gefühl beim Heilen der Wunden zusehen zu können. Wie konnten die Wunden derart schnell heilen? Dass sie Tapferes Mädchen von den Kräutern zu essen gab, reichte nicht um die Heilung derart zu beschleunigen. Sie stand vor einem Rätsel. Die Tatsache, dass Tapferes Mädchen nun ohne ihre Hilfe zurechtkommen würde, half ihr bei der Entscheidung zu gehen. Sie hatte sich lange genug bei den Tieren aufgehalten, es zog sie weiter. Sie umarmte die Pferde am Hals, streichelte sie liebevoll und sagte ihnen in Gedanken Lebewohl. Die Wunden waren noch ein letztes Mal versorgt und gut geheilt. Sie konnte die beiden getrost sich selber überlassen.

"Ich wünsche euch viel Glück. Wenn du mit ihm erst einmal im Wald bleibst, bist du vor den Menschen sicher. Leb wohl Tapferes Mädchen, leb wohl Kleiner Bruder!"

Tränen drückten sie, aber sie würde nicht weinen können, auch wenn ihr danach war. Sie wandte sich unvermittelt ab, um ihr Bündel vom Boden aufzuheben und ging los. Die beiden waren ihr lieb und teuer, waren Freunde geworden, in einer sonst eher einsamen Welt.

Nach wenigen Schritten hörte sie das dumpfe tappen von Pferdehufen auf Waldboden. Erstaunt drehte sie sich um. Bisher war Tapferes Mädchen ihr noch nie gefolgt, wenn sie sich auf die Suche nach den Kräutern gemacht hatte.

„Nein, das geht nicht. Du kannst nicht mit mir gehen. Das würde nur Ärger geben." Sie sah Tapferes Mädchen streng an. "Es geht nicht, wirklich nicht. Sie würden versuchen euch zu stehlen, oder gar behaupten, dass ich euch gestohlen hätte.“ Ach könnte sie doch nur sprechen!

Sie riss die Arme hoch, um sie fortzuscheuchen, doch Tapferes Mädchen ließ sich nicht im Mindesten beeindrucken. Sie zuckte nicht einmal zurück.

„Verflucht,“ schimpfte Malinda wortlos. Im Grunde ihres Herzens war sie jedoch froh und auch ein bisschen stolz, dass die Tiere bei ihr bleiben wollten. So war sie nicht die einzige, die Freundschaft empfand. Halbherzig schüttelte sie noch einmal den Kopf, ehe sie nachgab. „Na gut, dann kommt eben mit. Aber ich sage dir gleich, dass ich nicht einmal weiß wohin mich meine Füße tragen werden.“

Tapferes Mädchen wippte mit ihrem Kopf auf und ab als hätte sie Malinda verstanden.

Nun, Malinda wusste nicht wohin, doch Fionna wusste es dafür umso besser. Und was Malinda noch nicht begriffen hatte, war, dass nicht Fionna diejenige war die folgen würde, sondern umgekehrt, Malinda ihr. Am ersten Tag würde sie Malinda noch das Gefühl lassen, dass ihre Füße die Richtung bestimmten, doch schon am zweiten würde sie die Führung übernehmen.

Malinda war es einerlei, da sie kein festes Ziel vor Augen hatte und eine innere Stimme ihr zu sagen schien, dass die Stute hingegen sehr wohl wusste wohin sie wollte. Sie rasteten die erste Zeit oft, denn Kleiner Bruder musste noch kräftiger werden und brauchte viel Milch.

Tapferes Mädchen graste, während Malinda sich ihre Nahrung suchte.

Zwei Wochen zogen ereignislos ins Land, doch dann waren sie da, die Schwierigkeiten, die sie erwartet hatte.

Der Gesang des Einhorns

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