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EINS

Dienstag, 19. März 2019

Russel wartete, bis der Applaus im Pub The Temple Bar sich gelegt hatte, ehe er ans Mikrofon trat. »Ladies und Gentlemen, nach dem rasanten Galopp von The Molly Maguires hören Sie als letzten Song vor der Pause ein ruhiges Liebeslied, das Sie alle kennen, eine Hommage an die schönste Frau Irlands: Star of the County Down. Im Song heißt sie Rosie McCann, aber geben Sie ihr in Gedanken ruhig den Namen Ihrer Liebsten. Das tue ich nämlich auch.«

Er zwinkerte Aislyn zu, die an einem Tisch in seiner Nähe saß und ihn strahlend anlächelte. Für ihn ging eine Sonne auf; ein Eindruck, der nicht nur Aislyns wunderschönem roten Haar geschuldet war. Er nickte seinen drei Bandmitgliedern zu, schlug den ersten Akkord auf der Gitarre an, und der Song begann. Während Russel sang, ließ er kein Auge von Aislyn und sie nicht von ihm. Sicherlich war das der Grund, warum er den Refrain mit besonderer Hingabe sang:

»From Bantry Bay down to Derry Quay

From Galway to Dublin town

No maid I’ve seen like the fair cailín

That I met in the County Down.«

Das Publikum ging mit, und Russel fühlte sich in seinem Element. Er liebte Musik und besonders die alten irischen Balladen. Im Gegensatz zu Aislyn hatte sein Talent zwar nicht zum Studium an der Royal Acadamy of Music gereicht, aber sie war dennoch seine große Leidenschaft – nach Aislyn. Vielleicht hatte sein Versagen bei der Aufnahmeprüfung nicht einmal so sehr an mangelndem Talent gelegen, sondern daran, dass er sich damals nicht hatte entscheiden können, ob er Musiker werden oder zur Polizei gehen sollte. Doch die Polizei hatte ihn auch nicht gewollt.

Weil aber für ihn keine anderen Berufe vorstellbar waren, hatte er sie miteinander verbunden. Tagsüber arbeitete er als Privatdetektiv und abends spielte er mit der Band in Pubs. Die restliche Zeit über gab er Gitarrenunterricht und betätigte sich als Straßenmusiker. Ein lohnendes Geschäft, denn besonders die Touristen waren sehr freigiebig und ließen sich manchmal auch etwas kosten, ein Erinnerungsfoto mit einem echten irischen Musiker zu schießen. Alles in allem ein wunderbares Leben, das er gegen kein anderes eintauschen wollte.

Und Aislyn O’Malley war die Krönung seines Glücks. Für ihn war sie wie das Mädchen im Song der wunderschöne Stern seines Lebens. Sie kannten sich seit zwei Jahren, und die Hochzeit war nur noch eine Frage der Zeit. Wäre es nach Russel gegangen, hätten sie gleich morgen geheiratet. Er konnte Aislyn genug für ein sorgenfreies Leben bieten. Von seinen Großeltern hatte er ein kleines Häuschen am Oaklands Drive in Rathgar geerbt, in dem zwei Personen bequem leben konnten. Einschließlich der zwei oder drei Kinder, die er fest in seine Zukunft eingeplant hatte.

Aber Aislyn wollte noch warten, bis sie ihr Studium in zwei Jahren beendet und eine Anstellung gefunden hatte. Idealerweise beim Dublin Philharmonic Orchestra. So gut, wie sie war, hatte sie durchaus Chancen. Und Russel konnte ihren Wunsch verstehen, sich erst beruflich zu etablieren, ehe sie mit ihm eine Familie gründete.

Er sang den letzten Refrain, und das Lied endete. Applaus brandete auf, aber für ihn zählte nur Aislyns wunderbares Lächeln.

»Danke schön!«, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dem Publikum zu sagen. Er stellte die Gitarre auf den Ständer und ging zu Aislyn.

Sein Freund, Detective Sergeant Declan Walsh, der mit ihr am Tisch saß, schob ihm ein Glas Guinness hin. »Ich beneide dich – euch beide – immer wieder um euer musikalisches Können. Diese Kunst entzieht sich mir leider vollkommen.«

Russel winkte ab. »Dafür kannst du fantastisch kochen. Ich schaffe gerade mal das Aufwärmen von Tiefkühlkost.« Er trank einen Schluck Guinness und blickte Aislyn an. »Aber für dich, meine Wunderbare, werde ich es lernen, wenn es sein muss. Ich weiß ja, bei wem ich in die Lehre gehen kann.« Er zwinkerte Declan zu.

Aislyn lächelte und schüttelte den Kopf. Sie beugte sich zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss, den Russel innig erwiderte.

Declan stieß ihn an. »Hey, hebt euch noch was für zu Hause auf.«

Russel löste sich widerstrebend von Aislyn und grinste. »Bitte nur keinen Neid!«

»Was heißt hier Neid?« Declan grinste ebenfalls. »Ich bin glücklich verheiratet. Apropos verheiratet.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss los. Jimmy kommt in einer Stunde von der Schicht nach Hause, und ich will meinen Mann heute mal mit einem tollen Essen verwöhnen.«

Russel blickte ihn skeptisch an. »Und du glaubst, dass du das in einer Stunde schaffst? Abzüglich der Zeit, die du bis nach Hause brauchst.«

Declan zwinkerte ihm zu. »Ich habe gestern schon vorgekocht und muss es heute nur noch aufwärmen.« Er stand auf. »Wir sehen uns.«

»Bis dann, Dec«, sagte Aislyn, während Russel nur grüßend die Hand hob.

Er nahm Aislyns Hände. »Gehen wir nachher noch zu mir oder zu dir?«

Sie schüttelte den Kopf. Das Leuchten in ihren Augen verschwand. »Ich muss noch zu Tom und Jenny. Wir wollen noch mal das Stück üben, das wir am Montag vorspielen müssen.«

»Jetzt noch?« Russel sah auf die Uhr. Es war Viertel vor acht.

Aislyn nickte. »Tom konnte nicht früher. Er hat noch einen Nebenjob. Und Jenny kann morgen nicht, also muss es heute sein.« Sie seufzte.

»Was ist los, my fair cailín?« Normalerweise machte jede Übungsstunde Aislyn glücklich. Doch sie erweckte den Eindruck, als wäre sie am liebsten der Verabredung ferngeblieben.

Sie zwang sich sichtbar zu einem Lächeln. »Nichts.« Sie drückte seine Hände. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«

Er nickte. »Ich habe da so eine Ahnung.«

Sollte er sie noch mal fragen, was los war? Denn irgendetwas bedrückte sie. Oder würde sie das als aufdringlich empfinden? Frauen waren manchmal allzu eigen in ihren Reaktionen. Wahrscheinlich würde Russel sie auch in hundert Jahren nicht verstehen. Aislyn legte den Kopf auf seine Schulter und die Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Er erwiderte die Umarmung und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel.

»Ich liebe dich auch, meine wunderbare Rosie McCann. – Ihr übt doch bestimmt nicht bis in die Nacht. Hast du Lust, hinterher noch zu mir zu kommen? Ich bin hier um elf fertig.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss morgen früh raus. Aber morgen Abend mach ich es wieder gut.«

Sie legte eine Hand an seine Wange und sah ihn lange an. Schimmerten da Tränen in ihren Augen? Er zog sie enger an sich und streichelte ihren Rücken. »Was ist los, Aislyn? Dich bedrückt doch was. Und du weißt, dass du über alles mit mir reden kannst.«

Ein trauriges Lächeln. »Ich weiß. Aber es ist wirklich nichts. Ich habe heute nur keine Lust, den Abend übend mit Tom und Jenny zu verbringen. Ich würde ihn viel lieber mit dir verbringen. Aber ich darf das Vorspielen nicht vergeigen. Buchstäblich. Das verstehst du doch?«

»Natürlich.«

»Singst du dein Lieblingslied für mich?«

»Was immer du willst.«

Sie gab ihm einen Kuss, so innig, als wäre es der letzte für alle Zeit. Anschließend befreite sie sich aus seiner Umarmung, gab ihm einen leichten Stups und nickte zur Musikecke hin, wo der Rest der Band Aufstellung nahm. Er trank noch einen großen Schluck Guinness und gesellte sich zu ihnen. Sprach sich kurz mit ihnen ab und stimmte Erin Go Bragh – A Row in the Town an, das er nicht nur wegen der mitreißenden Melodie mochte, sondern auch wegen des recht patriotischen Inhalts. Russel liebte sein Land, er liebte Dublin, die Musik, und er liebte Aislyn über alles.

Während er sang und spielte, stand sie auf, zog ihre Jacke an und ging zum Ausgang. Ihr rotes Haar wogte wie eine Kaskade aus Strahlen der untergehenden Sonne um ihre Schultern. Vor der Tür drehte sie sich um, lächelte und winkte ihm zu. Russel nickte und lächelte zurück. Die Tür schloss sich hinter ihr, und er hatte das Gefühl, im Raum sei es merklich dunkler geworden.

Er gab sich der Musik hin und zählte die Stunden bis zum morgigen Wiedersehen mit Aislyn.


Ryan Lynch radelte am Ufer der Liffey entlang zu den Docks. Seine Schicht begann in einer halben Stunde. Er fröstelte und wäre lieber im warmen Bus gefahren. Aber um diese frühe Stunde – mitten in der Nacht traf es besser – fuhr keiner, und ein Auto konnte er sich nicht leisten. Dabei liebte er Autos, besonders die schnittigen Sportwagen. In denen zu fahren machte so richtig was her. Nicht, dass Ryan schon jemals in einem solchen Wagen gesessen hatte. Er konnte sich nicht mal eine Probefahrt leisten. Aber träumen durfte man ja. Deshalb ließ er keinen einschlägigen Actionfilm aus, in dem solche Wagen eine Rolle spielten. Für ihn waren die Autos die wahren Helden dieser Filme und die Handlung nebensächlich.

Ein Wagen überholte ihn und scherte vor ihm auf die Fahrbahn ein. Ryan riss die Augen auf. Träumte er? Ein Aston Martin DBS – hier bei den Docks? Bestimmt hatte der sich verfahren. So ein Wagen wollte doch bestimmt zur Fähre, obwohl der Fährbetrieb erst in ein paar Stunden aufgenommen wurde.

Der Aston Martin schlingerte und geriet ein Stück auf den Gehweg. Ryan zuckte in Erwartung des Krachens zusammen, das folgen würde, wenn der schöne Wagen gegen den Baum prallte, der in seinem Weg stand. Doch der Aston kam mit quietschenden Reifen kurz davor zum Stehen. Ryan atmete auf.

Skyfall-Silber. Zumindest sah die Farbe so aus wie die des Aston Martins, den James Bond in Skyfall gefahren hatte und die deshalb nach diesem Film benannt worden war. Himmel, er hatte ein echtes James-Bond-Auto vor sich! Ryan trat kräftiger in die Pedalen, um das Schmuckstück einzuholen und von Nahem zu sehen, bevor es weiterfuhr. Leicht enttäuscht erkannte er, dass der Farbton doch nicht Skyfall-Silber war, sondern etwas dunkler. Vermutlich Xenongrau. Ryan kannte sich aus, denn der Aston war sein heimliches Traumauto. Deshalb kannte er alle Marken und alle lieferbaren Farben. Er würde sich einen in Diavolorot kaufen – sollte er jemals beim Hunderennen oder in der Lotterie genug gewinnen, um schlappe zweihunderttausend Euro oder mehr hinblättern zu können.

Die Beifahrertür wurde geöffnet. Eine rothaarige Frau fiel fast heraus. Von der Fahrerseite ertönte ein Fluch. Die Frau wurde zurückgerissen. Der Fahrer stieg aus, ging hastig um den Wagen herum und legte der Frau den Sicherheitsgurt an, den sie wohl vergessen hatte zu schließen.

Ryan hielt neben ihm. »Brauchen Sie Hilfe, Sir?«, bot er an. Allerdings weniger, um tatsächlich Hilfe anzubieten, sondern um den Wagen noch eine Weile bewundern zu können.

Der Mann sah ihn erschrocken an. Er passte zu dem Wagen, trug einen dunklen Anzug und eine dicke Uhr am Handgelenk, die teuer aussah. »Ah, danke, nein, geht schon«, wehrte er Ryans Angebot ab. »Meiner Frau ist nur schlecht. Sie hat etwas zu viel getrunken.«

›Etwas‹ zu viel schien Ryan untertrieben, denn die Frau konnte sich kaum aus eigener Kraft im Sitz halten. Ihre Augen waren halb offen, und ihre Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Nach Ryans Einschätzung war sie sturzbesoffen. Ihr Mann hielt sie im Sitz und zog den Gurt fest.

»Sie wollen wohl zur Fähre?«, fragte Ryan, um noch eine Weile bleiben zu können. »Da fahren Sie aber in die falsche Richtung. Zur Fähre geht es da lang.« Er deutete in die entgegengesetzte Fahrtrichtung.

Der Mann richtete sich auf. »Oh? Eh, ja. Da – habe ich mich wohl verfahren. Danke.«

Er schlug die Beifahrertür zu und hastete auf die andere Seite. Seine Frau hob die Hand und tastete nach der Gurthalterung. Doch sie erreichte sie nicht. Die Hand fiel kraftlos in ihren Schoß. Sie drehte den Kopf und sah Ryan an. Bewegte die Lippen. Ob sie etwas sagen wollte oder nur nach Luft schnappte, weil ihr kotzübel war – bleich genug sah sie schließlich aus –, war nicht zu erkennen. Ihr rotes Haar passte zu dem metallischen Xenongrau des Wagens und der Sitze. Der Fahrer musste ein glücklicher Mann sein mit einer so schönen Frau und einem so tollen Auto.

Der Wagen fuhr weiter. Ryan sah ihm neidisch nach und lauschte dem unvergleichlichen Motorgeräusch, das ihm wie Sirenengesang vorkam, bis der Aston Martin ein gutes Stück weiter in eine Nebenstraße einbog und seinen Blicken entschwand. Erst da fiel ihm auf, dass der Fahrer nicht gewendet hatte, um zum Fährhafen zu fahren. Vielleicht wollte er doch lieber seine Frau nach Hause bringen, damit sie ihren Rausch ausschlief und nicht die Fähre oder noch schlimmer den schönen Wagen vollkotzte.

Nun, das ging ihn nichts an. Er musste zur Arbeit. Die ihm heute garantiert leichter von der Hand gehen würde, weil er dieses göttliche Auto aus der Nähe hatte bewundern dürfen. Ach, würde doch jeder Tag mit einem solchen Highlight beginnen!

Die Tote vom Dublin Port

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