Читать книгу Die Tote vom Dublin Port - Mara Laue - Страница 8

DREI

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Müllsammeln war eine Strafe Gottes. Zumindest empfand Sam McFadden es so, weshalb er sich fragte, womit er sie verdient hatte. Er führte ein rechtschaffenes Leben, sorgte für seine Familie und war seiner Frau bisher immer treu geblieben. Aber was sein musste, musste eben sein. Und ab und zu musste auch am Ufer des Dublin Ports hinter den Sandcontainern an der Pidgeon House Road der Müll eingesammelt werden. Terminal 1 des Fährbetriebs lag direkt gegenüber, und nicht nur, aber besonders auch von den Fähren wurden manchmal Dinge ins Wasser geworfen, die dort nichts zu suchen hatten. Natürlich war das verboten und wurde bestraft, wenn man die Schuldigen in flagranti ertappte, aber etliche Leute scherten sich nicht um Verbote und vertrauten drauf, dass man sie nicht erwischte. Die Liffey spülte das Zeug dann dort an, wohin ihre Strömung und die Bug- und Kielwellen der Schiffe sie trieben.

Den Müll einzusammeln war hier nur deshalb schwieriger, weil der gesamte Uferbereich mit Steinen aufgeschüttet war, und die waren glitschig. Der metallene Greifarm reichte leider nicht immer weit genug ins Wasser hinaus, um alles gefahrlos einsammeln zu können. Meistens musste Sam ein paar Schritte über die Steine gehen. Abrutschen inbegriffen. Wenigsten konnte man mit dem Müllwagen aufs Gelände fahren, sodass Sam nicht auch noch die Müllsäcke gefühlte Meilen bis zur Straße schleppen musste.

Heute zeigte sich zudem erfreulich wenig Müll. Und es gab nur ein einziges größeres Stück, das zum Glück auf den Bereich gespült worden war, wo der Grasbewuchs des Ufers auf die Steine traf, sodass Sam nicht hinauswaten musste, um es zu bergen. Irgendwas in einem dunkelblauen Sack, der im Wind um seinen Inhalt schlotterte. Dass der Sack angetrieben worden war, ließ darauf schließen, dass der Inhalt nicht allzu schwer war, andernfalls wäre er versunken. Am besten sammelte er das Ding als Erstes ein, dann hatte er das Schwerste hinter sich.

Als er näherkam, sah er, dass sich an einem Ende des Sackes ein Bündel roter Wolle befand, das nass am Stoff klebte und sich in den leichten Wellen bewegte, die ans Ufer schlugen. Nach ein paar weiteren Schritten sah er Beine, die aus dem Sack ragten und im Wasser hingen.

Sam ließ Greifstock und Müllsack fallen und rannte hin. Zog das leblose Bündel Mensch aufs Trockene. Eine Frau. Was er für einen blauen Sack gehalten hatte, war ihr Kleid, die rote Wolle ihr Haar. Er strich die Haare zur Seite und legte ein totenbleiches Gesicht frei. Aus dem starrten ihn leblose Augen an. Er zog hastig seine Handschuhe aus und tastete nach dem Puls. Am Handgelenk, am Hals, wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Das Ergebnis bestätigte, was die Leichenblässe und die toten Augen ihm schon signalisiert hatten: Die Frau lebte nicht mehr.

Zitternd richtete er sich auf, holte sein Smartphone aus der Hosentasche und rief die Garda.


Russel starrte auf den Tisch, an dem Aislyn sitzen sollte, und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte sich den ganzen Tag nicht gemeldet, und auf ihrem Smartphone ging immer nur die Mailbox an. Zugegeben, das war nicht übermäßig ungewöhnlich. Wenn sie mal länger übte, als sie das ursprünglich geplant hatte, oder noch eine Veranstaltung besuchte, ließ sie das Phone ausgeschaltet. Und manchmal vergaß sie auch, es wieder einzuschalten. Aber sie hatte noch nie einen seiner Auftritte versäumt, ohne vorher Bescheid zu sagen.

Auch dafür mochte es einen wichtigen Grund geben. Aislyn war ihm schließlich keine Rechenschaft schuldig, wie und wo sie ihre Zeit verbrachte. Sich nicht zu melden war aber derart untypisch für sie, dass Russel sich sorgte. Und seine Besorgnis wuchs mit jeder Minute, die verstrich, ohne dass Aislyn The Temple Bar betrat. Er konnte kaum die Pause abwarten. Als sie endlich kam, hastete er zum Tisch, der für die Band und ihre Begleitung reserviert war, und versuchte erneut, Aislyn zu erreichen.

Sollte er bei ihren Eltern anrufen? Schließlich wohnte sie noch bei ihnen. Oder würde sie es, falls sie dort war, als Nachstellung empfinden, wenn er bei den Eltern anrief, nachdem sie durch das ausgeschaltete Smartphone deutlich signalisiert hatte, dass sie niemanden zu sprechen wünschte? Aber dass sie offenbar niemanden sprechen wollte, konnte nur bedeuten, dass etwas nicht stimmte. Sie war gestern Abend schon so seltsam gewesen, als sie sich von ihm verabschiedet hatte. Notfalls konnte er die Sache immer noch erklären und sie um Verzeihung bitten.

Er wählte die Nummer der Eltern.

»Aislyn?«, kam nach nur einem einzigen Freizeichen die besorgte Stimme ihrer Mutter.

Verdammt, da stimmte tatsächlich etwas nicht. »Nein, Mrs O’Malley, hier ist Russel. Aislyn und ich waren verabredet, und sie ist nicht gekommen. Ich dachte, sie wäre vielleicht bei Ihnen und hätte die Zeit vergessen.«

Ein besorgtes Seufzen. Dann Mrs O’Malleys belegte Stimme. »Nein. Wir dachten, sie ist bei dir, weil sie gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist. Oh Gott, hoffentlich ist ihr nichts passiert!«

Nicht nach Hause gekommen? Aber: »Sie wollte noch zu Jenny und Tom zum Üben für ein Stück, das sie am Montag vorspielen müssen.«

»Was? Nein. Was sagst du denn da? Sie wollte zu dir und den ganzen Abend mit dir verbringen. Dass sie dann auch über Nacht wegbleibt, ist ja nicht ungewöhnlich.« Er hörte das Lächeln in Mrs O’Malley Stimme, bevor sie ernst weitersprach: »Das Vorspielen war doch schon vor zwei Wochen, und das nächste ist erst im Mai.«

Er schüttelte den Kopf. Irgendwo lag hier ein Missverständnis vor.

»Wenn sie nicht bei dir ist, Russel – wo ist sie dann? Und warum meldet sie sich den ganzen Tag nicht?«

Das fragte er sich auch. Und seine Sorgen wuchsen. »Ich frage mal bei Tom und Jenny nach.«

»Tu das. Und du sagst uns Bescheid, wenn du was weißt, ja?«

»Versprochen, Mrs O’Malley. Bis dann.« Er beendete das Gespräch und wählte Toms Nummer.

»Hallo, hallo!«, meldete sich Tom gewohnt flapsig.

»Hier ist Russel. Ist Aislyn bei euch?«

Schweigen. »Eh, wieso?«

Russel hielt das für eine reichlich dumme Frage, die ihn unerklärlich reizte. Er musste sich beherrschen, um Tom keine harsche Antwort zu geben. »Weder ich noch ihre Eltern haben seit gestern etwas von ihr gehört. Sie ist nicht zu erreichen, und das Letzte, was ich von ihr weiß, ist, dass sie gestern Abend zu euch zum Üben wollte.«

Erneutes Schweigen. »Eh, ja. – Ja, wir haben geübt. Bis ungefähr elf. Dann ist sie gegangen und wollte zu dir.«

Russel lauschte Toms Tonfall nach, der ihm das Gefühl vermittelte, dass der Mann log. Oder zumindest nicht die ganze Wahrheit sagte. »Wann ist doch gleich noch das Vorspielen? Mittwoch?«

»Eh … Wieso?«

Russel platze der Kragen. »Verdammt noch mal, du wirst doch wohl wissen, wann euer Vorspielen ist! Aislyn ist verschwunden und angeblich war sie zuletzt bei euch.«

»Was heißt hier ›angeblich‹?«, fuhr Tom auf. »Wenn du mir so kommst, dann leck mich doch am Arsch!«

Er hatte das Gespräch abgebrochen, bevor Russel noch etwas sagen konnte. Russel fluchte unterdrückt und wählte Declans Nummer.

»Russel, was verschafft mir denn zweimal am selben Tag das Vergnügen deines Anrufs?«, meldete sich sein Freund.

»Aislyn ist verschwunden. Und ich fürchte, ihr ist was passiert. Vielleicht sehe ich nur Gespenster, aber …« Er berichtete ihm, was los war. »Und ich habe jetzt leider keine Zeit, die Krankenhäuser abzutelefonieren, um zu fragen, ob sie in einem von ihnen eingeliefert wurde, weil unser Auftritt …«

»Ich mache das«, unterbrach ihn Declan. »Jimmy und ich teilen uns das. Jeder ruft die Hälfte der Kliniken an. Ich gebe dir Bescheid, sobald ich was weiß.«

»Und wenn sie nicht im Krankenhaus ist …«

»Dann frage ich bei der Garda nach, ob sie von irgendeinem Vorfall wissen, in den Aislyn involviert ist«, unterbrach ihn Declan erneut. »Bringt ihr euren Auftritt zu Ende. Ich melde mich, sobald ich was höre.«

»Danke, Dec!« Weil er nicht wusste, was er noch hätte sagen sollen, verabschiedete er sich mit einem kurzen »Slán!« und steckte das Smartphone ein.

Am liebsten hätte er den Auftritt geschmissen und jedes einzelne Krankenhaus in der Stadt abgefahren, um sich persönlich zu überzeugen, ob Aislyn in einem von ihnen lag. Er hatte das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, statt Musik zu machen, während Aislyn vielleicht schon längst etwas passiert war oder sie möglicherweise in akuter Gefahr schwebte. Aber er konnte die Band nicht hängen lassen. Er war der Leadsänger und Sologitarrist, und The Temple Bar hatte die Band in erster Linie wegen seiner Stimme und dem virtuosen Spiel auf den Saiten engagiert. Wenn er sich absetzte, wäre das nicht nur unfair gegenüber den anderen, sondern barg auch die Gefahr, dass das negativ auf die ganze Band zurückfiel. Also blieb er.

Immerhin lenkte die Konzentration auf die Musik ihn davon ab, ständig an Aislyn zu denken. Doch je weiter der Abend fortschritt, desto schwerer fiel ihm das. Nur seine Routine und dass er alle Stücke im Schlaf spielen und singen konnte, rettete ihn mehrfach vor groben Patzern. Er war mehr als froh, als der Auftritt endlich zu Ende war. Noch bevor er die Gitarre einpackte, nahm er sein Smartphone und kontrollierte, ob Declan oder Aislyn selbst angerufen hatte. Seine Hoffnung wurde ebenso enttäuscht wie seine Befürchtung.

Die geballt über ihn hereinbrach, als die Eingangstür geöffnet wurde und Declan in Begleitung von Jimmy hereinkam. Declans mitfühlender Gesichtsausdruck brüllte ihm das Schlimmste entgegen. Russel schüttelte den Kopf. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein! Er flehte Declan mit Blicken an, ihm zu bestätigen, dass alles in Ordnung sei, dass Aislyn wohlauf war, dass sie sich nur einen Tag Auszeit genommen hatte und er sie morgen wieder im Arm halten werde.

Declan legte ihm die Hand auf die Schulter. Das tat auch Jimmy.

»Heute Nachmittag wurde beim Hafen eine Leiche gefunden.« Declans Stimme klang wie aus weiter Ferne. »Es tut mir so leid, Russ, aber es ist Aislyn.«

Russel schüttelte den Kopf. »Das ist sie nicht. Das kann sie nicht sein.« Hatte er das tatsächlich gesagt?

»Sie muss noch offiziell identifiziert werden. Und ich habe mir gedacht, dass du sie sicherlich wirst sehen wollen. Die Nachtschicht in der Rechtsmedizin erwartet uns. Wenn du willst.«

Er nickte. Er musste Aislyn sehen. Musste sich persönlich davon überzeugen, dass sie es war. Sonst würde er das nie glauben können. Aislyn konnte einfach nicht – tot sein. Und schon gar nicht heute. Das Datum konnte doch nicht verflucht sein und Gott nicht so niederträchtig sein, ihm ein zweites Mal an einem zwanzigsten März das Liebste zu nehmen, was er hatte. Er ging zur Tür.

»Ich kümmere mich um deine Sachen«, hörte er Jimmy sagen.

Russel ging zu seinem Wagen, aber Declan hinderte ihn daran, ihn aufzuschließen. »Du fährst am besten mit uns. Deinen Wagen kannst du später noch abholen.«

Russel wollte zu Aislyn. So schnell wie möglich. Deshalb verzichtete er darauf, sich mit Declan darüber zu streiten, dass er sehr wohl in der Lage war, mit seinem eigenen Wagen zu fahren. Er folgte ihm. Als sie Declans Wagen erreichten, lud Jimmy Russels Gitarre in den Kofferraum und hielt ihm die Beifahrertür auf. Russel stieg ein und betete, dass Declan sich irrte und die Leiche nicht Aislyn war. Nicht Aislyn. Nicht Aislyn. Nicht …

Er bekam nur am Rande mit, dass der Wagen hielt, Declan irgendwann später mit einem Pförtner sprach und Russel durch endlos scheinende Gänge zur Leichenhalle geführt wurde. Dort erwartete sie eine Frau im grünen Kittel, der er seinen Ausweis vorzeigen musste.

»Sind Sie ein Verwandter der Toten?«, fragte sie.

»Er ist der Verlobte«, antwortete Declan, als Russel kein Wort herausbrachte. »Russel O’Leary.«

Die Frau sah ihn mitfühlend an. »Sind Sie sicher, dass Sie sich die Tote ansehen wollen?«

Russel nickte. Sie öffnete ein Schubfach, rollte eine Bahre heran und zog den Schlitten aus dem Fach auf die Bahre. Unter einem weißen Tuch lag etwas, das ein Mensch sein könnte oder auch nicht. Die Frau trat ans Kopfende und fasste das Tuch zu beiden Seiten. Sie blickte Russel an.

»Bereit?«

Nein, war er nicht. Aber wenn er sich der Realität nicht stellte, würde er keine Ruhe finden. Er nickte. Das Tuch wurde zurückgezogen und gab den Blick auf ein bleiches Gesicht frei, das von roten Haaren umrahmt war. Nicht Aislyn! Denn die Tote sah vollkommen fremd aus. Doch auf den zweiten Blick und auch auf den dritten und alle weiteren ließ sich nicht leugnen, dass die Frau Aislyn war. So bleich, kalt und fremd sie auch aussah, da war kein Zweifel möglich.

Russel hörte sich schluchzen und spürte etwas Warmes über sein Gesicht laufen. Begriff erst Augenblicke später, dass das Tränen waren. Er streckte die Hand nach Aislyn aus, um ihr Gesicht ein letztes Mal zu streicheln, aber Declan hielt die Hand fest.

»Wir wissen nicht, woran sie gestorben ist oder wie lange sie schon tot ist. Besser, du fasst sie nicht an, Russ.«

»Ist das Ihre Verlobte?«, vergewisserte sich die Frau im grünen Kittel.

Sie waren doch gar nicht verlobt gewesen. Dabei hatte Russel sich das und mehr so sehr gewünscht. Aber das war nun nicht mehr wichtig. Er nickte. »Aislyn O’Malley«, brachte er gerade noch fertig zu sagen. Dann sackten ihm die Beine weg.

Declan fing ihn auf, bevor er hinfiel, und half ihm, sich auf einen Stuhl zu setzen. Die Rechtsmedizinerin deckte sanft das Tuch wieder über Aislyn und schob den Schlitten ins Fach zurück.

»Ich nehme dann zu Protokoll, dass die bisher unbekannte Tote von ihrem Verlobten Russel O’Leary als Aislyn O’Malley identifiziert wurde.«

»Was – was ist denn mit ihr passiert?«, schaffte Russel zu fragen.

»Das wird die Obduktion zeigen. Soll ich nachsehen, für wann sie angesetzt ist?«

Declan schüttelte den Kopf. »Wir haben deine Zeit lange genug beansprucht. Ich bekomme ja im Anschluss die Akte auf den Tisch. Danke, Sarah.« Er legte Russel die Hand auf die Schulter. »Schaffst du es zurück zum Auto?«

»Sie können auch gern noch eine Weile sitzen bleiben«, bot Sarah an. »Möchten Sie ein Glas Wasser?«

Russel schüttelte den Kopf. Er hatte das Gefühl, nie wieder etwas in den Magen zu bekommen. Aislyn war tot. Wirklich und wahrhaftig tot. Er stemmte sich hoch und fühlte sich, als wäre er hundert Jahre alt und alle Kraft aus ihm gewichen.

»Danke«, murmelte er und wankte zur Tür.

Declan folgte ihm. »Wir fahren dich nach Hause«, entschied er.

Russel nickte. Dann fiel ihm ein: »Ihre Eltern. Ich habe versprochen, ihnen Bescheid zu geben, sobald ich was weiß. Das kann ich nicht einfach per Telefon machen.« Doch allein bei dem Gedanken, den O’Malleys die Hiobsbotschaft zu überbringen, drehte sich ihm der Magen um.

»Wir fahren dich hin«, bot Declan an.

Russel öffnete den Mund zum Protest.

»Und ich dulde keine Widerrede«, unterband Declan, was er hatte sagen wollen.

Russel schloss seinen Mund und nickte ergeben. Ihm fehlte die Kraft, mit Declan zu streiten. »Danke.«

Irgendwie schaffte er es zurück zum Auto, das gleich darauf mit ihm durch die Nacht fuhr. Ein Totentransport. Nicht nur, weil Aislyn unsichtbar neben ihm saß, sondern weil auch aus ihm alles Lebendige gewichen war und er sich wie tot fühlte. Wie vor neunzehn Jahren, als er nach Hause gebracht worden war und er erfahren hatte, dass er seine Mutter nie wiedersehen würde. Seine Welt hatte aufgehört zu existieren, war über ihm zusammengebrochen und hatte ihn unter sich begraben. Und er sah keine Veranlassung, je wieder unter den Trümmern hervor ins Licht zu kriechen.

Die Tote vom Dublin Port

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