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ZWEI

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Mittwoch, 20. März

Russel erwachte vom Zwitschern der Vögel vor dem Schlafzimmerfenster. Wohlig reckte er sich, drehte sich auf die andere Seite und fühlte sich großartig. Er hatte von Aislyn geträumt, wie er mit ihr barfuß am Strand der Strand Road im Sand lief, sie an der Hand hielt und die Sonne sie beide wärmte. Das Meer der Dublin Bay umspülte ihre Füße, und Aislyns strahlendes Lächeln erhellte den Tag mehr als die Sonne. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe, Russel?«

Er wusste das und spürte es in diesem Moment so deutlich, als hielte er Aislyn im Arm. Wohltuend, denn gerade heute brauchte er ihre Liebe und den Halt, den sie ihm gab, mehr als sonst. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es Viertel nach sieben war und er sich noch knappe zwölf Stunden gedulden musste, bis er Aislyn heute Abend in The Temple Bar traf, wo er wieder mit der Band für die Musik sorgte. Ihr Engagement dort dauerte noch bis Ende des Monats. Danach gab es ein paar Einzelauftritte, und ab Mai begann die Touristensaison mit Straßenmusik. Vorher wollten sie noch eine neue CD aufnehmen, um sie bei diesen Gelegenheiten zu verkaufen. Das war immer ein gutes Geschäft. Touristen liebten CDs, auf deren Covern die Band ihre Autogramme geschrieben hatte.

Russel stand auf, duschte, frühstückte, las die Irish Times und machte sich anschließend auf den Weg zum Glasnevin Friedhof beim Botanischen Garten. Wie jedes Jahr am zwanzigsten März. Und das seit achtzehn Jahren. Unzählige Leute hatten ihm versichert, dass der Gang dorthin mit jedem Jahr leichter werde. Doch das war eine Lüge, denn der Schmerz über den unerklärlichen Verlust kehrte mit jedem Besuch ungebremst zurück. Weshalb Russel vermied, zu anderen Zeiten als an ihrem Todestag das Grab seiner Mutter zu besuchen. Dass sie ihn, seine Schwester und seinen Vater sang- und klanglos verlassen hatte, nahm er ihr immer noch übel.

Was sicherlich daran lag, dass sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Eben noch war alles gewesen wie immer. Seine Mutter hatte ihn und Caitlin wie jeden Morgen auf den Schulweg geschickt, ihnen einen schönen Tag gewünscht, den obligatorischen Kuss gegeben und ihnen lächelnd nachgewinkt. Stunden später hatte ein Polizist, ein Kollege seines Vaters, ihn und Cait von der Schule abgeholt, weil »etwas mit der Mutter passiert« sei. Sein Vater hatte ihre Leiche gefunden, als er am Vormittag von einem Nachteinsatz nach Hause gekommen war. Da war sie schon seit ein paar Stunden tot gewesen: gestorben an einem elektrischen Schlag, als sie ein Bad hatte nehmen wollen und ihr versehentlich das eingeschaltete Radio ins Wasser gefallen war, während sie in der Wanne saß. Vermutlich hatte sie es lauter oder leise stellen wollen, war abgerutscht und …

Russel war sich nicht sicher, ob seine Mutter diese Todesart mit der bewussten Absicht gewählt hatte, dass alles wie ein Unfall aussah, oder ob sie nur die für sie am einfachsten durchzuführende Methode genommen hatte. Dass es kein Unfall war, war ihm, seinem Vater und Cait sonnenklar. Seine Mutter hat nie – niemals in ihrem ganzen Leben – morgens ein Bad genommen und niemals beim Baden Radio gehört. Erst recht nicht an einem Tag und zu einer Zeit, als sie in der Clontarf School of Music hätte unterrichten müssen, wo sie sich weder krankgemeldet noch Urlaub genommen hatte.

Ein Rätsel blieb der Grund für ihre Tat. Russel und Cait hatten sich die Schuld gegeben. Zwar war zumindest Russel nicht bewusst, dass er irgendetwas so Böses getan haben könnte, um seine Mutter in den Selbstmord zu treiben, aber er war wie alle Kinder kein Engel, wild und ungehorsam und manchmal patzig. Cait gab sich die Schuld, weil sie, mit fünfzehn mitten in der Pubertät, allzu oft die Rebellin herauskehrte. Noch am Vorabend hatte sie heftig mit ihrer Mutter wegen einer Nichtigkeit gestritten und sich nicht wieder mit ihr versöhnt.

Sein Vater versicherte ihnen beiden, dass die Mutter sie innig geliebt und ihnen alles verziehen habe, was sie wann auch immer angestellt haben mochten. Und dass ihr Entschluss zu sterben ganz gewiss nie im Leben mit ihnen zu tun habe. Stattdessen gab er sich selbst die Schuld. Wegen zu großer Schweigsamkeit, wegen zu häufiger Abwesenheit aufgrund von Spät- und Nachtschichten, wegen der Gefahr, in der er in seinem Beruf ständig schwebte und weil er nicht das Geringste davon mitbekommen hatte, dass seine Frau an seiner Seite am Leben so verzweifelt war, dass sie nur noch den Tod als einzigen Ausweg sah.

Ein Fehler, den er bei seinen Kindern vermeiden wollte, weswegen er sie nun ständig mit Fragen nach ihrem Befinden löcherte. Was sowohl Cait wie auch Russel aus dem Haus getrieben hatte, kaum dass sie achtzehn waren. Cait kehrte nach ihrer Ausbildung bei der Polizei ins Elternhaus zurück, denn kostenfreies Wohnen war für diesen Schritt ein nicht zu unterschätzendes Argument. Und ihr Vater zeigte bis heute kein Interesse an irgendeiner anderen Frau, was Cait zum Auszug hätte zwingen können. Russel blieb lieber für sich und zog später ins Haus seiner Großeltern.

Irgendwann fand sich ein Tagebuch der Mutter, versteckt im hintersten Winkel ihres Kleiderschrankes in einem alten Schuhkarton. Aber die Hoffnung, darin endlich die Antwort zu finden, warum sie sich umgebracht hatte, erfüllte sich nicht. Die letzte Eintragung war auf drei Tage vor ihrem Tod datiert und lautete lapidar: »Ich kann nicht mehr. Ende.« Was sie »nicht mehr konnte«, hatte sie nirgends notiert. Bis auf diese letzten Worte hatte sie drei Jahre zuvor aufgehört, das Tagebuch zu führen, obwohl gemäß dem damaligen Eintrag und auch den früheren Aufzeichnungen nichts, aber auch gar nichts darauf hindeutete, dass es etwas in ihrem Leben gab, das ihr Kummer bereitete. »Wir werden unsere Haustür rot anmalen«, hatte sie als Vorletztes notiert. »Ein leuchtender Farbtupfer in der Nachbarschaft. Das wird bestimmt lustig.« Danach hatte sie nur noch ihren Entschluss fürs finale Ende geschrieben.

Was die quälende Frage nach dem Warum immer noch unbeantwortet ließ. Und dieses Rätsel würde vermutlich nie gelöst werden.

Russel parkte seinen Wagen auf dem relativ leeren Parkplatz vor dem Friedhof. Um diese frühe Stunde war noch wenig los. Die Besucher des Botanischen Gartens würden erst später kommen. Caits Ford stand zwei Parkbuchten weiter. Demnach war ihr Vater auch schon da. Russel nahm die weiße Rose vom Beifahrersitz, die er gestern in einem Blumenladen gekauft hatte, und ging zu dem Grab seiner Mutter. Sie war hier beerdigt worden, weil sie in Glasnevin aufgewachsen war, obwohl die O’Learys in Rathfarnham wohnten.

Sein Vater und Cait standen bereits vor dem Grab und blickten auf den Grabstein aus grünem Connemara-Marmor, in den mit Goldlettern eingeprägt war: Niamh Ní Bhriain O’Leary, geliebte Ehefrau und Mutter, schmerzlichst vermisst. Dazu ihr Geburts- und Todestag. Eine rote und eine gelbe Rose lagen bereits auf der Steinplatte, mit der das Grab bedeckt war. Die rote stammte von Russels Vater, die gelbe von Cait.

Russel legte seine weiße dazu und stellte sich neben seinen Vater. Der nickte ihm stumm zu. Wieder einmal hatte Russel das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen, der ihm zeigte, wie er selbst in dreißig Jahren aussehen würde. Und ein Blick in Caits Züge offenbarte, wie er aussehen würde, wäre er ebenfalls ein Mädchen geworden. Sie waren zwar keine Zwillinge, sahen einander aber so ähnlich, dass jeder sie auf Anhieb als Geschwister erkannte. Cait lächelte zur Begrüßung und zwinkerte Russel zu.

Sein Vater legte den Arm um seine Schultern und zog ihn an sich. Den anderen Arm hatte er um Caits Schultern gelegt. Russel legte seinen um seines Vaters Taille, wo schon Caits Arm lag. Ihre Hand tastete nach seiner. Er ergriff sie und drückte sie fest. Eine lange Zeit standen sie schweigend vor den in der Erde vergrabenen Überresten der Frau, die ihnen alles bedeutet hatte. Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien und alles wirkte wunderbar, friedlich und schön.

Warum hatte sie das nur getan? Warum war sie einfach so gegangen und hatte ihre Kinder und ihren Mann im Stich gelassen? Was war so schrecklich gewesen, dass sie das Leben nicht mehr ertragen hatte?

Russel fiel es wie dem Rest seiner Familie sehr schwer, den Verlust zu verkraften. Declan, schon damals sein bester Freund, war ihm eine große Hilfe gewesen. Russel konnte die Nächte nicht zählen, die er bei den Walshs geschlafen hatte, weil Vater und Schwester mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt waren und keine Kraft hatten, Russel ausreichend zu trösten.

Hätte ihn jemand gefragt, er hätte überzeugend behauptet, über den Verlust hinweg zu sein. Schließlich war er ein erwachsener Mann von neunundzwanzig und kein halbverwaister Zehnjähriger mehr, dessen Welt komplett zusammengebrochen war. Aber der Tod seiner Mutter hatte eine tiefe Narbe in ihm hinterlassen. Declans unerschütterliche Freundschaft hatte geholfen, die Wunde zu schließen. Aber erst Aislyns Liebe und seine zu ihr glätteten auch die Narbe, erzeugten aber gleichzeitig eine tiefe Furcht, die er in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verbannte: die Furcht, dass sie ihn verlassen könnte. Egal auf welche Weise.

Sein Vater drückte ihn und Cait noch einmal fest an sich, das stumme Zeichen, dass die alljährliche Trauerzeremonie vorüber war. Er ließ seine Kinder los, warf wie immer dem Grabstein einen Luftkuss zu und sprach einen kurzen Segen auf Gälisch, ehe er sich vom Grab abwandte. Er legte Russel die Hand auf die Schulter, während sie zum Parkplatz gingen.

»Wie geht es dir, Sohn?«

»Wie immer, Dad.« Was Russel, wie sein Vater wusste, auf diesen Moment bezog, nicht auf den Rest seines Lebens.

Cait hakte sich an der anderen Seite bei ihm unter. »Und wann dürfen wir dich zum Traualter schleifen? Führen, meine ich.«

Russel grinste flüchtig. »Sobald Aislyn Ja sagt.«

Cait fletschte die Zähne und knurrte. »Ich werde sie mit vorgehaltener Pistole noch heute dazu zwingen.«

Russel schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nicht. Sie wird zustimmen, sobald sie soweit ist.«

Sein Vater sah ihn ernst an. »Was mich zu der Frage bringt, ob du überhaupt in der Lage bist, Frau und Kinder zu ernähren.«

Russel verdrehte die Augen und seufzte. »Dad, wir leben in modernen Zeiten, in denen die Frauen ihr eigenes Geld verdienen und keinen Mann brauchen, durch den sie versorgt sind.«

»Amen!«, stimme Cait ihm nachdrücklich zu und strafte ihren Vater mit einem missbilligenden Blick.

»Aber ja«, bestätigte Russel, »sollte es hart auf hart kommen, reicht mein Verdienst als Musiker und Privatermittler aus, um uns beide und die künftigen Kinder sorgenfrei über die Runden zu bringen.« Er sah auf die Uhr. »Weshalb ich mich sputen sollte, denn ich habe in einer knappen Stunde ein Treffen mit potenziellen neuen Klienten.«

»Kommst du Sonntag mal wieder zum Essen?«, lud sein Vater ihn ein. »Ich mache uns Rabbit Stew. Aislyn ist natürlich auch eingeladen.«

»Ich werde sie fragen. Und ja, ich komme gern. Mit ihr oder ohne sie. Sie hat Montag ein Vorspielen und will noch viel üben.«

Sie hatten den Parkplatz erreicht und verabschiedeten sich mit der üblichen Umarmung.

»Halt die Ohren steif, kleiner Bruder«, wünschte Cait, ehe sie ins Auto stieg. Sein Vater nickte ihm noch einmal zu und hob grüßend die Hand, bevor er ebenfalls einstieg.

Russel setzte sich in seinen Wagen und fuhr los, froh, für dieses Jahr die quälende Warum-Frage abhaken zu können.


Die Uhr zeigte halb zehn, als er zu Hause ankam. Er parkte den Wagen vor der Garage, denn er würde ihn wahrscheinlich heute noch einmal brauchen. Ein Blick im Vorbeigehen in den Spiegel im Flur zeigte ihm, dass er präsentabel aussah und sich nicht umziehen musste. Deshalb ging er hinüber in sein winziges Büro, ein kleines Zimmer, das seine Großeltern als Vorratsraum genutzt hatten. Früher war es mit Regalen vollgestellt gewesen, in denen sich Konserven, verschlussdichte Dosen mit verschiedenem Inhalt, kiloweise Tee und zig Gläser mit Großmutters selbstgemachter Marmelade dicht an dicht gereiht hatten.

Er hatte die Regale entfernt und zwei Schreibtische im rechten Winkel hineingestellt. Auf einem standen sein Computer, der Drucker, das Festnetztelefon und der Kopierer. Vor den anderen hatte er zwei Besucherstühle gestellt. Fünf mit modernsten Safeschlössern versehene Hängeregisterschränke täuschten vor, dass Privatermittler Russel O’Leary gut zu tun hatte, denn nur er wusste, dass alle leer waren und nur im ersten gerade mal hundertfünf Akten aus vier Jahren hingen. Gesetzesbücher und andere juristische Fachliteratur im Regal daneben sollten Seriosität demonstrieren. Auf die legte er großen Wert, denn ein Detektiv, der sich nicht an die Gesetze hielt, bekam sehr schnell einen schlechten Ruf und keine Aufträge mehr. Deshalb hatte er diese Bücher auch gelesen. Wenn er sich mal in einem Punkt nicht sicher war, konnte er immer noch Declan um Rat fragen. Eine Reihe von Fachbüchern über verschiedene Formen von Wirtschaftskriminalität, Bankwesen und andere Gebiete vervollständigten die Sammlung.

Russel setzte sich an den Computer, um die Songtexte zu tippen, die als Booklet der neuen CD beigefügt werden sollten, während er auf das Eintreffen seiner neuen Klienten wartete, die um zehn Uhr kommen wollten. Ihre Pünktlichkeit oder Verspätung würde ihm vorab einen Hinweis geben, wie wichtig ihnen die Angelegenheit war, über die Mrs Rafferty am Telefon nicht hatte sprechen wollen, als sie gestern den Termin vereinbart hatte. Doch wenn sie und ihr Mann kamen, sähe es unprofessionell aus, wenn Russel nur am Schreibtisch säße und die Zeitung las.

Die Türklingel läutete, kaum dass er den Computer hochgefahren hatte: zwanzig Minuten vor zehn. Russel ging zur Tür. Als er sie öffnete, sah er sich einem Ehepaar mittleren Alters gegenüber, das sichtlich besorgt und verzweifelt wirkte.

»Mrs und Mr Rafferty?«, vergewisserte er sich.

Beide nickten.

»Bitte, treten Sie ein. Gleich hier die Tür links, bitte.«

Die Raffertys gingen ins Arbeitszimmer und sahen sich um wie bisher alle Klienten. Und wie bei allen ihren Vorgängern verfehlten die Accessoires nicht ihre Wirkung, denn zumindest Mr Raffertys Gesichtsausdruck wandelte sich von Besorgnis zu moderater Zuversicht.

»Nehmen Sie Platz.« Russel deutete auf die Stühle. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Orangensaft, Mineralwasser? Oder Kaffee? Etwas Stärkeres?«

Mr Rafferty nickte. »Ein Whiskey wäre nicht schlecht.«

»Bren!«, rügte seine Frau. »Um diese Zeit?«

Russel lächelte. »Irish Coffee?«, bot er an.

»Das wäre wundervoll«, stimmte Bren Rafferty zu, und seine Frau nickte zögernd.

»Entschuldigen Sie mich einen Moment.«

Russel ging in die Küche, um zwei Portionen des Getränks zuzubereiten, was den Raffertys Gelegenheit gab, sich genauer umzusehen und zu dem Schluss zu kommen, mit ihm eine gute Wahl getroffen zu haben. Nicht nur um des guten Eindrucks willen gab er sich besondere Mühe mit dem Irish Coffee und servierte ihn gekonnt wie ein Kellner. Als der er sich auch schon mal versucht hatte und deshalb das Metier beherrschte.

Anschließend setzte er sich wieder hinter den Schreibtisch, nahm einen Notizblock und einen Stift zur Hand und blickte die beiden auffordernd an. »Was kann ich für Sie tun?«

»Unsere Tochter ist verschwunden«, platzte Mrs Rafferty heraus. »Und die Polizei tut nichts!« Sie brach in Tränen aus.

Russel reichte ihr ein Papiertaschentuch aus einer Spenderbox auf dem Tisch, die er dort vorsorglich für solche Fälle stehen hatte. »Wenn die Polizei ›nichts‹ tut, vermute ich, Ihre Tochter ist erwachsen und kein Kind mehr.«

Bren Rafferty nickte und wischte sich einen kleinen Sahnerückstand vom Irish Coffee von der Oberlippe. »Sie wurde vor zwei Monaten achtzehn. Aber einfach wegzubleiben und sich tagelang nicht zu melden – das sieht Edana überhaupt nicht ähnlich.«

»Wann ist sie verschwunden? Und wie? Von zu Hause?«

Rafferty schüttelte den Kopf. »Sie ist vor vier Tagen wie jeden Morgen aus dem Haus gegangen und zur Uni gefahren. Sie studiert Mathematik im ersten Semester am Trinity College. Und sie ist einfach nicht wieder nach Hause gekommen.« Rafferty schluckte und kämpfte sichtbar gegen aufsteigende Tränen an. Statt sie zu vergießen, nahm er einen weiteren Schluck des heißen Getränks, setzte das Glas ab und schüttelte den Kopf. »Und seitdem gibt es keine Spur von ihr.«

»Wir haben alle ihre Freunde angerufen, auch im College nachgefragt«, ergänzte seine Frau und knetete das Taschentuch. »Aber angeblich weiß niemand was. Und das kann es doch nicht geben! Irgendwer muss doch wissen, wo Eddie zuletzt war oder was sie vorhatte.«

Davon war Russel überzeugt. Er erinnerte sich noch gut an seine Zeit als Teenager. Declan war über alle seine geheimen Vorhaben informiert gewesen und hatte ihn gegenüber seinen Eltern gedeckt, wenn es sein musste. Und sei es nur dadurch, dass er auf deren Nachfragen vorgegeben hatte, nichts über Russels Pläne oder seinen Aufenthaltsort zu wissen.

»Hat sie einen Freund?«

Rafferty nickte. »Er hat sie auch seit der gemeinsamen Vorlesung am College nicht mehr gesehen und ist ebenso besorgt wie wir.«

Russel hatte halb erwartet, den üblichen Spruch blauäugiger Eltern von jungen Mädchen zu hören: Aber nein, dafür ist unsere Tochter doch noch VIEL zu jung! Oder: Aber nein, dafür hat sie keine Zeit, sie konzentriert sich ganz auf die Schule/ihre Ausbildung/das Studium. Dass die Raffertys vom Freund wussten und die Beziehung Russels Eindruck nach offenbar billigten, sprach für ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Tochter. Das wollte jedoch nichts heißen. Auch Russel hatte schon immer ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Eltern. Seit dem Tod seiner Mutter war das zu seinem Vater und zu Cait noch enger geworden. Aber das bedeutete nicht, dass er ihnen alles auf die Nase band. Gewisse Dinge behielt er grundsätzlich für sich.

»Der Freund ist also immer noch da und nicht ebenfalls verschwunden?«, vergewisserte sich.

»Ja, natürlich.« Mrs Rafferty blickte ihn an, als habe er eine extrem dumme Frage gestellt.

Russel lächelte. »Damit ist ausgeschlossen, dass die beiden zusammen durchgebrannt sind«, erklärte er.

»Eddie würde nie durchbrennen!«, war Mrs Rafferty im Brustton empörter Elternliebe überzeugt.

Noch so eine Blauäugigkeit, der Russel nicht zum ersten Mal begegnete. Gerade bei ernsthaften Problemen in der Familie verstanden es Kinder und Jugendliche oft hervorragend, so zu tun, als wäre alles in Ordnung, während sie heimlich ihre Flucht planten. Von der die Eltern dann völlig überrascht waren, weil nach ihrem Wissen doch alles in bester Ordnung gewesen war.

Genau wie bei manchen Selbstmördern. Sie funktionierten nach außen hin so gut, dass nicht einmal der engste Familienkreis mitbekam, wie schlecht es ihnen in Wahrheit ging. Oder dass es ihnen überhaupt schlecht ging. Es bedurfte nur eines überzeugenden falschen Lächelns, um alle Welt glauben zu lassen, das Leben sei wunderbar und alles in bester Ordnung. Wie bei seiner stets fröhlichen, allseits beliebten Mutter.

Er schüttelte die düsteren Gedanken ab und konzentrierte sich wieder auf den neuen Fall. »Ich brauche bitte den Namen des Freundes. Und seine Handynummer, wenn Sie die haben. Und idealerweise auch eine Liste aller anderen Freundinnen und Freunden von Edana. Die Namen der Leiter ihrer Collegekurse und alles, was Sie mir sonst noch sagen können. Hobbys, Lieblingsorte, wo sie sich immer gern aufhält – alles.« Er lächelte entschuldigend. »Ich weiß, Sie haben schon alles abgesucht und alle Leute abtelefoniert. Aber Sie sind besorgte Eltern, ich bin professioneller Ermittler. Ich sehe vielleicht Hinweise oder Spuren, die Ihnen entgangen sind.«

Rafferty nickte. Er holte einen Briefumschlag aus der Innentasche seines Mantels und reichte ihn Russel. Russel öffnete ihn und zog den Inhalt heraus. Auf mehreren ausgedruckten Bögen standen Namen, Adressen, Telefonnummern, eine Auflistung der Kurse, die Edana Rafferty am Trinity College belegt hatte, Informationen zu ihren Hobbys und alle Orte, an denen sie sich gern aufhielt. Ein Foto von ihr lag dem ebenfalls bei: ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen mit blauen Augen und einem spitzbübischen Lächeln, deren lockiges Haar ihr fast bis zum Hintern reichte.

»Das hilft mir enorm weiter. Vielen Dank.«

Bren Rafferty schnaufte ungehalten. »Die Liste haben wir vorsorglich für die Polizei angefertigt. Hat die nicht interessiert. Solange kein konkreter Hinweis auf ein Verbrechen vorliegt, haben die keine Veranlassung und auch keine Kapazität, für nichts und wieder nichts einem Mädchen nachzujagen, das einfach mal ein paar Tage blau macht. Das sagte man uns ins Gesicht. Wortwörtlich!«

Russel schüttelte den Kopf. »Von mir werden Sie so etwas nicht zu hören bekommen. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich Ihre Tochter finde, aber ich beginne sofort mit der Suche, und ich gebe niemals auf. Was mein Honorar betrifft …«

»Fünfzig Euro die Stunde plus Spesen steht auf Ihrer Website.« Rafferty nickte. »Es ist uns egal, wie viel es kostet und wie lange es dauert. Wir haben Erspartes. Wir können es uns leisten. Wir müssen nur wissen, was mit Eddie ist. Sie ist bestimmt nicht weggelaufen. Ihr muss etwas zugestoßen sein.«

Seine Frau begann wieder zu weinen, und auch er selbst kämpfte erneut mit den Tränen. Russel war versucht ihnen zu versichern, er werde die Tochter finden, um sie zu trösten. Aber er wusste von Declan, wie tückisch so ein Versprechen war. Es erweckte in den Eltern Hoffnung, die sich möglicherweise – nach vier Tagen spurlosen Verschwindens sogar wahrscheinlich – nicht erfüllen würde. Und die Schuld daran bekam im Fall eines Verbrechens nicht etwa der Täter oder bei einem Unfall das niederträchtige Schicksal, sondern der Mensch, der den Angehörigen indirekt versprochen hatte, alles werde wieder gut. Keine gute Reputation für einen Privatermittler.

Russel lächelte erneut. »Ich wollte sagen: Was mein Honorar betrifft, so werde ich Ihnen alle Kosten minutiös nachweisen. Mit täglichem Bericht, wenn Sie den wollen.«

Rafferty winkte ab. »Das können Sie halten, wie Sie es immer tun. Wir wollen nur unsere Tochter zurück.« Er legte den Arm um seine Frau, zog sie an sich und strich ihr tröstend über das Haar. Eine Geste, die ihn spürbar ebenso trösten sollte wie sie.

Russel rollte mit dem Stuhl vor den Computer, füllte ein Vertragsformular aus und druckte es zweifach aus. »Wenn Sie das bitte unterschreiben würden. Und beachten Sie bitte den Passus über die Legalität.« Er deutete auf den entsprechenden Abschnitt.

Darin machte er die Klienten darauf aufmerksam, dass er zur Erfüllung des ihm erteilten Auftrages ausschließlich legale Mittel einsetzte. Zu diesem Passus hatte Declan ihm geraten, weil das von vornherein alle Leute abschreckte, die ihr Wissen über Detektive aus schlechten Romanen und Filmen hatten, in denen die Leute sich den Teufel um Gesetze scherten und zur Lösung ihrer Fälle eine Straftat nach der nächsten begingen. Erst recht schreckte es diejenigen ab, die illegale Mittel sogar erwarteten.

Russel hatte schon mehr als ein Angebot erhalten, in dem es um einen Streit ums Sorgerecht ging, bei dem man ihn aufgefordert hatte, der gegnerischen Partei Beweise für eine angebliche Gefährdung des Kindeswohls unterzuschieben oder sie sogar in eine entsprechende Falle zu locken. Solche Aufträge lehnte er ab. Ebenso die, bei denen ein Ehemann seine Frau loswerden wollte, indem er ihr Untreue unterstellte und Russel beauftragte, die Frau zu diesem Zweck zu verführen und entsprechende Fotos zu machen.

Die Raffertys zeigten sich erneut beeindruckt und unterschrieben den Vertrag.

»Ich glaube, bei Ihnen sind wir in guten Händen, Mr O’Leary«, war Mrs Rafferty überzeugt.

»Ich tue mein Möglichstes.« Das einzige Versprechen, das er zu geben bereit war, denn das konnte er problemlos einhalten.

»Und«, Rafferty blickte seine Frau an, die ihm zunickte, »bitte melden Sie sich nur, wenn Sie etwas Wichtiges erfahren haben. Ständige Meldungen, in denen Sie uns nur mitteilen, dass Sie nichts wissen – ich glaube, die ertragen wir nicht.«

»Wie Sie wünschen.«

»Sie fangen sofort mit der Suche an?«, vergewisserte sich Mrs Rafferty.

Russel nickte. »Sobald Sie keine Fragen mehr haben oder mir noch etwas mitteilen möchten, lege ich los.«

Das Paar stand hastig auf. Mrs Rafferty ergriff seine Hand. »Wir überlassen Sie Ihrer Arbeit, Mr O’Leary. Je schneller Sie anfangen können, desto besser.«

Russel erhob sich ebenfalls und geleitete sie zur Tür.

»Danke, Mr O’Leary.« Mrs Raffertys Stimme klang inbrünstig. »Wir wissen, Sie tun Ihr Bestes.«

»Immer.« Aber ihm war nur allzu bewusst, dass sein Bestes nicht immer ausreichte. Oder nicht das Ergebnis brachte, das seine Klientel sich wünschte. »Auf Wiedersehen.«

Russel schloss die Tür hinter den beiden, räumte Raffertys leeres und Mrs Raffertys unberührtes Glas Irish Coffee in die Küche und begann wie versprochen mit den Nachforschungen. Er checkte die sozialen Medien, ob Edana Rafferty in den letzten Tagen irgendetwas gepostet hatte. Aber seit ihrem Verschwinden war das nicht der Fall. Er überprüfte die Chats ihres Freundeskreises in den sozialen Netzwerken und wunderte sich wieder einmal, wie leichtfertig die Leute mit ihren Daten und vor allem den Fotos umgingen. Für seine Arbeit war das jedoch ein Glücksfall.

Er stellte fest, dass alle sich mehr oder weniger große Sorgen machten. Ihr Freund Toby McGowan schien ehrlich besorgt. Er hatte ihr Foto öffentlich gepostet mit der Bitte, man möge sich melden, falls jemand Eddie sehen sollte. Eine junge Frau fiel ihm besonders auf: Gina Rossi. Sie wiegelte nicht nur Tobys Besorgnis ab, sondern betonte immer wieder, dass Eddie bestimmt nur mal eine Woche blau machte und ihr ganz sicher nichts passiert sei. Laut der Liste, die die Raffertys ihm überlassen hatten, war Gina Edanas beste Freundin, diejenige, die sich zusammen mit Toby die größten Sorgen über ihr sang- und klangloses Verschwinden hätte machen müssen. Es sei denn, sie wusste genau, dass Edana nicht »verschwunden« war.

Russel beschloss, bei ihr mit seinen Nachforschungen anzufangen. Die Liste der Raffertys war wirklich ausführlich, denn sie hatten hinter jeden Namen nicht nur die Beziehung zu ihrer Tochter geschrieben, sondern bei ihren Kommilitonen auch, in welchem Kurs sie zusammen mit Edana waren. Anhand dessen genügte ein Blick ins Kursverzeichnis auf der Website des Trinity Colleges, um Russel zu zeigen, dass Gina in einem Mathematikkurs saß, der um elf Uhr endete. Zeit genug, um zum College zu fahren und sie abzupassen. Dank ihrer überaus zahlreich geposteten Fotos wusste er, wie sie aussah, und konnte sie nicht verfehlen. Er machte sich auf den Weg.


Declan betrachtete die »Opferwand« eines offenen Falles, den das National Bureau of Criminal Investigation in einer Task Force bearbeitete. Siebzehn junge Frauen – die Älteste gerade mal sechsundzwanzig – waren dort als Fotos aufgereiht. Die meisten Bilder zeigten lachende Gesichter oder Ganzkörperposen, die ebenfalls fröhlich wirkten. Sieben Bilder waren Leichenfotos, drei davon von noch immer nicht identifizierten Opfern. Sie alle wiesen zwei Gemeinsamkeiten auf. Alle Frauen waren nicht nur jung, sondern auch schön. Nicht unbedingt atemberaubend, aber hübscher als der Durchschnitt. Und sie alle waren als vermisst gemeldet; bestimmt auch die noch nicht identifizierten Opfer. Die anderen zehn wurden ebenfalls noch vermisst.

Alle diese Frauen waren nur die mögliche Spitze eines Eisbergs. Bestimmt gab es noch weitere, die entweder bisher nicht vermisst wurden oder deren Fälle nicht demselben Modus Operandi zugeordnet werden konnten. Der deutete auf die Umtriebe einer Bande hin, die gezielt junge Frauen entführte, um sie vermutlich als Sexsklavinnen zu verkaufen. Eines der inzwischen toten Opfer – Deirdre Fitzgerald – war ihnen entkommen. Von ihr stammte der Hinweis auf die Vorgehensweise der Bande. Durch sie war das NBCI überhaupt erst darauf gekommen, dass die Vermisstenfälle und die Todesfälle zusammenhängen könnten.

Laut Aussage von Deirdre Fitzgerald sprach ein Mann die Frauen an, verabredete sich ein paarmal mit ihnen und lud sie dann auf seine Yacht ein. Vorher nahm er noch einen Drink mit ihnen an einer Hotelbar. Miss Fitzgerald war nach dem Genuss des Drinks schwindelig geworden, hatte wohl auch Bewusstseinsstörungen gehabt, und der Mann, der sich ihr als John Craig vorgestellt hatte, hatte angeboten, sie nach Hause zu fahren. Wo sie nie angekommen war. Stattdessen war sie irgendwann auf einem Boot zu sich gekommen, eingesperrt in einer Kabine. Tagelang hatte man sie dort festgehalten und sie zwischendurch immer wieder unter Drogen gesetzt und zu Nacktfotos und teilweise auch zu Sexvideos gezwungen.

Sie war nicht die einzige Frau an Bord der Yacht gewesen, denn ihr waren noch zwei weitere mutmaßliche Opfer begegnet, als sie an Gruppenfotos hatte teilnehmen müssen. Das Boot war auch nicht immer im Hafen geblieben, sondern oft aufs Meer hinausgefahren. Und eines Nachts hatte sie gesehen, wie man eine leblose Frau über Bord geworfen hatte, die sie anhand der Vermisstenfotos identifizieren konnte. Bei ihr hatte die Obduktion Tod durch eine Überdosis Heroin ergeben, das sie schon seit einiger Zeit regelmäßig genommen haben musste und das man auch Deirdre gegen ihren Willen verabreicht hatte. Eine weitere Frau, die immer noch vermisst wurde, war ebenfalls an Bord gewesen.

Als das Boot wieder einmal in einem Hafen gelegen hatte, konnte Deirdre über Bord springen und sich an Land retten. Hatte Hilfe gefunden und sich zur Polizei bringen lassen, bevor ihre Entführer sie wieder einfangen konnten. Leider konnte Deirdre Fitzgerald keine allzu genauen Angaben machen. Sie kannte weder den Namen der Yacht noch den irgendeines anderen Menschen an Bord; nur zwei Vornamen – Jerry und Loreena – die aber vermutlich nicht echt waren. Denn unnötig zu erwähnen, dass »John Craig« gar nicht existierte. Zwar gab es in Irland etliche Männer dieses Namens, die im entsprechenden Alter waren, das Deirdre Fitzgerald als zwischen dreißig und fünfunddreißig eingeordnet hatte, aber sie alle hatten für die Zeit ihrer Entführung ein Alibi. Und keiner war Gast in dem Hotel gewesen, an dessen Bar er ihr ein Betäubungsmittel eingeflößt hatte.

Doch bevor die Polizei ein Phantombild hatte anfertigen können, war sie einem Unfall mit Fahrerflucht zum Opfer gefallen, kaum dass man sie nach der ersten Befragung nach Hause entlassen hatte. An dem Vorsatz der Tat, begangen mit einem gestohlenen Wagen, den man später ausgebrannt am Kanal in der Nähe des Goldenbridge Friedhofs gefunden hatte, bestand kein Zweifel. Ganz offensichtlich hatte man die einzige Zeugin zum Schweigen bringen wollen. Leider mit Erfolg.

Auch die anderen Toten waren teilweise durch eine Überdosis Heroin gestorben. Einige hatte man anschließend ins Meer geworfen, andere an Land abgelegt. Zwei hatten zwar eine Überdosis im Blut gehabt, waren aber ertrunken. Allerdings waren Declan und die anderen Teammitglieder der Task Force »Hafen« noch nicht dahinter gekommen, nach welchen Kriterien die Bande entschied, wann eine Frau sterben musste. Denn in einigen Fällen waren die Frauen nur wenige Tage nach ihrem Verschwinden gestorben, in anderen erst Monate später. Alles in allem trieb die Bande seit mindestens zwei Jahren in Dublin ihr Unwesen.

Laut Deirdre Fitzgerald gehörte auch die von ihr erwähnte Loreena dazu, eine angeblich umwerfend schöne Rothaarige, die mit Leinster-Akzent sprach und deshalb höchstwahrscheinlich in Dublin oder der Umgebung zu Hause war. Diese Frau sorgte dafür, dass die Gefangenen für die Fotos ausstaffiert wurden und hatte sicherlich nicht nur Deirdre Fitzgerald die Sache als tollen Job und prima Chance auf ein Leben in Reichtum schmackhaft zu machen versucht. Wer trotzdem nicht mitmachen wollte, wurde mit Drogen willenlos gemacht.

Vielleicht war das der Schlüssel zu den Morden und den immer noch Vermissten. Wer sich von Loreena überzeugen ließ und die »Chance« mehr oder weniger freiwillig ergriff, blieb am Leben. Und meldete sich nicht mehr bei der Familie, weil zuzugeben, dass man einer Tätigkeit als Model für Sexfotos und -filmchen oder sogar als Callgirl nachging, nicht gerade ein Aushängeschild war. Wer sich nicht darauf einließ, landete mit einer Überdosis im Blut im Leichenschauhaus.

Declan schüttelte den Kopf. Was diese Bande trieb, war übel genug. Aber was veranlasste eine Frau dazu, das auch noch zu unterstützen und anderen Frauen gut zuzureden, das alles sei doch gar nicht schlimm, sondern eine tolle Chance? Er konnte sich das nur mit dem Stockholm-Syndrom erklären: Erst war sie vermutlich selbst Opfer gewesen, und um zu überleben, hatte ihre Seele sich alles schöngeredet und die Täter in Retter umgewandelt. Aber Stockholm oder nicht, die Frau war an Schwerverbrechen beteiligt, für die sie sich würde verantworten müssen.

Leider stagnierten die Ermittlungen gegenwärtig. Deshalb war die Task Force, zu der auch Leute vom National Drugs and Organized Crime Bureau gehörten, mit anderen Fällen beschäftigt. Die beiden Abteilungsleitenden – Chief Superintendent Jane O’Grady und Chief Superintendent Bruce Kavanagh – hatten sich geeinigt, dass das NBCI die Mord- und Vermisstenfälle weiter bearbeitete, während das NDOCB versuchte, über die Drogenszene die Leute von der Yacht zu finden, und die Task Force erst wieder zusammentreten würde, wenn eine der beiden Abteilungen eine neue Spur hatte.

»Hoffst du auf eine Eingebung oder dass die Bilder mit dir sprechen, wenn du sie lange genug anstarrst?«, riss ihn seine Kollegin Maureen O’Brien aus den Gedanken.

»Ja, das hatte ich gehofft. Aber leider schweigen sie sich aus.«

Maureen grinste flüchtig und legte einen Stapel Ausdrucke vor ihn auf den Tisch. »Die Liste der Yachthafenbelegung von Dún Laoghaire. Die Verwaltung hat sie endlich rausgerückt.« Das klang erleichtert und genervt zugleich.

Kein Wunder, denn einen Beschluss für die Offenlegung der Daten zu bekommen, welches Boot wann und wie lange im Hafen gelegen hatte, war schwierig ohne ein konkretes und schwerwiegendes Indiz, dass ein Bootseigner in die Vermissten- und mutmaßlichen Entführungsfälle involviert war. Irgendjemand bei der Staatsanwaltschaft hatte wohl an entsprechender Stelle einen Gefallen eingefordert. Declan hoffte, dass ihnen die Liste weiterhalf. Er nahm sie und stellte fest, dass sie hundertachtundsechzig doppelseitig bedruckte Blätter enthielt. Darauf standen die Daten von allen Booten, die ab einem halben Jahr vor dem ersten Vermisstenfall bis heute in der Marina von Dún Laoghaire gelegen hatten.

Auf die zehn Kilometer von Dublin entfernte Marina waren die Ermittler gekommen, weil Deirdre Fitzgerald einmal vom Bullauge ihres Gefängnisses aus in der Ferne etwas gesehen hatte, dessen Beschreibung nach – »wie eine rote Mütze auf einer Säule« – das Boyd Memorial auf dem East Pier von Dún Laoghaire sein könnte. Da sie aber nie zuvor dort gewesen war und sich nicht für solche Dinge interessiert hatte, konnte sie das nicht mit Sicherheit sagen. Und bevor man ihr ein Foto des Denkmals zur eindeutigen Identifizierung hatte zeigen können, war sie bereits tot gewesen. Somit konnte die Yacht in Dún Laoghaire gelegen haben oder anderswo. Schließlich gab es mehrere Yachtclubs und Marinas entlang der Küste bei Dublin, wenn auch keine so großen wie die von Dún Laoghaire.

Man kannte die Daten der Vermisstenanzeigen und dadurch auch die Tage, an denen die Frauen verschwunden waren. Wenn man diese Daten mit den Liegezeiten der Yachten und anderen Boote abglich und die herauspickte, die zur selben Zeit vor Ort gewesen waren, grenzte das die Zahl der Verdächtigen erheblich ein. Niemand aus der Abteilung wagte zu hoffen, dass am Ende nur eine Yacht übrig bliebe. Dazu besuchten zu viele Stammgäste die Marina regelmäßig, und einige Bootsbesitzer aus der Gegend hatten dort ihren ständigen Liegeplatz. Aber es war ein Anhaltspunkt. Und mit angeblichen Routinefragen nach unverfänglichen Dingen konnte die Garda die infrage kommenden Boote überprüfen. Falls aber zu viele der vermissten Frauen auf die »tolle Chance« hereingefallen waren und beteuerten, sich freiwillig an Bord aufzuhalten oder dazu gezwungen wurden, das auszusagen, konnte man nichts machen, selbst wenn man das gesuchte Boot fand.

Declan teilte den Stapel und reichte Maureen eine Hälfte. »An die Arbeit!«

Sie schnitt eine Grimasse. »Was glaubst du, was ich schon die ganze Zeit tue?« Sie nahm den Stapel und kehrte an ihren Platz zurück.

Declan nahm seinen, legte die Liste der Vermisstendaten daneben und machte sich an seinen Teil der Arbeit.


Trinity College. Russel besuchte den imposanten Bau immer wieder gerne, besonders das alte Gebäude mit seiner trutzigen Architektur, wie sie im achtzehnten Jahrhundert für solche Gebäude üblich gewesen war. Oft kam er abends noch nach einem Auftritt vorbei und genoss den Anblick der erleuchteten Bauten. Besonders die Bibliothek hatte es ihm angetan, die wahre Buchschätze beherbergte. Nicht nur das berühmte »Book of Kells«, das handgeschrieben die vier Evangelien enthielt – kunstvoll verziert mit wunderbaren Zeichnungen und Initialen – und das jeden Tag eine Seite weitergeblättert wurde. Russel hatte sich vor ein paar Jahren nur deshalb eine Jahreskarte für den Eintritt gekauft, um jeden Tag hinzugehen und alle 340 Seiten einmal anzusehen. Declan hatte ihn deswegen für verrückt erklärt, aber für Russel war es ein unvergleichliches Erlebnis gewesen, jede einzelne Seite des Originals zu sehen.

Außerdem beherbergte die Bibliothek auch alte Liedersammlungen, und er kam öfter her, um sich aus denen Inspiration für neue Interpretationen der alten irischen Musik zu holen. Er hatte mit der Band schon überlegt, ob sie aus der Neuinterpretation der alten Songs nicht ein Markenzeichen für sich machen sollten, das sie von allen anderen Folkbands abhob. Und ob sie sich nicht einen zündenden Bandnamen geben sollten. Bisher nannten sie sich schlicht »The Four«, obwohl sie zu fünft waren. Allerdings konnte Mary nicht immer zu den Proben und Auftritten kommen, sodass ihre Stammbesetzung tatsächlich nur vier betrug. Außerdem standen die Buchstaben F, O, U und R auch für die Initialen ihrer Namen: Fynn, Owain, Urda und Russel, weshalb »The Four« auch deshalb passte.

Doch Russel war nicht wegen der Songs oder der Architektur gekommen. Er hielt nach Gina Rossi Ausschau. Laut ihrem Facebook-Account war sie eine Austauschstudentin aus Neapel. Die in diesem Moment aus dem Hauptgebäude kam. Sie sah genauso aus wie auf ihren Fotos: jung, dunkelhaarig, sportliche Figur. Sie bewegte sich tänzerisch, als wollte sie durch ihre Bewegungen ihre Vorzüge ins rechte Licht rücken. Zumindest auf einen Teil ihrer männlichen Kommilitonen verfehlte das seine Wirkung nicht, denn die umschwärmten sie in einem Pulk zu viert und ließen kaum ein Auge von ihr.

Russel vertrat ihr den Weg. »Guten Tag, Miss Rossi. Mein Name ist Russel O’Leary. Ich bin Privatermittler und wurde von Edana Raffertys Eltern beauftragt, ihre Tochter zu finden.« Er reichte ihr eine Visitenkarte.

Gina Rossi ignorierte die Karte, starrte aber Russel erschrocken an. »Ich weiß nichts!«, beteuerte sie. »Das habe ich Mr und Mrs Rafferty schon gesagt.«

Ihre Stimme klang weich, und sie hatte einen deutlichen Akzent. Aber Russel hörte auch Angst in ihrem Tonfall. Gina wollte sich an ihm vorbeidrängen, aber er vertrat ihr erneut den Weg. Was einen ihrer Kavaliere dazu veranlasste, ihn zu schubsen.

»Finger weg!«, verlangte er, obwohl Russel Gina Rossi gar nicht berührt hatte.

Er blickte dem jungen Mann hart in die Augen. Was den einen Schritt zurücktreten ließ. Immerhin war Russel einen halben Kopf größer als er, ungefähr zehn Jahre älter und besaß sichtbar mehr Muskeln, weil er regelmäßig Selbstverteidigung trainierte. Schließlich musste er sich wehren können, wenn es mal brenzlig wurde, und als Privatermittler durfte er keine Schusswaffe tragen.

»Eine Ihrer Kommilitoninnen ist seit vier Tagen verschwunden«, erklärte er und ließ seine Stimme betont kalt klingen. »Und entgegen ihrer Behauptung«, Russel starrte die Italienerin sekundenlang eisig an, »weiß Miss Rossi etwas über ihren Verbleib. Möglicherweise liegt ein Verbrechen vor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie mich ernsthaft daran hindern wollen, die Verschwundene zu finden.«

Der junge Mann schluckte und machte einen weiteren Schritt rückwärts. Die drei anderen Studenten hielten sich klugerweise aus dem Disput heraus, traten aber auch etwas zurück. Was Gina Rossi signalisierte, dass von ihnen keine allzu große Unterstützung zu erwarten war.

»Ich weiß nichts, das habe ich doch schon gesagt«, betonte sie. Aber das klang nicht mehr halb so sicher wie ihre vorherige Behauptung.

»Miss Rossi, Sie lügen. Und wenn Sie mir nicht die Wahrheit sagen wollen, können wir die Angelegenheit gern im Büro von Provost Pollock besprechen. Er hat mir gestattet, Sie zu befragen, weil auch er die Angelegenheit geklärt haben möchte.«

Die reine Wahrheit, denn Russel hatte den Leiter des Colleges im Vorfeld aufgesucht, ihm sein Anliegen geschildert und um Erlaubnis gebeten, auf dem Campus Nachforschungen anstellen zu dürfen. Unter der Auflage, diskret vorzugehen, hatte Pollock dem zugestimmt.

»Oder ich gebe der Polizei den Tipp, dass Sie offenbar etwas wissen, das aber verschweigen«, ergänzte Russel, als die junge Frau schwieg und sichtlich überlegte, ob er nicht nur bluffte. »Miss Rossi, Edana ist doch Ihre beste Freundin. Und ihre Eltern sterben fast vor Sorge. Ich habe Verständnis dafür, dass Sie Ihre Freundin decken wollen, aber sie hat sich seit vier Tagen bei niemandem mehr gemeldet. Das stellt den Verdacht in den Raum, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Was dann Sache der Polizei wäre. Und Polizei hier auf dem Campus – ich glaube nicht, dass Provost Pollock davon erbaut wäre. Sie sind Austauschstudentin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie einen Rauswurf riskieren wollen, nur weil Ihre Freundin Ihnen aufgetragen hat, den Mund zu halten.«

»Schon gut«, knickte sie ein. Sie nickte ihren Begleitern zu. »Geht schon mal vor. Ich komme gleich nach.«

Die Gruppe setzte sich zögernd in Bewegung und trollte sich mit unsicheren Blicken zu Gina und Russel. Gina deutete mit dem Kopf zu einer Bank, ging hin und setzte sich. Russel nahm in gebührendem Abstand neben ihr Platz und sah sie erwartungsvoll an.

»Eddie ist nur ein paar Tage abgetaucht, um mal was Neues auszuprobieren«, gab sie zu. »Etwas, das nichts mit Studium und Mathe und sonstigen Wissenschaften zu tun hat.« Sie sah Russel in einer Weise an, die ihm zeigte, dass sie hoffte, er werde sich damit zufriedengeben.

»Aber das ist doch kein Grund, sich vier Tage lang bei niemandem zu melden. Ich hatte von ihren Eltern den Eindruck, dass das ganz vernünftige Leute sind, die ihrer Tochter bestimmt nicht verbieten würden, sich selbst mal für ein paar Tage außerhalb des Studiums auszuprobieren.«

»Bei dieser Sache schon«, war Gina überzeugt und blickte zur Seite.

Russel wartete einen Moment, aber sie war offenbar nicht gewillt fortzufahren. »Was für eine Sache? – Bitte, Miss Rossi, Ihre Freundin schwebt möglicherweise in Gefahr. Oder warum sollte sie sonst einen Grund haben, vier Tage lang keine einzige Silbe in den sozialen Medien zu posten? Haben Sie das schon jemals bei ihr erlebt?«

Das Argument überzeugte sie endlich. »Nein. Aber …« Sie zuckte mit den Schultern.

Russel hätte sie am liebsten gepackt und eine vernünftige Antwort aus ihr herausgeschüttelt. Er fasste sich in Geduld.

»Sie hat da diesen tollen Typen kennengelernt. Ganz anderes Kaliber als Toby, ihr Freund. Hat echt Knete, der Mann. Und so ein tolles Auto!« Ihre Augen leuchteten.

Russel hörte aber auch einen Hauch von Neid in ihrer Stimme. »Und mit diesem tollen Typen will sie ein paar unbeschwerte Tage verbringen?«, gab er ein Stichwort, als Gina keinen Anstalten machte, von selbst fortzufahren.

»Nein. Jedenfalls nicht so. Er ist Fotograf für ein Modemagazin und hat Eddie wegen ihrer megatollen Haare ausgesucht. Und wohl auch wegen«, sie zuckte mit den Schultern, »na ja, allem anderen.«

Diesmal klang der Neid unverhohlen durch. Und Russel ahnte, wie die Geschichte weiterging.

»Jedenfalls ist sie mit ihm zu einem Fotoshooting gefahren.«

Er verkniff sich, missbilligend den Kopf zu schütteln. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie es möglich war, dass intelligente junge und auch manche etwas ältere Frauen so dämlich sein konnten, auf diese Masche reinzufallen. Diejenigen, denen es nicht auf den damit verbundenen »Ruhm« ankam, lockte das scheinbar schnell und leicht verdiente Geld. Was offenbar Grund genug war, ihren Verstand auf Urlaub zu schicken und ernsthaft zu glauben, echte Profi-Fotografen würden irgendwelche Frauen von der Straße weg engagieren. Frauen, die vom Modeln keine Ahnung hatten und nicht einmal umwerfend aussahen. Denn Edana Rafferty war zwar recht hübsch, konnte aber mit den Profi-Models nicht konkurrieren.

»Und hat sie sich seitdem bei Ihnen gemeldet?«, wollte Russel wissen, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte. Wer tagelang in den sozialen Medien schwieg, tat das auch gegenüber der besten Freundin, wenn auch nicht unbedingt freiwillig.

Gina Rossi sah ihn unsicher an. »Eh, nein.«

»Und das hat Sie nicht misstrauisch gemacht?«

Sie bekam große Augen. Offenbar dämmerte ihr endlich, dass ihre Freundin tatsächlich in Gefahr sein könnte.

»Haben Sie sie zu erreichen versucht?«

»Ja, aber sie hat ihr Handy ausgeschaltet.«

Noch ein Alarmzeichen. »Und auch das hat Sie nicht misstrauisch gemacht«, resümierte Russel.

Gina wurde blass. »Per amor di Dio! Bei der Liebe Gottes! Sie glauben wirklich, ihr ist etwas passiert?«

»Danach sieht es aus.« Russel sah keine Veranlassung, die junge Frau zu schonen. »Wissen Sie, wie der Mann heißt? Oder wo er wohnt? Wo Eddie sich mit ihm treffen wollte? Das Autokennzeichen – oder irgendetwas?«

Gina setzte ihren Rucksack ab, kramte darin herum und förderte schließlich eine zerknautschte Visitenkarte zutage. Sie reichte sie Russel. »Die hat er uns gegeben.«

Wieder fragte er sich, wo Edana Rafferty und auch Gina Rossi ihren Verstand gelassen hatten, denn die Karte gab bis auf den Namen »Ron Cooper« nur sehr dürftige Auskunft: Fotograf als Beruf und eine Handynummer. Kleingedruckt darunter: »Modeagentur NorRep« und ebenfalls eine Mobilnummer. Keine Adresse, nicht einmal eine E-Mail-Adresse. Für Russel ein auf den ersten Blick erkennbarer Fake. NorRep – buchstabierte man Ron rückwärts, erhielt man »Nor«. Tat man dasselbe mit der letzten Silbe von »Cooper«, erhielt man »rep«.

Er nahm sein Smartphone und rief die Nummer von Cooper an. Sein Anruf wurde auf eine Mailbox umgeleitet, deren Ansage ihm mitteilte, dass der Inhaber der gewählten Nummer derzeit nicht erreichbar sei, man aber eine Nachricht hinterlassen könne. Dasselbe bei der angeblichen Agentur. Eine echte Mode- oder sonstige Agentur, die nur eine einzige Mobilnummer besaß und diese auch noch zu normalen Geschäftszeiten auf Mailbox geschaltet hatte, gab es nicht.

»Sie ist auf einen Gauner reingefallen«, stellte er fest und blickte Gina Rossi eindringlich an. »Ich muss alles erfahren, was Sie über diesen Cooper wissen und was Ihre Freundin Ihnen erzählt hat. Und zwar wahrheitsgemäß. Eddies Leben könnte davon abhängen.« Wofür es hoffentlich nicht schon zu spät war.

»Madonna mia!« Gina brach in Tränen aus. »Das konnte ich doch nicht wissen.«

Wissen nicht. Aber mit etwas gesundem Menschenverstand … Doch der setzte eben aus, wenn ein Traum – eine Illusion – wahr zu werden schien. Und Gauner wie dieser Ron Cooper waren in der Regel Meister der Manipulation, die es schafften, bei ihren Opfern den Eindruck zu erwecken, alles, was die auf ihre Anweisung hin taten, geschähe freiwillig.

»Reißen Sie sich bitte zusammen, Miss Rossi. Eddie braucht jetzt Ihre Hilfe. Also, was wissen Sie?«

»Sie hat sich mit ihm im Cliff Townhouse getroffen. St Stephen’s Green. Dort sollte auch das Shooting stattfinden.«

Und das war vier Tage her. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Russel stellte Gina noch ein paar weitere Fragen, aber sie konnte zu Ron Cooper oder Edana Raffertys Plänen nichts weiter sagen. Russel glaubte ihr, denn ihre Besorgnis und auch Reue erschienen ihm aufrichtig. Er verabschiedete sich und fuhr zum Cliff Townhouse.

Das Hotel gehörte zur gehobenen Klasse mit vier Sternen und einem Zimmerpreis ab zweihundert Euro aufwärts, obwohl es nicht übermäßig groß war. Der angebliche Fotograf hatte bestimmt kein kleines Zimmer gemietet, denn das würde potenzielle Opfer nicht davon überzeugen, dass er zu den Reichen gehörte und sie ebenfalls reich machen konnte. Da musste schon ein größeres her, besonders wenn darin auch ein Fotoshooting stattfinden sollte.

Russel zog sich das Jackett über, das er immer im Wagen hatte, wenn er als Detektiv unterwegs war. In manchen Situationen und vor allem Örtlichkeiten wie dem Cliff Townhouse war es vorteilhafter, möglichst seriös zu wirken. Ein Jackett zu Jeans und Rollkragenpullover oder Polohemd ließ ihn zwar nicht unbedingt wie jemanden aus der Upper Class erscheinen, aber er wirkte darin auch nicht wie ein Dockarbeiter.

Er betrat das Hotel und ging zur Rezeption, wo eine Dame in adrettem schwarzen Dress ihm zulächelte. Russel stellte sich als Privatermittler vor und fragte nach Ron Cooper.

»Es tut mir leid, Sir, aber über unsere Gäste geben wir keine Auskunft«, lautete die von einem Lächeln begleitete Antwort.

Damit hatte Russel gerechnet, denn in guten Hotels war Diskretion eines der obersten Gebote. Er zeigte das Foto von Edana Rafferty. »Ist oder war diese junge Dame ebenfalls Ihr Gast?«

»Auch darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben.«

Was ein klares Ja war, denn wäre dem nicht so, hätte die Frau das verneint. Schließlich galt das Diskretionsgebot nur für Gäste und nicht für Leute, die nie dort gewesen waren.

»Die junge Frau wurde möglicherweise entführt und befindet sich vielleicht in Lebensgefahr«, versuchte Russel, ihre Hilfe zu gewinnen.

Keine Chance. »Das wäre dann ein Fall für die Polizei«, stellte die Concierge sich stur. »Ich hole wohl am besten den Manager.«

»Sehr gute Idee«, stimmte Russel ihr zu. »Und ich rufe inzwischen die Polizei.« Er nahm sein Smartphone und rief Declan an. »Garda Síochána?«, vergewisserte er sich scheinbar, als der Freund sich meldete, um Declan zu signalisieren, dass er nicht zum Plaudern anrief.

»Was gibt es, Russ? Brauchst du meine Hilfe?«

»Ich ermittle in einem möglichen Entführungsfall und die Spur führte mich ins Cliff Townhouse, wo ich gerade bin. Leider ist man hier sehr unkooperativ. Aber wenn meine Vermutung zutrifft, befindet sich das Opfer in Gefahr.«

»Das ist Unsinn«, wehrte die Concierge ab und legte den Telefonhörer auf, mit dem sie ihren Chef angerufen und »ein Problem« gemeldet hatte. »Die junge Frau ist Mr Coopers Freundin und die beiden sind sehr verliebt.«

Also waren beide hier, wie Russel vermutet hatte.

»Könnte das der Fall sein?«, überlegte Declan, der das mitgehört hatte.

»Möglicherweise glaubt sie das, aber ich habe Indizien, die dem widersprechen«, antwortete Russel ihm und der Empfangsdame gleichermaßen.

»Ich komme«, versprach Declan und unterbrach die Verbindung.

Die Concierge wirkte verunsichert. Ihrem Gesichtsausdruck nach überlegte sie, ob sie Russel gestatten sollte sich zu vergewissern, dass es Edana Rafferty wirklich gut ging, oder ob sie es den Gästen des Hauses schuldig war, unter allen Umständen ihre Privatsphäre zu wahren.

Die Privatsphäre siegte. »Ich werde Sie trotzdem nicht zu Mr Cooper und seiner Begleitung vorlassen.«

»Müssen Sie nicht.« Russel setzte sich in einen Sessel an einem Tisch in der Nähe des Empfangstresens. »Wir warten auf die Garda

Der Manager kam, ein Mann mittleren Alters, hörte sich Russels Anliegen an und stimmte der Entscheidung der Empfangsdame zu. »Sie werden verstehen, Mr O’Leary, dass wir unsere Gäste nicht auf einen bloßen Verdacht hin stören und sie erst recht nicht einer derartigen Ungeheuerlichkeit verdächtigen können. Mr Cooper und seine Begleitung haben uns keinen Anlass zu der Vermutung gegeben, dass die junge Dame nicht freiwillig bei ihm ist. Im Gegenteil.«

Russel konnte das sogar nachvollziehen. Falls dieser Eindruck korrekt war, dann schwebte Edana Rafferty wenigstens nicht in akuter Gefahr, und Russel konnte ihren Eltern zumindest ihren Aufenthaltsort nennen. Sie von Cooper wegholen konnten weder er noch Declan, wenn sie das nicht wollte. Sie war erwachsen, und niemand konnte sie daran hindern, auf einen Schurken reinzufallen.

»Ich gehe davon aus, dass sie im Haus sind?«

Sowohl der Manager wie auch die Concierge zögerten und wogen wohl wieder einmal ab, ob die Antwort die Privatsphäre ihrer Gäste beeinträchtigte. Da Russel aber schon die Garda gerufen hatte, die auf die Privatsphäre keine Rücksicht nehmen würde, mache es keinen Unterschied, ob sie die Frage ihm oder den Gardaí beantworteten.

»Ja«, sagte die Concierge. »Sie haben sich nach dem Mittagessen auf ihr Zimmer zurückgezogen und das Hotel nicht verlassen.«

Declan kam in Begleitung zweier uniformierter Polizistinnen. Der Manager beugte sich der Staatsgewalt und begleitete die drei und Russel zu Ron Coopers Zimmer.

»Bitte, seien Sie diskret«, bat er. »Unser Hotel hat einen untadeligen Ruf.« Sein Tonfall flehte darum, dass man nichts tun möge, was das ändern könnte. Er klopfte an die Zimmertür. »Mr Cooper? Hier ist der Manager. Kann ich Sie bitte sprechen?«

Man hörte von drinnen leise Stimmen, von denen eine zweifellos einer Frau gehörte. Dann die eines Mannes: »Ich komme.«

Die Tür wurde von einem dunkelhaarigen Mann Mitte dreißig geöffnet. »Was …«, setzte er an, verstummte aber, als er das Polizeiaufgebot sah.

Russel spähte an ihm vorbei ins Zimmer. Edana Rafferty saß auf dem Bett in einem Nachthemd aus schimmerndem blauen Stoff, die Haare wie ein Umhang um sie drapiert, das Gesicht geschminkt. Aber sie schien unversehrt und erweckte tatsächlich nicht den Eindruck, als sei sie gegen ihren Willen hier. Vor dem Bett stand ein Stativ mit einem aufgeschraubten Fotoapparat.

»Was soll das?«, verlangte Cooper zu wissen.

»Detective Sergeant Declan Walsh vom NBCI.« Declan zeigte ihm seinen Ausweis. »Wir untersuchen einen möglichen Entführungsfall.« Er deutete auf Edana.

»Das ist ja lächerlich!«, fuhr Cooper auf.

Russel wandte sich direkt an Edana. »Ihre Eltern haben Sie als vermisst gemeldet, Miss Rafferty.«

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, knurrte Cooper.

Edana Rafferty schüttelte den Kopf. »Das hätte ich ihnen nicht zugetraut. Sie wissen doch, dass ich hier bin.«

Wie kam sie denn auf den Gedanken? »Das wissen sie eben nicht«, betonte Russel. »Sie hätten wohl kaum einen Privatermittler mit der teuren Suche nach Ihnen beauftragt, wenn sie das wüssten.«

Sie runzelte die Stirn und blickte Cooper an. »Aber du hast sie doch angerufen und ihnen die Sache erklärt.«

»Ja, natürlich«, bestätigte der, aber sein Tonfall verriet seine Lüge. Außerdem schwitzte er, obwohl es im Zimmer nicht übermäßig warm war. »Du warst doch dabei, als ich sie angerufen habe.«

Sie nickte.

Russel sah sie ernst an. »Ihre Eltern haben keinen Anruf erhalten, Miss Rafferty. Das Letzte, was sie wissen, ist, dass Sie vor vier Tagen zum College gefahren und seitdem nicht wieder nach Hause gekommen sind.«

»Ihren Ausweis, Sir«, verlangte Declan von Cooper.

Die Aufforderung war dem sichtlich unangenehm. »Hören Sie, Constable …«

»Sergeant«, korrigierte Declan. »Und ich will den Ausweis sehen.«

»Ich weiß nicht, was das alles soll«, maulte Edana. »Ich bin freiwillig hier. Und meine Eltern wissen das.« Allerdings schwang ein Hauch Unsicherheit in ihrer Stimme. »Ron macht Modeaufnahmen für ein Magazin von mir. Weiter nichts.«

Russel bezweifelte das. Er müsste sich schwer täuschen, wenn das tatsächlich Coopers Absicht wäre. Er trat zur Kamera und rief die bereits gemachten Aufnahmen auf.

»Das dürfen Sie nicht!«, empörte sich Cooper und wollte ihn von der Kamera wegstoßen.

»Treten Sie zurück, Sir!«, forderte ihn eine der Polizistinnen auf und legte die Hand auf ihre Waffe.

»Er darf das«, teilte Declan ihm mit, »weil ich es ihm soeben gestattet habe. Und Sie zeigen mir jetzt endlich Ihren Ausweis.«

Cooper musste wohl oder übel gehorchen.

Russel scrollte durch die Bilder. Die letzten zeigten Edana tatsächlich nur in verschiedenen Outfits. Als er weiter zurückscrollte, stieß er auf ganz andere Bilder. Auf denen war sie nackt und erweckte den Eindruck zu schlafen. Russel stieß auch auf ein Video, das sie und Cooper beim Sex zeigte.

»Na, so was«, höhnte Declan, als er Coopers Ausweis in den Händen hielt. »Sie heißen ja gar nicht Ron Cooper, sondern William Steele.«

»Was?« Edana starrte ihn völlig verblüfft an. Aber …«

Russel drehte das Display der Kamera zu ihr herum. »Haben Sie diese Aufnahmen autorisiert, Miss Rafferty?« Er ließ das Video laufen.

Sie blickte nur wenige Sekunden darauf und brach in Tränen aus. Schüttelte den Kopf. »Nie im Leben!«

»Und diese?« Er zeigte ihr die Fotos, auf denen sie schlief.

Ein einziger Blick darauf, und sie sprang auf und schlug auf Cooper ein. »Du gemeiner Schuft! Du hast mich fotografiert, während ich geschlafen habe? Und uns aufgenommen, während wir …«

Eine der Polizistinnen hielt sie fest, während Declan zu Russel trat und sich die Bilder ebenfalls ansah. »Wollen Sie diesen Mann anzeigen, Miss Rafferty?«

Sie sank weinend auf das Bett und war nicht in der Lage zu antworten.

»Geben Sie mir Ihr Smartphone, Sir«, verlangte Declan.

»Das dürfen Sie nicht! Das ist privat! Dafür brauchen Sie einen Beschluss.«

»Brauche ich nicht, wenn die Gefahr besteht – und das tut sie –, dass Sie in der Zeit, die ich brauche, um den Beschluss zu besorgen, alle Sie belastenden Daten löschen oder Ihr Telefon entsorgen. Also her damit.«

Cooper/Steele reichte es ihm widerstrebend.

»Miss Rafferty, wie ist die Telefonnummer Ihrer Eltern? Die Sie dem Mann hier gegeben haben und mit der er sie angeblich angerufen hat?«

Sie nannte sie ihm schluchzend.

Declan scrollte durch die Anrufliste. »Sie können sich gern selbst davon überzeugen, aber Mr Steele hat Ihre Eltern nicht angerufen. Dafür gibt es hier etliche Textnachrichten, in denen er die Nacktfotos und das Video von Ihnen meistbietend versteigert.« Er scrollte weiter. »Und hier gibt er jemandem den Zuschlag für dreißigtausend Euro.«

Edana Rafferty starrte ihn tränenüberströmt an. »Heißt das, dass … dass …« Sie brachte nicht über sich, die Wahrheit auszusprechen.

»Das heißt, dass diese Fotos und das Video in absehbarer Zeit in einschlägigen Porno-Foren und vermutlich auch anderswo im Netz auftauchen werden«, brachte Declan es auf den Punkt. »Falls das nicht schon geschehen ist. Wollen Sie den Kerl anzeigen?«

»Ja!«, heulte sie auf, und es klang wie der Schrei eines verletzten Tieres.

»Mr Cooper oder wie immer Sie heißen«, mischte sich der Manager ein, der an der Tür stehengeblieben war, »Sie werden auf der Stelle unser Hotel verlassen. Sie haben unsere Gastfreundschaft aufs Übelste missbraucht.«

»Wir nehmen ihn gleich mit«, entschied Declan hörbar zufrieden. »William Steele, Sie sind verhaftet wegen gewerbsmäßigen Handels mit Pornografie und unerlaubten Aufnahmen von einer nicht einwilligungsfähigen Person. Und ich wette, Steuerhinterziehung können wir Ihnen auch noch nachweisen, wenn wir ein bisschen tiefer graben. Drehen Sie sich um und legen Sie die Hände auf den Rücken.«

Steele gehorchte notgedrungen.

Edana stand vom Bett auf und zog sich einen Morgenmantel an, in den sie sich so fest einwickelte, als wäre ihr kalt. Unsicher blickte sie Declan und Russel an. »Müssen«, sie schluckte, »meine Eltern von …«, sie deutete auf die Kamera, »davon erfahren?«

Declan schüttelte den Kopf. »Von uns nicht. Sie sind dem Gesetz nach erwachsen und Ihren Eltern keine Rechenschaft mehr schuldig. Was Sie denen erzählen, ist allein Ihre Angelegenheit. Allerdings wird es zum Prozess kommen, und wenn Sie noch bei Ihren Eltern leben, werden Sie das kaum geheim halten können.«

»Außerdem«, Russel ließ seine Stimme so sanft wie möglich klingen, »wäre es von Vorteil, wenn Sie Ihre Eltern einweihen. Falls die Fotos tatsächlich im Netz auftauchen, könnten Ihre Eltern durch Zufall damit konfrontiert werden. Da wäre es besser, sie wären darauf vorbereitet.«

Neue Tränen rannen über Edanas Wangen. Sie errötete tief.

Declan gab seinen Begleiterinnen die Anweisung, Steele abzuführen, schickte den Manager weg und setzte sich Edana gegenüber in einen Sessel. »Was für uns noch wichtig ist, Miss Rafferty: Was hat der Mann Ihnen versprochen? Er plante irgendwas mit Ihnen. Andernfalls hätte er nicht vorgetäuscht, Ihre Eltern über Ihren Aufenthaltsort zu informieren. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat er Ihnen sogar in Ihrer Gegenwart vorgespielt, es tatsächlich zu tun. Wie sahen Ihre gemeinsamen Pläne aus? Oder seine?«

Edana wischte sich mit dem Bademantelärmel die Tränen ab, was dunkle und hautfarbene Flecken von Wimperntusche und Schminke darauf hinterließ. »Er wollte eine ganze Fotoserie mit mir machen. Erst hier im Hotel und heute Abend auf einer Yacht seiner Agentur am Hafen. Weil das alles so viel Zeit in Anspruch nimmt, hat er vorgeschlagen, dass ich die ganze Zeit hierbleibe und nicht zwischendurch nach Hause fahre.«

»Hat er gesagt, wie die Yacht heißt?«

Sie nickte zögernd. »Ich glaube, ja. Aber ich erinnere mich nicht.«

Declan stieß sichtbar frustriert die Luft aus und seufzte.

»Ihre Freundin Gina war aber in alles eingeweiht?«, vergewisserte sich Russel.

Sie nickte. »Ich hatte ihr aber nur gesagt, dass ich ein paar Tage die Vorlesungen schwänze, weil ich hier im Hotel Aufnahmen mache. Dass ich auch«, sie schluckte, »über Nacht bleiben würde, hat sich erst ergeben, als ich hier war. Er – Ron – hat mich dazu überredet, weil es so am einfachsten ist. Wegen der Aufnahmen.«

Und sicherlich hatte ihr auch gefallen, von einem scheinbaren Mann von Welt in einem Hotel wie diesem verwöhnt zu werden, weshalb er bestimmt nicht allzu viel Überredungskunst gebraucht hatte.

»Und damit sich meine Eltern keine Sorgen machen, wollte ich sie anrufen. Er hat gesagt, es wäre besser, wenn er das übernimmt und sich ihnen bei der Gelegenheit vorstellt, damit sie hören, dass er seriös ist.« Sie brach wieder in Tränen aus. »Und alles war gelogen? Wirklich alles?«

»Ich fürchte ja. Und wenn Sergeant Walsh keine weiteren Fragen an Sie hat, würde ich Sie gern zu Ihren Eltern begleiten. Wenn Ihnen das recht ist. Und ihnen zuerst aber mal sagen, dass es Ihnen gutgeht.«

Sie nickte. »Ich ziehe mich nur schnell um.« Sie stand auf und ging ins angrenzende Badezimmer. Sekunden später rauschte das Wasser in der Dusche.

»Das wird jetzt vermutlich eine Weile dauern«, meinte Declan und stand auf. »Sie soll morgen zu uns kommen und ihre Aussage zu Protokoll geben. Richtest du ihr das bitte aus?«

»Klar. Aber warum der Frust, als sie den Namen der Yacht nicht wusste?«

Declan zögerte und setzte sich wieder. »Im strengsten Vertrauen«, Russel machte eine Geste, als schlösse er den Mund mit einem Schlüssel ab, den er anschließend wegwarf, »darf ich dir sagen, dass wir schon seit einiger Zeit an einer Bande dran sind, die Frauen verschleppt und sie vermutlich als Sexsklavinnen verkauft, zumindest aber pornografische Aufnahmen von ihnen macht. Einige der Opfer sind tot wieder aufgetaucht, andere bis heute verschwunden. Wir vermuten, dass man sie außer Landes gebracht hat.«

»Mit einer Yacht.«

»Möglicherweise. Oder sogar wahrscheinlich. Miss Raffertys Hinweis, dass Steele auf einer Yacht Fotos von ihr machen wollte und noch dazu am Abend, deutet darauf hin, dass er sie vielleicht bei der Gelegenheit entführen wollte. Wie lange kennt sie ihn schon? Weißt du das?«

»Nur ein paar Tage, höchstens eine gute Woche, glaube ich.«

Declan nickte. »Und sie hat sich recht schnell von ihm ins Bett locken lassen.« Er deutete auf die Kamera, stand erneut auf und schraubte sie ab. »Womit ich nichts gegen Miss Rafferty sagen will. Oder über sie. Typen wie Steele sind Meister der Manipulation. Wenn die funktioniert, zeigt das solchen Leuten, dass der Widerstand der Frauen vermutlich nicht allzu groß sein wird, wenn sie ihnen weiterhin Honig ums Maul schmieren und sie mit Versprechungen einwickeln. Und wenn die endlich begreifen, dass sie nur benutzt wurden, schämen sie sich meist zu sehr, um zu rebellieren, und geben sich an allem die Schuld.«

»Du glaubst, Steele gehört zu der Bande?«

Declan nickte. »Wahrscheinlich. Das wird uns sicherlich die Auswertung seiner Handydaten verraten. Weil er den letzten Chatverlauf noch nicht gelöscht hat, können wir mit etwas Glück zumindest den oder die Typen drankriegen, die seine letzten Fotos und das Video gekauft haben. Und mit ganz viel Glück können wir die Verbreitung verhindern oder zumindest eindämmen.«

Dazu gehörte allerdings schon mehr als »ganz viel« Glück. Solche Dinge brachten viel Geld, je öfter sie verkauft und geteilt wurden. Und der Käufer des Videos musste immerhin dreißigtausend Euro zusammenbekommen, um seine Investition zu ersetzen. Russel fürchtete, dass Edana Rafferty den Fehler, dem falschen Mann vertraut zu haben, noch lange bereuen würde.

Declan hob die Kamera leicht an. »Ich bringe das und Steele ins Präsidium und schicke ein Team, das das Zimmer auseinandernimmt. Gute Arbeit, Russel.«

Russel grinste. »Man tut, was man kann. Und ich hatte einen sehr guten Lehrer.« Schließlich hatte Declan ihn in seiner Freizeit als Detektiv ausgebildet und ihm alles beigebracht, was er über Ermittlungsarbeit und vor allem Observation wissen musste.

Declan nickte ihm zu. »Slán!«, verabschiedete er sich.

»Slán!«

Während Edana Rafferty immer noch duschte und sich wohl vergeblich das Gefühl von Steeles Körper auf ihrer Haut abzuwaschen versuchte, rief Russel ihre Eltern an.

»Ich habe Edana gefunden und bringe sie gleich nach Hause«, teilte er Mrs Rafferty mit, die seinen Anruf entgegennahm. »Sie ist unversehrt.« Zumindest körperlich. »Und alles andere wird sie Ihnen selbst erklären.«

Mrs Rafferty weinte vor Erleichterung und konnte kaum aufhören, sich bei ihm zu bedanken. Das machte ihn verlegen. Schließlich hatte er nur getan, wofür sie und ihr Mann ihn bezahlten. Er sah auf die Uhr. Wenn er Edana zu Hause abgeliefert haben würde, wäre es ungefähr zwei Uhr. Das bedeutete, er konnte den Raffertys vier Stunden Arbeit in Rechnung stellen. Zweihundert Euro und ein paar Cent Fahrtpauschale. Nicht schlecht, aber auch nicht übermäßig viel. Doch wenn dieser Fall Declan half, eine ganze Bande von Leuten wie Steele auszuheben, hatte sich der Auftrag in jedem Fall gelohnt.

Edana kam aus dem Bad, eingewickelt in den Bademantel, als wäre er eine zweite Haut. Den Kopf gesenkt und die Schultern hochgezogen ging sie ins Nebenzimmer. Zehn Minuten später kam sie zurück und war wieder wie ein normaler Teenager gekleidet. Russel fand, dass ihr das erheblich besser stand als seidige Nachthemden und ein geschminktes Gesicht mit knallrotem Lippenstift. Er lächelte ihr zu und machte eine einladende Geste zur Tür. Sie verließ fast fluchtartig den Raum. Unten am Empfang schärfte der Manager der Concierge ein, dass Steeles Zimmer auf Anweisung der Polizei bis auf Widerruf nicht gereinigt oder überhaupt betreten werden durfte.

Russel oder Edana Rafferty zu verabschieden, hielt er nicht für nötig. Er sah sie nur in einer Weise an, die darauf schließen ließ, dass er sich von Herzen wünschte, keinen von beiden je wiederzusehen. Den Gefallen konnte Russel ihm tun, denn das Cliff Townhouse war nicht seine Kragenweite. Und Edana würde ganz bestimmt nie wieder freiwillig einen Fuß in dieses Hotel setzen.

Er brachte sie nach Hause und war glücklich, dass er keine Todesbotschaft hatte überbringen müssen. Ein Glück, das er mit Aislyn teilen wollte. Er rief sie an, aber nur die Mailbox meldete sich. Demnach war sie wahrscheinlich am Üben, denn dann schaltete sie ihr Smartphone immer aus. Er würde heute Abend den Erfolg mit ihr feiern, wenn sie wieder zu seinem Auftritt in The Temple Bar kam. Worauf er sich sehr freute.

Die Tote vom Dublin Port

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