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2. Tibor

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„Komm nicht zu spät zurück, Tibor!“

„Nein, nur ein, zwei Fische für heute Abend will ich noch angeln. Dann bin ich wieder da. Versprochen!“ Tibor drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und fügte hinzu: „Außerdem bin ich keine siebzehn mehr, Emilia! Da sind inzwischen zehn Jahre hinzugekommen.“ Dann zwängte er sich durch die schmale Eingangstüre hinaus.

Heute war Sonntag und da ihre Häuser nicht weit auseinander lagen, hatten sie eingeführt, an diesem Tag miteinander zu speisen. Für ihn war es gut, so konnte er seinem Alleinsein, das ihn aber wenig störte, entfliehen. Seine Mutter aber, das wusste er, würde ohne ihn kaum mehr zurechtkommen, da sie in noch größerer Einsamkeit lebte als er. Zurückgezogen und in Abgeschiedenheit, wie sie es bevorzugte, nach dem Tod ihres Mannes.

Wenig wusste er von seinem Vater, nur dass er sie frühzeitig und unfreiwillig verlassen hatte. Seine Mutter wollte nie darüber sprechen. Und ganz bestimmt nicht an einem Sonntag. Wohl auch nicht bei geräuchertem, selbst gefangenem Fisch, dachte er. In sich aber spürte Tibor, dass er eines Tages die Wahrheit erfahren würde. Vielleicht konnte er Emilia dann richtig und ganz verstehen. Sie und ihr ewiges Schweigen.

Die See an der Küste Schleswig-Holsteins war ruhig an diesem Tag. Beinahe zu ruhig. Ohne Schwierigkeiten steuerte Tibor den Fischkutter seines Vaters, die NORDLICHT, hinaus aufs Meer. Nach einer viertelstündigen Fahrt stellte er den Motor ab. Das Bootsnetz kam heute nicht zum Einsatz. Stattdessen holte sich Tibor eine Angel. Er verließ das Steuer und lehnte sich, wie er es an Sonntagen an Board des Schiffes gerne tat, an die hölzerne Reling. Dann warf er die Angel aus und das Warten begann. Sein Blick schweifte den Horizont entlang. Wie schön sie doch war, diese ewig glitzernde Weite. Dazu das schillernde Meer. Seine Gedanken schweiften zum Wochenanfang, als er eine größere Gruppe zu den Seehundbänken mitgenommen hatte. Im Anschluss daran folgte das Schaufischen. Die Gäste hatten Fotos von dem Fang gemacht und seinen Erklärungen über Seestern, Makrelen und Dorsch gelauscht. Würde sein Vater stolz auf ihn sein, wenn er sehen könnte, was Tibor aus der NORDLICHT gemacht hatte? Würde er den grünen Anstrich und die Runensymbole akzeptieren?

Plötzlich verdunkelte sich der Horizont. Nebel wallte auf, Dunkelheit zog heran, bäumte sich auf und drohte über dem Kutter zusammenzubrechen. So schnell. Selten hatte er so ein Schauspiel erlebt. Und er war schon lange zur See unterwegs, sehr lange, ja schon seit er denken konnte und einmal auch mit seinem Vater. Einmal – damals, als alles noch gut gewesen war und das Schiff einen weiß vergilbten Anstrich hatte. Der Namenszug war bereits verblichen gewesen. Damals, dachte er und sah in den aufkeimenden Sturm. Damals war meine Mutter noch redselig und glücklich. Da kochte sie für drei und zauberte die besten Gerichte der ganzen Nordsee auf den Tisch. Es war ihm nicht vergönnt weiter darüber nachzusinnen. Er musste die Angel einholen. Womöglich würde der Sturm nicht so schnell verschwinden, wie er sich aufgebaut hatte und sein Kutter war alt. Er würde einer längeren Gewitterschlacht nicht standhalten, nicht wenn er sich im Zentrum befand. Verdammt, er würde sich wirklich bald ein neues Boot suchen müssen! Eines das mehr aushielt, das sicherer war und … er wusste nicht, was er noch erwarten sollte, besser konnte.

Da ertönte ein Klicken an der Angelrute. Etwas hatte angebissen. Im letzten Moment, kurz bevor das Gewitter losging. Nordwind kam auf, an Deck wurde es unangenehm. Dennoch besah sich Tibor, was er geangelt hatte: Glänzende Schuppen bedeckten einen windenden, unterarmlangen Fischkörper. Ein ordentlicher Brocken. Erster Regen setzte ein und in der Ferne blitzte es. Er wollte den Fisch von der Angel nehmen und wieder zurück ins Nordmeer lassen, um sich zurück ans Steuer zu begeben, um den Kutter heimwärts zu lenken, als er das Leuchten der Schuppenhaut sah. Ein Fisch, der außergewöhnlich schillerte – nicht grau, nicht blau, nicht normal! Weder Makrele, Hering noch Thunfisch sahen so aus. Das bunt schillernde Schuppenkleid, dessen Grundton ein Bernsteinweiß zu sein schien, war eine Besonderheit. Es erinnerte ihn an eine Frau in einem weißen Kleid, dessen Glanz je nach Lichteinstrahlung wechselte. Die seitlichen Flossen, wie auch die Schwanzflosse wirkten filigran. Eine Delikatesse. Und so sah sein Fang auch aus, wie etwas Besonderes, ganz und gar nicht Alltägliches. „Wie viele von deiner Art mag es geben?“ Er murmelte die Frage leise und hatte dabei das Gefühl, als könne ihn dieses Fischwesen verstehen. Als er die kristallweißen Augen anstarrte, deren schwarzen Pupillen einen Hauch von Bernsteinfarbe in sich trugen, durchlief ihn ein Kribbeln. Wie kann mich ein Fisch nur derart berühren?, fragte er sich. Dann aber musste er schlucken – nur die Augen rollten noch, der Fischleib selbst zuckte nicht einmal mehr. Tot?

Im selben Moment noch, da ihn diese Frage durchzuckte, streckte er seine Finger nach dem Tier aus und berührte das Schuppenkleid. Sanft strich er darüber – keine Bewegung. Er fuhr von den Kiemen an der Bauchunterseite weiter bis zur Schwanzflosse. Ein wärmendes Gefühl breitete sich in ihm aus, durchwanderte seinen rechten Arm und zog weiter bis hin zu seinem Herz, wo es sich festkrallte. Tibor gab keuchende Lauten von sich. Seine Augen wurden feucht. „Wie du mich berührst! Was hat es nur mit dir auf sich? Bist du, was du scheinst?“ Er wusste einfach, dass dieser Fisch noch lebte. Er nahm ihn von der Angel, während der Wind immer stärker an ihm zerrte, und wand sich dem Bug zu. Plötzlich ging ein Zucken durch den Körper, den er zwischen den Händen hielt wie einen kostbaren Edelstein. Er hatte die Spitze des Schiffs erreicht und warf einen letzten Blick auf dieses Fischwesen, sah noch einmal in dessen Augen. Tibor hatte dabei das Gefühl, als würde das Wesen blinzeln. Er entließ den Fisch zurück in sein lebenswichtiges Element. „Schwimm, mein Fisch. Schwimm und erreich dein Ziel, wo auch immer es liegt“, rief der junge Mann zum Abschied. Tibor winkte mit verträumtem Blick hinterher, bis er sich dieser Tatsache bewusst wurde. Dann drehte er sich um, seltsam benommen und sich fragend, woher er diese Worte genommen hatte. Er fragte sich ebenso, wie er hatte den Sturm vergessen können. Regen, Blitz und auch Donner hatten ihn nicht gestört, eher war das Gefühl gewesen, als wäre eine schützende Glaskuppel über ihm und dem Fischkutter gewesen. Er musste über sich selbst lachen. Bei einem beiläufigen Blick auf die jetzt so leeren Hände, nahm er eine Schuppe wahr. Sie stammte ohne Zweifel von dem Fischwesen. Ein letzter, zurückgebliebener Teil, wie ein Andenken. Tibor bemerkte, dass sie bereits getrocknet und hart geworden war, und ließ sie mit einem Schulterzucken in seiner Hemdtasche verschwinden.

Dann beschleunigten seine Schritte. Die Sekunden zwischen Blitz und Donner wurden immer weniger. Tibor ließ die Maschine anlaufen, die Schiffsschraube sprang an und die NORDLICHT setzte sich in Bewegung. Schaukelnd und wankend wie ein betrunkener Elefant entfernte sich der Kutter vom Gefahrenherd. Vielleicht kam er noch ungeschoren aus dem Gröbsten heraus, das Unwetter würde ihn dennoch eine Weile begleiten. Wiederholt fragte er sich, woher diese Sicherheit kam. Ein Lächeln spiegelte sich auf seinen Lippen, als er über die Schuppe in seiner Hemdtasche strich.

Auf dem Pfad der Götter

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