Читать книгу Auf dem Pfad der Götter - Marc Short - Страница 6
4. Die Norne
ОглавлениеLiftar Masir war zurück auf seinem Schiff. So schwer hatte er sich seine Aufgabe nicht ausgemalt. Und ebenso wenig, dass der erste Kontakt so verlief: Nämlich ganz und gar aus dem Ruder lief! Das war aber auch der Entführung von Tibors Mutter zu verdanken, die alles über den Haufen geworfen hatte. Etwas rüde war daher die nachfolgende Begegnung verlaufen. Aber konnte er seine Herkunft verleugnen? Sein Leben und seine Erziehung verbergen? Kaum … und doch hatte der junge Mann nicht erkannt, wer er war. „Bei den Göttern, ich bin ein Wikinger der alten Zeit“, murmelte Liftar zu sich. Und genau so hatte er gehandelt. Obwohl beeindruckt von der Kraft und Entschlossenheit des Gesuchten, konnte er ihn nicht so behandeln. Dass es dennoch geschehen war, lag an vorausgegangen Kampf! Bei Odin, er hätte früher reagieren müssen, die Zeichen erkennen sollen und sich nicht von dieser dunkelhaarigen Frau mit dem blassen Teint verwirren lassen dürfen. Aber wie, fragte sich Liftar, wie hätte ich das tun sollen, wenn da plötzlich eine Göttin vor mir steht? Eine, die aussieht wie die Herrscherin des damaligen Totenreiches Hel?
Ein Zittern durchlief seinen Körper. „Es ist erst der Anfang. Die Schlacht hat noch längst nicht begonnen,“ schwor er sich. „Ich werde dich finden, Göttin des Todes.“ Dann so wusste er, würde auch Tibor seine Mutter wieder finden. Liftars Augen glitten über die im Glanz der Sterne leuchtende See. Silbern war die wogende Oberfläche und darauf spiegelte sich ein riesiges Schiff mit Drachenkopf.
Mein Liebstes aller Schiffe, die HAITHABU, dachte der Einherjer und konnte sich eines Flämmchens Stolzes nicht erwehren. Das einzige Wikingerschiff mit zwei Masten, was so in der Geschichte nie erwähnt wurde.
Sein Stolz verflog und Sehnsucht legte sich darüber, als er sie sah. Sie, ein Mädchen, so schien es, im zarten Alter von achtzehn Jahren. Aber das kann täuschen. Bei diesem Gedanken warf er einen zu kurzen Blick auf sein Spiegelbild.
Die Nacht begann in diesen Stunden ihr Tor zu öffnen und mit ihr brach die Flut herein. Mitten in ihr schritt dieses Mädchen in die Höhe, als würde sie einen Thron besteigen, um schließlich mit dem nassen Element im Verbund weiter zu gleiten wie eine Prinzessin. Ihr Gang war geschmeidig, ihre Gestalt nackt und aufrecht, und sie hatte nur ein Ziel vor Augen: das Eiland voraus. Denn dort befand sich Tibor, der junge Mann, der auf diesem Flecken Erde geboren worden war.
Liftar wusste von diesem Ziel, schließlich hatte er die Norne auserwählt und auf den Weg geschickt. Er hatte seine Schildjungfer Kyrija gebeten, diesen Schritt einleiten zu dürfen, um Tibor nochmals die Wichtigkeit des Aufbruchs zu verdeutlichen. Sie wird sein und unser Schicksal lenken, wird schaffen, was ich noch nicht vermochte, zu unser aller Gunsten. Die Weberin des Schicksals wird Vertrauen schaffen, dachte er. Das musste sein, denn der Junge war ihrer aller Schicksal und dies der Grund, warum er die Norne zu ihm schickte. Bei diesen Gedanken hob sein Herzschlag an und eine unsichtbare Kraft strömte in ihn.
„Geh und hol den Jungen“, sagte Liftar. „Geh und überbring ihm meine Botschaft. Lass dich dabei nicht von seinem selbstsicheren, unerschrockenen Eindruck vernebeln. Er trägt eben dasselbe Blut wie ich.“ Den letzten Satz sprach er leise.
Liftar sah der Schicksalsweberin nach, wie sie über das Meer Richtung Ufer schritt und wusste, was es bedeutete sie loszuschicken. Er wusste um ihre Kraft und als er sie mit den endlosen Beinen und dem im Mondlicht gelb leuchtendem Schopf über das Wasser gleiten sah – denn nicht anders konnte man es sagen – war er sich sicher: Sie würde es schaffen. Er lächelte. Ob Tibor bei ihrem Anblick standhaft bleiben würde?
Und konnte man Gleiches von der Norne behaupten? Oder verfiel sie Tibor, denn auch er, das hatte Liftar vom ersten Moment an gespürt, besaß eine für Menschen ungewöhnliche Aura. Charisma nennt man es wohl. Davon würden sie auf ihrer anstehenden Reise mehr brauchen als Tibor jetzt ahnte. So, wie noch viele Dinge mehr, gepaart mit einer guten Portion Glück. Ansonsten war ihre Mission zur Erfolglosigkeit verdammt.
„Mit einem Mann wie ihm, einem Freund wie mir und einer Schicksalhaften wie ihr, sollten wir die Schlacht beginnen können“, murmelte der Einherjer. „Und mit vielen anderen werden wir sie beenden“, fügte er wie in Trance an. Dabei war ihm klar, wie wichtig die Anderen noch werden würden und von welcher Bedeutung ihr Finden war. Wieder sah Liftar der goldenen Schicksalsweberin nach, deren Abbild immer kleiner wurde und dennoch strahlte wie eine zweite Sonne. Seine Überlegungen verschwanden bei diesem Anblick und er fragte sich, welchen Zweck die Schicksalsweberin verfolgte, dass sie sich ihm so zeigte. Denn normalerweise blieben Nornen für ihren Absender unsichtbar. Sie sind nur sichtbar für die, von denen sie gesehen werden wollen. Warum also gerade er? Wollte sie ihm zeigen, dass sie die Botschaft wirklich überbrachte und er ihr trauen konnte? Aber er hätte doch niemals an ihrer Loyalität gezweifelt! Nicht er.
Wollte sie also vielleicht einfach, dass er ihre Schönheit wahrnahm – weil sie sich gerne zeigte und Sehnsucht wecken wollte?
Sollte ihm bewusst werden, welch kostbaren Diamanten er hier aus den Tiefen gehoben hatte?
Liftar schüttelte den Kopf. Keineswegs. Diese Wesen würden solche Gefühle niemals wecken wollen. Nornen erledigten ihre Aufgabe am liebsten still und ohne Wissen Zweiter und Dritter. Eines kam ihm dann doch in den Sinn, was sie zum Ausdruck bringen wollen könnte: Vielleicht wollte sie ihm bildlich mitteilen, was alles auf dem Spiel stand und noch einmal klar machen, was alles verloren ginge, wenn er versagte. Vermutlich, denn was wusste er schon über eine Norne, außer dem, was in der Vergangenheit über sie gesprochen worden war und sich in die Geschichtsbücher und Geschichten von heute übertragen hatte.
Sie, die Schicksalsweberin Skuld, ging über das Meer wie über festen Grund. Ihre Gedanken waren das Rauschen der See, unendlich, tiefgründig und weitreichend. Sie kannte die Zukunft, und mit ihren Schwestern Urd, welche für die Vergangenheit stand und Verdandi, die für die Gegenwart stand, hatten sie das Gefüge der Alten Welt zusammengehalten, hatten im Brunnen unter dem Weltenbaum die Schicksale einzelner gesteuert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass alles zusammen war, wofür sie standen. Gemeinsam malten sie ein Bild, spannten bald einen Bogen und ergaben schließlich den Weg, der die Zukunft spiegelte. So wurde von den Nornen das Schicksal gesponnen. Einst, als auch die Väter und Mütter der Götterkinder noch unter den Lebenden waren und ihre alte Welt vollkommen gewesen war, vor Ragnarök, da war ihnen diese Gabe gewiss und von Bestand gewesen. Dann aber, als alles sein Ende fand, war auch das Stricken der Zukunft immer schwächer geworden. Sie, die Nornen wurden zu Wesen, die waren wie ein Mensch ohne Augen und die umherirrten wie wirre, geistig umnebelte Menschen in ihrer dunkelsten Nacht. Irgendwann fanden sie in den Tiefen der Meere einen Anker, und dieser half ihnen die Zeit bis heute zu überstehen. Denn wie ein Mensch so brauchten auch sie im Jetzt eine Aufgabe, um sich nicht zu verlieren. Sich und den Bezug zur Neuen Welt, die aus der alten entstanden war. Sie, Skuld, wusste davon, denn sie hatte gesehen, dass der Wikinger aus Walhall und dieser junge Mann der Schlüssel waren. Die Möglichkeit, ihre Gabe wiederzuerlangen. Zumindest zu einem großen Teil. Auf die Nornen würde wieder Verlass sein und ihr Dasein einen Sinn haben. Sie, die Weberinnen des Schicksals, würden wieder in der Unendlichkeit schweben können. Und dafür würde Skuld mit allen Kräften einstehen, die ihr zur Verfügung standen.
Die Schicksalsweberin schritt immer weiter. Ohne Halt, ohne Rast aber mit einer Ruhe, als säße sie noch immer am Rad der Zeit.
Dann war sie fast da. Steiniger Grund kitzelte ihre zarten Fußsohlen. Letzte Wellen umspülten ihre Knöchel und als auch diese verschwunden waren wie letzte Fesseln, da erstarb das Rauschen des Meeres. Stattdessen schwoll ein Flüstern an. Das elfenhafte Flüstern der Norne. Und es würde geistern durch die Stadt, geistern durch die Nacht und die Träume der Menschen, um bei ihm zu landen, um ihn zu finden. Ihn, jenen Einen, zu dem sie bereits persönlich auf dem Weg war. Um ihren Körper flirrte die Luft, bildete sich zum einen goldbraunen Funkenkleid. So konnte sie ihm gegenüber treten.
Der junge Mann selbst führte sie zu ihm, er wusste es nur noch nicht. Das Flüstern hatte den Geist des Gesuchten erreicht und das Echo trug seinen Namen zu ihr: Tibor.
Und so flüsterte sie seinen Namen, einen Namen, dem sie längst ein Schicksal gegeben hatte.
Wusste Tibor, was ihn erwartete? Eine göttliche Aufgabe, denn letztlich ging es um die Zukunft. Nicht nur seine, sondern auch die vieler anderer. Und er würde über sie bestimmen – durch sein Tun oder Unterlassen, durch sein Handeln oder Nichthandeln. Durch seine Entscheidungen und Kommandos, so wie es ihm bestimmt war.
Und dann war sie da, angezogen von seinem Geist, seiner Aura. Der Mann vom Schiff hatte nicht zu wenig versprochen. Ein verruchter Gedanke machte sich in der Norne breit, den sie nicht verscheuchen konnte: Wenn sie unter ihrem Flimmerkleid nicht schon nackt wäre, für ihn hätte sie sich nackt gemacht. Gut, dass sie die Macht der Weberin verloren hatte, denn sonst hätte sich dieser Gedanke eingepflanzt und wäre ausgetrieben wie ein dorniger Rosenbusch aus einem Samen. Und sein Schicksal wäre ein ganz anderes geworden ....
Dunkelheit umhüllte Tibor. Plötzlich aber irrlichterte die Umgebung in den Farben und Formen eines Feuerwerks. Bald fanden Farben und Formen zusammen und ergaben ein Bild. Es musste das Bild eines Traumes sein. Was sonst, wenn er so etwas sah? Etwas oder jemand wie sie. „Wer bist du?“ Er stellte die Frage und sie stand im Raum ohne Antwort. Dieses feminine Wesen, sie sah ihn nur an, aus Augen die blaugrün leuchteten wie der Ozean und einem Gesicht, dessen Haut in zartem Weiß, so rein und zart schien wie eine Schneeflocke. Ihr Haar strahlte goldgelb wie der Mond. Ob sie der Himmel geschickt hat?, fragte er sich. Oder die Sterne selbst?
Nein, eher schien es ihm, als wäre sie dem Ozean entstiegen, ja als wäre sie das oder ein Kind des Ozeans. Aber was dachte er da?
Plötzlich sah er wie sich Flüssigkeit in ihren großen, weiten Augen sammelte und ihr Blick glasig wurde. Im nächsten Augenblick liefen Tränen ihre Wange herab. Tibors Magen hüpfte und krampfte sich zusammen, er konnte diesen Anblick nicht ertragen. „Warum weinst du?“, hauchte er.
Als Antwort stieg ihm der salzige Duft rauer See in die Nase, vermischt mit Tang, Sand und Muscheln. Er fühlte sich wie auf den Grund der See gezogen. Wind schien durch sein Haar zu fegen und ihn fror. Er kreuzte die Arme und rieb sich über die Schultern, wartete noch immer auf eine Antwort. Und dann endlich vernahm er sie. Ihre Stimme war wie der Schall einer Glocke und ebenso der Hall. Tibor wusste endgültig, dass er in einem Traum gefangen war.
„Ich sehe, was du nicht sehen kannst“, sagte sie. „Und jetzt, da ich vor dir stehe, sehe ich etwas, das selbst ich bis zu diesem Moment nicht wissen und erfassen konnte.“
„Was, was siehst du?“, fragte Tibor.
„Das darf ich dir nicht sagen. Es … tut mir leid.“ Sie senkte den Blick, doch der Hauch des Überirdischen blieb. Tibor war, als wären sie beide auf dem letzten warmen Flecken Erde und um sie herum der größte Sturm des Jahrhunderts. Er konnte ihn fühlen. Alles drehte sich, alles rumorte und dieser Orkan, er war gekommen um sie zu verschlingen – sie beide!
„Wer bist du?“, wiederholte Tibor die Frage vom Anfang. Und endlich antwortete sie ihm, jedoch anders als er es erwartet oder gedacht hätte: „Ich bin dein Schicksal, mein Freund.“ Und dann sagte sie in den Sturm hinein: „Du musst und wirst eine Reise antreten. Ein Mann wird wieder kommen, ihm folge, denn er wird dein Gefährte und Meister sein. Vertraue ihm, folge ihm und beschütze ihn. Denn auch er wird deine Hilfe einmal für sich benötigen, er weiß es nur noch nicht.“ Die letzten Worte waren leise gesprochen, ganz als hätte die Unbekannte sie eben erst erfahren.
Tibor drohte sich im Sturm zu verlieren, er selbst schien sich nun ebenfalls zu drehen. Ihm wurde schlecht. Der einzige Punkt im Chaos, der blieb und ihm half, noch bei Verstand zu bleiben, war sie. Dieses feminine Überwesen. „Du bist so schön“, sagte er, ohne auf ihre Worte einzugehen und um sich abzulenken. „Wirst du bei mir bleiben? Wirst du mich auf meiner Reise begleiten?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Aber ich werde dich wieder sehen?“, hakte Tibor nach und spürte, wie sein Herz schneller schlug.
Wasser schwamm in ihren Augen. War sie traurig? Er sagte: „Was ist mit dir? Was wird geschehen? Sag es mir!“ Tibor trat an sie heran, den Sturm ignorierend. Er schüttelte sie. Und da traf es ihn mit der Wucht eines Hammers: Kälte erfasste ihn, eisige Kälte und sein Atem gefror. Als er stocksteif stand und zu keiner Regung mehr fähig war, wich sie zurück. „Es … tut mir leid. Aber es ist deine Bestimmung. Dein Schicksal ist unausweichlich. Füge dich!“
„Und was ist mit dem Schicksal meiner Mutter?“, ereiferte er sich. „Hast du oder eine Deinesgleichen es gewusst? Gar gesehen? Wenn ja, warum habt ihr nichts getan, um sie zu schützen? Das ist nicht fair!“
Ihr Abbild entfernte sich. Bald war sie nur noch ein Punkt so weit entfernt von ihm wie ein Stern. „Rede!“
Das braungoldene Kleid leuchtete in einem Funkenregen auf. Dann verblasst die überirdische Frau, als wäre sie nie gewesen. Als hätte sie niemals Bestand gehabt. Sein Herz beruhigte sich nur langsam. Er spürte, dass er völlig aufgelöst war. Nach mehrmaligem Durchatmen registrierte er im Nachgang, dass die letzten Worte und Sätze des Gespräches nicht gesprochen worden waren. Sie waren gedacht. Mit einer Stimme, so kraftvoll, dass er geglaubt hatte wirklich zu sprechen. Sie musste ihn gehört haben, das stand für ihn fest. Tibor sah sich um. Er fühlte sich wie zu einem Treffen eingeladen, bei dem letztlich Vorspeise und Hauptgang übersprungen worden waren und das Dessert fragwürdig ausfiel. Plötzlich fragte er sich nicht mehr nur, wo er war, sondern auch, wer er war.
Die Erschöpfung machte sich schubartig bemerkbar. Erst sträubte er sich dagegen, als die Schwärze wie eine Welle heranrollte und sich kreiselhaft um ihn legte. Dann aber hieß er das Vergessen Willkommen und ließ sich fallen. Sein Bewusstsein ging von der Traumphase in die Schlafphase über, in der sich Tibor im Bett wälzte, als würde er einen Albtraum haben. Vermutlich beginnt er, wenn ich erwache, war ein Gedanke zwischen den Phasen, zwischen Traum und Realität.
Tibor erwachte früh am Morgen. Die Sonne war hinter dichtem, weißem Nebel verborgen. Ein trister Tag würde das werden, vermutete Tibor. Als er sich streckte, taten ihm die Knochen weh und ihm kam sein Traum von dieser Nacht in den Sinn. Es fühlte sich beinahe an, als wäre er real gewesen. „Dann wird jetzt der Albtraum beginnen“ murmelte er.
„Wenn du das so siehst, lässt sich das nicht ändern“, durchdrang eine tiefe, bassartige Stimme den Raum. Die Stimme mit dem Donnerhall ließ seinen Oberkörper in die Höhe schnellen. Es knackte vernehmlich, so, dass er sich den Rücken halten musste. Er kannte diese Stimme und sie war erst wenige Stunden alt. „Du!“ Es war mehr eine Erkenntnis denn eine Frage. „Vermutlich bist du nicht einfach so gekommen.“ Tibor reckte die Hände in die Luft, dann stand er auf und sah dem anderen ins Gesicht. Er musste dazu den Kopf heben. Tibor erkannte das lange, graue Haar, dass ihm bereits gestern aufgefallen war. Und da waren diese durchdringenden Augen, die mehr als nur ein Jahrhundert gesehen zu haben schienen und die jetzt zu ihm herab blickten. Die hünenhafte Gestalt passte kaum durch den Türrahmen. Wie hatte Liftar es nur so leise hier hinein geschafft? Und wie konnte er überhaupt das Öffnen der Türe überhören? „Solche Dinge“, setzte Tibor an.
„-sind dir bisher noch nicht untergekommen, wie?“, vollendete Liftar.
War da ein Grinsen auf den Lippen des Eindringlings. „Gibt es den Begriff Privatsphäre in deinem Sprachgebrauch nicht?“
„Was für ein Ding?“, fragte Liftar. „Ich kenne so etwas nicht. Und nun komm, wir haben keine Zeit mehr! Vor allem nicht für Diskussionen um solche Banalitäten.“
„Wie kann ich wissen, dass ich dir vertrauen kann?“, fragte Tibor.
Eine Pause. Wind kam auf, wie bei einem Durchzug. Mit einem Mal stand die Tür offen.
„Weil ich dein Schicksal bin!“ Der Satz ließ ihn versteinern.
„Du … kennst sie! Das Wesen aus meinem Traum.“, stellte Tibor fest. „Dann muss sie wirklich existieren.“
Der Gefragte gab keine Antwort darauf. Tibor vermutete, dass er und dieses feminine Überwesen sich kannten. Vielleicht hatte er sie auch geschickt und kannte damit die Botschaft. Oder er hatte alles nur inszeniert. Dass sie die Entführerin seiner Mutter war, glaubte er nicht.
„Komm jetzt. Es wird Zeit“, drängte Liftar Masir.
Hatte er eine Wahl? Wenn du deine Mutter wieder sehen willst, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, so folge ihm. Nur er kann dir helfen. Oder wie willst du hier und alleine etwas ausrichten?
Tibor ballte die Hände zu Fäusten. „Gut“, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Aber vertrauen werde ich dir noch lange nicht. Das will gut erarbeitet werden. Ob das je geschehen konnte, darauf wusste allein die Zeit eine Antwort.
Tibor folgte dem riesigem Mann, der sich letzte Nacht als Liftar Masir vorgestellt hatte, hinaus. Folgte ihm durch dichten Nebel durch die Straßen und über die Ebene zur Küste. Folgte ihm über den Sand, der sich ewig dahinzog. „Ebbe“, stellte Tibor fest. „Wir haben Ebbe.“
„Und bei Flut legen wir ab“, antwortete Liftar.
Ohne weitere Worte gingen sie weiter, bis das Wasser seine Füße berührte. Frostig und unbarmherzig blies der Wind. „Kämpfe“, sagte die Stimme seines Begleiters. „Wir dürfen jetzt nicht anhalten. Es gibt ohnehin kein Zurück.“
Tibor wollte erst gar nicht wissen, wie es war, das Wasser am ganzen Körper zu spüren. Als er wieder aufsah, um eine Antwort zu geben, konnte er die Gestalt des Anderen kaum mehr erkennen. Wenn er Liftar Masir nicht verlieren wollte, musste er sich sputen.
Tibor sah auf seine Stiefel, die durchtränkt und aufgequollen von der Nässe waren. Kurz entschlossen zog er das Schuhwerk und die Socken aus. Sand wirbelte auf, als er kurz darauf die Düne entlang rannte. Und dann kam das Wasser doch noch - eisigkalt. Und er ging weiter. Bis seine Füße darin versanken. Weiter. Bis dass Nass an die Waden reichte. Weiter. Bis es an die Knie reichte. Dann half alles Zögern nichts mehr: Er warf sich in die Fluten und fing mit den Armen zu kraulen an. Und er kraulte, als ging es um sein Leben, nur um den Vordermann nicht aus den Augen zu verlieren und an ihm dran zu bleiben, wenn auch der Abstand immer weiter wuchs. Als er sich am Rande der Erschöpfung eine Atempause gönnte und den Kopf hob, wollte er seinen Augen nicht trauen. Der Drachenkopf mit dem geöffneten Rachen und den stechenden Augen war unverwechselbar.
„Das, das hab ich schon zweimal gesehen!“, entfuhr es Tibor. Damals nämlich, als er mit seinem Vater auf dem Kutter unterwegs gewesen war, als sie im Dunst des Nebels daran vorbei geschaukelt waren. Und zum zweiten Mal erst vor wenigen Tagen. Diesmal, das wusste er, gab es kein Entkommen. Das war so sicher wie die nächste Welle. Tibor setzte seinen Kraulstil wieder fort. Entschlossen schwamm er dem Ungeheuer aus Holz entgegen, denn das Ungetüm war sein Ziel geworden. Und es war ein großes Ziel, ein riesiges, wie er mit jedem weiteren Schwimmzug immer mehr begriff. Eines, das ihm den verbliebenen Atem endgültig raubte. Wollen wir einmal feststellen, wie deine wahre Natur ist, dachte Tibor, als seine Hände die Strickleiter berührten, die an Deck des hölzernen Drachen führte.