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ОглавлениеII. Herbst - Das Orakel von Finisterrae
Die Wirtschaftskrise verschärfte sich und die hohe Arbeitslosigkeit, die bereits länger in anderen Teilen Europas grassierte, traf nun auch die Stadt Brüssel. Die zahllosen Migranten, die bis vor kurzem in die Stadt geströmt waren, weil sie dort noch Arbeit fanden, mussten nun als erste ihre Stelle räumen. Die sozialen Spannungen stiegen. Bei den schnell sinkenden Börsenkursen bekamen auch jene es mit der Angst zu tun, die in den vergangenen Jahren von Spekulationsgeschäften profitiert hatten: die Spekulanten, die Börsenmakler, die Depotmanager, die Immobilienhändler, die Wirtschaftsberater, die Banker und die Versicherungsunternehmer. Seitdem Pfaff zum inoffiziellen Sprecher dieser Leute avanciert war, schlug er einen noch schärferen Ton im Fernsehen an.
***
Es nieselte leicht und ein grauer Herbsttag kündigte sich an. Wie gewohnt ging Robert recht früh zur Arbeit. Es war noch dunkel und an der Börse rannte vor ihm ein Mann die Treppe herunter. Als er Robert bemerkte, schritt er eilig weiter, schaute sich mehrmals um und versuchte offensichtlich, den Abstand zu Robert zu vergrößern. Der Mann kam Robert verdächtig vor. Er sah aus wie ein Banker oder Börsenmakler, denn er trug den typischen Business-Anzug. Vor dem dunkelgrünen Metalltor am Hinterhof der Finisterrae-Kirche blieb er plötzlich stehen. Er schaute sich kurz noch einmal um, steckte schnell etwas in die Türspalte und verschwand eiligst um die Ecke. Als Robert das Tor erreichte, bemerkte er, dass im Spalt zwischen den beiden Torflügeln zahllose zusammengefaltete Papierzettel steckten. Er blieb neugierig stehen und schaute sich vorsichtig um. Als er sich sicher war, dass niemand ihn beobachtete, machte er einen schnellen Schritt zum Tor hin, zog hastig einen Zettel aus dem Spalt, ließ diesen blitzschnell in seine Jackentasche verschwinden und ging schnell weiter.
Im Büro zog er den Zettel aus der Jackentasche, setzte sich an seinen Schreibtisch, entfaltete das Papier und betrachtete es neugierig. Er erkannte das Wort Cobra, das in schnellen Zügen mit einem Kugelschreiber gekritzelt worden war. Darunter standen die Zahl 1620, ein Datum und zwölf Sternchen, die in einem Kreis angeordnet waren. Er runzelte die Stirn, denn er konnte mit der Botschaft nichts anfangen. Er legte den Zettel zur Seite und überlegte. Vielleicht steckten sich Drogenhändler heimlich Bestellungen zu? Aber warum sollten sie dazu gerade das Tor einer Kirche benutzen? Und warum kam der Mann die Treppe zur Börse heruntergelaufen? Das alles passte nicht zusammen. Er grübelte den ganzen Morgen über die Sache und rief schließlich kurz vor Mittag Lisa an.
„Hallo Lisa... ich habe eine geheime Botschaft abgefangen“, flüsterte er ins Telefon. „Vielleicht kannst du mir bei der Entschlüsselung helfen?“
„Aber natürlich, Robert, ich habe ja 20 Jahre Erfahrung bei der CIA und…“, schallte es durch den Hörer.
„Lisa… es ist kein Scherz … Diesmal ist es ernst!“, fiel er ihr ins Wort. „Hast du jetzt Zeit?“
„Okay“, sagte sie und betonte das Wort sehr amerikanisch, „um eins im Restaurant unter der Palme.“
Als Robert auftauchte, wartete Lisa bereits ungeduldig am abgesprochenen Ort. Er setzte sich zu ihr und sie schaute ihn neugierig an. „Wo ist denn deine geheime Botschaft?“ Er kramte den Zettel aus der Tasche seines Jacketts und zeigte ihn. Sie nahm ihn in die Hand und musterte ihn kritisch. „Hm… das ist merkwürdig … Wo hast du das gefunden?“
„Im Türspalt des grünen Tores am Hintereingang zur Finisterrae-Kirche... Dort stecken vieler solche Zettel.“
Sie las den Zettel nochmals. „COBRA", murmelte sie. „COBRA… ist doch der Name einer Künstlergruppe… COBRA steht für Copenhagen – Brüssel – Amsterdam?“
„Hm“, brummte Robert und nahm den Zettel zurück.
Zufällig lief Viktor vorbei. Sie winkten ihm zu, ließen ihn den Eid der Geheimhaltung schwören und weihten ihn in ihr Geheimnis ein.
Viktor las den Zettel und runzelte die Stirn. „Hmm... merkwürdig“, murmelte er. „Eine Kobra ist doch eine Schlange.“
Ihre enttäuschten Blicke verrieten ihm, was sie von seinem Vorschlag hielten.
„Viktor… das ist sehr originell“, meinte Lisa.
„Ja… darauf wäre ich nicht so schnell gekommen“, pflichtete ihr Robert bei.
Viktor überlegte weiter und stand dann plötzlich auf. „Wartet auf mich… Ich komme gleich wieder“, sagte er und verschwand.
Das Essen wurde serviert und sie ließen es sich trotz Aufregung schmecken. Sie waren noch nicht ganz mit essen fertig, als Viktor mit verschwitztem Gesicht und dampfendem Kopf wieder auftauchte. Er griff in beiden Jackentaschen, kramte viele Zettel hervor und warf diese demonstrativ auf den Tisch. „So... wollt ihr... noch mehr... davon?“, schnaufte er.
Robert und Lisa schauten ihn erstaunt an. „Wie... bist du in der kurzen Zeit hin und her gerannt?“, wunderte sich Lisa.
„Ja, ja“, keuchte er, „und die meisten Zettel... habe ich... in den Mauerspalten... am Eingang der Maria-Kapelle... gefunden… In der Neuen Straße… gleich neben der Kirche.“
Robert schaute ihn erschreckt an. „Wie? Bist du lebensmüde? Vielleicht sind das Bestellungen von Drogendealern.“
Lisa fing an die Zettel zu entfalten, breitete diese vor sich auf dem Tisch aus und beim zehnten Zettel ging ihr ein Licht auf. „Ich habe es!“, rief sie aus. „Das sind Namen von Unternehmen.“
„Zeig mal“, sagte Robert und schnappte sich ein paar Zettel. „Tatsächlich“, murmelte er. Er entfaltete schnell die restlichen Zettel, nahm die Zeitung, die neben ihm auf dem Tisch lag, schlug eine ganz bestimmte Seite auf und verglich die Zettel mit bestimmten Angaben in der Zeitung.
Lisa beäugte ihn argwöhnisch. „Was suchst du?“
Er blickte auf. „Ich schau nach den Börsenkursen.“
„Ach so“, staunte Viktor, der sich inzwischen wieder von seinem Spurt in die Stadt erholt hatte.
Robert legte die Zeitung auf den Tisch. „Ich glaube, dass wir es mit Spekulation zu tun haben“, tat er geheimnisvoll.
Lisa runzelte die Stirn. „Spekulation?“
„Ja... Spekulationsgeschäfte … Die Zahlen stellen den erwünschten Kurs eines bestimmten Wertpapiers zu einem bestimmten Termin dar.“
„Und wer spekuliert auf was?“, warf Viktor ein.
„Börsenspekulanten bieten Derivate auf Wertpapiere, Rohstoffe, Zinssätze oder Wechselkurse an. Sie verpflichten sich, die Werte zum angegebenen Fälligkeitszeitpunkt zu einem vereinbarten Preis zu kaufen oder zu zahlen", erklärte Robert. „Im Grunde genommen wetten sie darauf, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. Je nachdem wie sich der Preis entwickelt, machen sie Gewinn oder Verlust“.
Viktor kratzte sich am Kopf. „Wirklich?“
Lisa zog die Augenbrauen zusammen. „Und was haben sie davon?“
„Oh… sie können so auch bei fallenden Preisen viel Geld verdienen.“
Lisa runzelte die Stirn. „Aha… und warum stecken diese Leute die Zettel in Tür- und Mauerspalten der Finisterrae-Kirche?“
Robert zuckte mit den Schultern. „Hm… das ist gute eine Frage“, murmelte er. „Vielleicht tun sie das aus dem gleichen Grund wie die Juden an der Klagemauer: Sie hoffen, dass die Wünsche, die sie auf die Zettel kritzeln, in Erfüllung gehen.“
Lisa überlegte. „Hm… das wäre möglich.“
„Ja… interessant“, stimmte Viktor zu. „Ich dachte, dass Börsengeschäfte seriös sind.“
Robert lachte laut. „Hahaha… das ist ein großes Irrtum … Die Finanzmärkte haben sich längst in ein Spielcasino verwandelt.“
Lisa schaute ihn verwirrt an. „Aber warum rennen die Börsenspekulanten gerade in die Finisterrae-Kirche? Gleich hinter der Börse ist doch auch eine Kirche“, warf sie ein.
„Ja... und was bedeutet der komische Sternenkreis auf den Zetteln?“, fragte Viktor.
Robert zuckte die Schultern, denn auch er hatte keine Ahnung. Er verließ die Runde, weil er einige arbeitsmedizinische Untersuchungen durchzuführen hatte.
Im seinem Büro schaute er in die Akten. Die erste Patientin war eine Neueinstellung: Sarah Fischer. Danach folgten sechs Routineuntersuchungen und eine Berufsunfähigkeit. Eine junge Frau trat ins Untersuchungszimmer ein. Robert wollte sein Routineprogramm abspulen, doch plötzlich merkte er, dass er sie kannte.
„Oh, Frau Fischer… ich meine Sarah… Was machst du hier?“, stammelte er.
Sie war genauso überrascht und sie schaute ihn mit großen Augen an. „Du bist der Arzt hier … Wie peinlich“, stotterte sie verlegen.
Er bat sie, sich zu setzen.
„Ich habe hier Arbeit bekommen als Informatikerin“, sagte sie stolz, „und das obwohl die freien Stellen inzwischen rar geworden sind. Heute ist mein erster Arbeitstag.“ Robert nickte und fing mit den üblichen Untersuchungen an.
„Heute Morgen wurde ich Herrn Hartman vorgestellt, weil ich für seine Abteilung nebenher auch noch Arbeit erledigen muss.“
„Oh!“, staunte Robert. „Ich begleite in seiner Abteilung die Forschungsprojekte.“
Sie erklärte, was ihre Aufgaben dort waren und Robert hörte zu, während er die Manschette des Blutdruckmessungsgerätes um ihren Oberarm legte und die Luftkammer aufpumpte. Das Blut staute in ihrem Arm und sie verzog das Gesicht. „Das spannt so“, sagte sie. Er ließ die Luft langsam entweichen und lauschte bis die Blutzirkulation wieder einsetzte. Bei der Blutabnahme wollte sie sich lieber hinlegen, denn meistens kippe sie dabei um. Er desinfizierte die Einstichstelle mit Alkohol und nahm eine Stichnadel. Sie schaute weg und kniff die Augen zu. „Ich mag das nicht... mich an der verwundbaren Seite meines Arms so wehrlos stechen zu lassen.“ Er nickte, denn er kannte das Gefühl. Er füllte die erste Aufsteckspritze mit Blut, danach eine zweite und eine dritte. Er bat sie, sich wieder hinzusetzen und hörte sie ab. Als das kalte Metall des Stethoskops ihren Rücken berührte, bekam sie eine Gänsehaut. Sie blickte sich um und lächelte. Danach schaute er sich ihr Impfbuch an und erklärte, dass ihre Tetanusimpfung abgelaufen sei. „Du kannst die Auffrischungsimpfung jetzt machen lassen oder zu deinem Hausarzt gehen.“ Sie blickte zu ihm auf und meinte, dass sie sich lieber jetzt von einem Arzt, dem sie vertraue, impfen lasse. Robert desinfizierte ihren Oberarm, injizierte ihr den Impfstoff und klebte ein Pflaster auf die Einstichstelle. Sie wunderte sich, dass alles schon vorbei war und entschuldigte sich für die abwegige Bemerkung ganz zu Anfang. Sie zog ihren Pullover wieder an und verabschiedete sich. „Tschüss, wir sehen uns noch“, sagte sie und ging.
***
Die Frage, weshalb die Börsenspekulanten gerade die Finisterrae-Kirche für ihren Kult ausgesucht hatten, beschäftigte Robert den ganzen Nachmittag. Kurz vor Dienstschluss rief er Lisa an und sie beschlossen, sich die Kirche näher anzuschauen.5
Das Hauptportal der kleinen Kirche lag an der Neuen Straße, die parallel zur Hauptstraße lief. Robert und Lisa blieben neugierig vor der Kirche stehen und warfen einen Blick auf den breiten Turm mit dem Kupferdach, dessen Frontseite ein großes Madonna-Relief zierte. Gespannt stießen sie die Tür auf und traten in die Kirche hinein. Vor ihnen leuchtete das Hauptschiff in lichten Tönen. Weißmelierte Marmorsäulen stemmten die hellen Bögen des weißlichen Kuppeldachs und die Glasfenster warfen buntes Licht in die Seitenschiffe. Langsam schritten sie durch den Mittelgang auf den Altar zu, der durch die Beleuchtung in zartgelben Farben strahlte. Sie schauten sich um und bewunderten die schlichte Schönheit dieser Kirche, die von außen so unscheinbar erschien.
Lisa nahm Robert bei der Hand und hielt ihn an. „Hier war ich noch nie“, flüsterte sie.
„Ist das Barock?“, fragte er mit gedämpfter Stimme
Sie nickte entschieden: Ja, ja... Barock“.
Sie gingen ein Stück weiter und blieben kurz vor der Kanzel stehen. Rechts von ihnen entdeckten sie eine vierflügelige Tür, die offensichtlich zu der Seitenkapelle führte, die Viktor erwähnt hatte. An einem der Türflügel hingen zwei Tafeln mit dem Vermerk Madonna des Guten Glücks in beiden Landessprachen. Neugierig traten sie in die Kapelle hinein und blieben gleich hinter der Tür stehen. Links in der Kapelle thronte eine Madonna-Statue über einem kleinen Altar in weißem Marmor. Die Madonna hielt ein Schwert in der Hand und hatte das Jesuskind auf dem Arm. Sie trug eine große, goldene Krone und ihr dunkelblauer Mantel war mit goldenen Verzierungen bemalt. Ein hüfthohes Gitter trennte den Altarbereich von der Kapelle. Rechts von ihnen ganz hinten in der letzten Stuhlreihe saß eine in schwarz gekleidete Frau, die in einem Gebet versunken war. Sie stand auf und schritt langsam zu der Madonna-Statue. Dort zündete sie eine Kerze an und stellte diese zu den vielen Kerzen, die vor dem Altar leuchteten. Sie bekreuzigte sich von der Statue, ging zurück und blieb bei einem Ständer stehen, auf dem ein großes, aufgeschlagenes Buch lag. Sie schrieb ein paar Worte in das Buch, blickte nochmals auf die Madonna, bekreuzigte sich erneut und verließ die Kapelle durch eine zweite Tür gleich neben ihr.
Als sie gegangen war, schritt Robert zum Altar, öffnete das Türchen am Trenngitter und näherte sich der Madonna. „He, Lisa“, sagte er mit gedämpfter Stimme, „hier liegen die gleichen Zettel, die wir heute Morgen gefunden haben.“ Er schnappte sich ein paar Handvoll Zettel und steckte diese in die Taschen seiner Jacke.
Plötzlich gab Lisa ihm hektische Handzeichen. „Da kommt jemand“, wisperte sie.
Robert machte ein paar schnelle Sprünge, schloss das Gittertürchen und schaute mit einem devoten Blick auf die Madonna. Im gleichen Moment halte eine laute Stimme durch den Raum. „Hallo... es ist sechs Uhr ... Wir schließen.“ Ein Mann, der einen riesigen Schüsselbund in der Händen hielt, stand hinten in der Kapelle und starrte sie an. Sie gingen zu ihm hin, grüßten ihn freundlich und fragten nach der Bedeutung der Madonna. Das Gesicht des Mannes klarte auf. „Oh... es freut mich, dass sie sich dafür interessieren ... Das ist die Madonna des Guten Glücks … Zu ihr kommen Glücksspieler, die ihr um Glück erbitten, und Studenten, die vor einer Prüfung stehen. Sogar Obdachlose, die das Glück im Leben verlassen hat, tauchen hier auf. Schauen sie, dort in dem Buch tragen viele Leute ihre Wünsche ein.“ Lisa drehte sich um und warf einen kurzen Blick in das Buch. Der Mann kramte eine Broschüre aus der Tasche und steckte ihnen diese zu. „Hier, nehmen sie diese, wenn sie gern mehr wissen wollen.“ Lisa nahm die Broschüre an und bedankte sich. Der Mann begleitete sie zum Ausgang und schloss die Tür hinter ihnen ab. Lisa lud Robert zu sich nach Hause ein.
Robert zog seine Jacke aus, schüttelte die vielen Zettel aus den Jackentaschen auf den Esstisch und setzte sich. Er faltete die Zettel auf und stellte fest, dass diese ähnliche Beschriftungen und Zeichen aufwiesen, wie jene, die sie morgens gefunden hatten. Lisa überprüfte die Zettel genau und schaute zu Robert auf. „Nun wissen wir, weshalb die Spekulanten gerade in die Finisterrae-Kirche kommen“, sagte sie. „Sie ersuchen den Segen der Madonna des Guten Glücks für ihre Spekulationsgeschäfte.“
Er nickte zustimmend. Damit hatten sie ein Geheimnis gelüftet, doch was sich wirklich hinter den Zetteln verbarg, ahnten sie nicht.
***
Zwei Wochen später hatte Viktor Robert zu einem Treffen ihrer Landsleute eingeladen. Diese trafen sich einmal im Monat in einer Kneipe, die den merkwürdigen Name A La Mort Subite trug, was übersetzt Zum Plötzlichen Tod hieß. Der erste Herbststurm des Jahres fegte über die Stadt. Im Lichtkegel der Straßenbeleuchtung ging ein kräftiger Regen nieder, den heftige Windböen unter Roberts Regenschirm peitschten. Vor der Kneipe schüttelte Robert den Regenschirm, trat hinein und schaute überrascht in den Raum. Ein langer, schmaler Raum in weißgelblichen Vanilletönen breitete sich vor ihm aus. Eckige Säulen mit goldfarbenen Kapitellen stützten die hohe Decke und dazwischen standen dunkle Holztische in zwei Reihen. Große, halb runde Spiegel schmückten die Wände. Zwischen den prächtigen Spiegeln waren vanillefarbige Holzvertäfelungen angebracht, die mit bunten Dekorationen geschmückt waren. Rechts stand eine lange Theke in dunklem Holz und am Ende des schmalen Raums führte eine Treppe in eine kleine Galerie im ersten Stock. Roberts Blicke fielen auf einen Tisch, an dem schon einige Leute saßen, die lebhafte Gespräche in seiner Sprache führten. Er stellte sich ihnen vor und setze sich. Viktor traf in Gesellschaft eines Mannes einige Minute später ein. „Darf ich euch Herrn Frank Arenberg, den neuen Konsul unseres Landes, vorstellen“, sagte er höflich. Arenberg wurde von allen sehr herzlich begrüßt und setzte sich anschließend neben Robert. Sie kamen schnell ins Gespräch und stellten fest, dass sie etwa im gleichen Zeitraum an der gleichen Universität studiert hatten und sich in der gleichen Studentenbewegung engagiert hatten. Frank bot Robert das Du an und sie stießen mit ihrem Glas darauf an. Frank erzählte von den verschiedenen Auslandsvertretungen, in denen er tätig gewesen war: Washington, Madrid, Teheran und zum Schluss Shanghai. Er zeigte sich über die wirtschaftliche Lage nicht sehr optimistisch und meinte, dass China auf ernsthafte Schwierigkeiten zusteuere. „Die Chinesen haben Milliarden Dollars, die aus der positiven Handelsbilanz mit den USA resultieren, in amerikanischen Staatsanleihen investiert. Manchen dämmert es nun, dass die USA diese Schulden niemals zurückzahlen können.“ Robert nickte zustimmend. „Aber das ist noch nicht das Schlimmste“, fuhr Frank fort.
„Ach so“, staunte Robert.
„Ja… das Schlimmste ist, dass die amerikanischen Importe mit Krediten bezahlt werden … Mit Kreditkarten… oder mit Hypotheken, die die Leute auf ihre Häuser aufnehmen.“
Robert runzelte die Stirn. „Auf Kredit? Warum tun sie das?“
„Das ist ganz einfach“, fing Frank an. „Weil die Löhne in den USA seit Jahren stagnieren, müssen die Amerikaner ihren Konsum zunehmend über Kredite finanzieren … Deswegen werden die Zinsen absichtlich niedrig gehalten.“
„Also... Kredit statt Lohn“, warf Robert ein.
„Ja... genau. Doch die niedrigen Zinsen erhöhen den Druck auf den Immobilienmarkt, denn immer mehr Menschen wollen kaufen, weil kaufen billiger als mieten ist. Nun steigen die Preise der Häuser ins Unermessliche, was es den Eigentümern wiederum ermöglicht, höhere Hypotheken auf ihrem bereits abgezahlten Haus aufzunehmen, um weiter zu konsumieren. Das treibt aber die Privatschulden weiter in die Höhe und befeuert eine gewaltige Schuldenspirale.“
Robert schaute ihn skeptisch an. „Aber wieso können die Banken so viele Kredite vergeben?“
Frank hob kurz die Arme an. „Das ist die gerade die Schweinerei ... Die Banken schwatzen den Leuten ja regelrecht die Kredite oder Hypotheken auf, weil sie daran verdienen.“
Robert war nun völlig verwirrt und zog die Augenbrauen zusammen. „Aber wo haben die Banken das Geld her?“
„Sie kreieren es einfach!“, rief Frank aus.
„Äh“, staunte Robert. „Geht das überhaupt?“
„Aber sicher. Die Banken lassen die Kredite aus ihrer Bilanz verschwinden, indem sie diese verbriefen und auf den Finanzmarkt verscherbeln. Sie sind dabei einen riesigen Schuldenberg anzuhäufen, der nur auf den fiktiven Wert amerikanischer Immobilien steht.“ Robert schaute ihn ungläubig an und Frank setzte noch eins drauf. „Aber auch die Wirtschaft nimmt Kredite auf, um ihre Investitionen zu finanzieren, und auch die Staaten leihen sich Geld, weil die Steuereinnahmen schwinden, und auch die Finanzwirtschaft macht Schulden, um ihre Spekulationsgeschäfte zu hebeln ... Dadurch ist die Gesamtverschuldung in den meisten Industriestaaten inzwischen drei bis viermal höher, als ihr Bruttosozialprodukt.“ Robert blickte nachdenklich und grübelte über das Gesagte. Frank beugte sich zu ihm hin, schaute ihn mit ernster Miene an und sprach flüsternd hinter vorgehaltener Hand weiter. „Wenn diese riesige Schuldenblase platzt, wird eine gigantische Lawine losgetreten. Das wäre der absolute Super-Gau… eine weltweite Finanzkrise, die alle bisherigen Krisen in den Schatten stellt.“ Als er merkte, dass Roberts Gesicht schnell eintrübte, klopfte er ihm ermunternd auf die Schulter und tröstete ihn. „Aber wir werden die Krise schon überstehen, wie alle bisherigen Krisen auch. Nur eins musst du wissen: Die Leute mit Vermögen werden nervös… sehr nervös … Die Meisten haben ihr Vermögen bereits in Sicherheit gebracht… ihre Aktien abgestoßen… ihre Staatsanleihen verkauft und das Geld in Gold, Rohstoffe oder Immobilien angelegt.“
Robert winkte den Gedanken ab. „Ich habe keine Aktien, kein Vermögen und kein Geld.“
Frank schmunzelte und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Das ist gut für dich, denn was du nicht hast, kannst du nicht verlieren.“
Frank wurde von seinem Tischnachbarn abgelenkt und brach das Gespräch ab. Robert brütete über das Gesagte und auch später, als er nach Hause lief, ließen ihn die trüben Gedanken nicht mehr los.
***
Der Verkehr stockte und die geduldigen Autofahrer schoben sich im Schneckentempo durch die Straßen, denn die Gewerkschaften hatten zum Warnstreik bei der Bahn, der Metro und den größeren Unternehmen aufgerufen.
Vor dem Werkstor der K&K standen Streikposten. Die Männer und Frauen trugen Plastikwesten als Kennzeichnung ihrer Gewerkschaft und wärmten sich an einem Feuer, das sie in einem alten Ölfass angezündet hatten. Am Zaun hatten sie große Transparente mit ihren Forderungen befestigt: Regulierung statt Spekulation; Transaktionssteuer jetzt; Vermögenssteuer statt Lohnkürzung; Stoppt die Steuerflucht. Mit einem Megafon skandierte ein Mann die Losungen und die anderen schrien diese im Chor nach. Vor dem Eingang hatten sich jene Leute versammelt, die arbeiten wollten, aber nicht hinein gelassen wurden, und jene, die mit ihrer Anwesenheit die Streikposten unterstützen wollten. Es wurde heftig diskutiert, ein wenig geschubst und geschoben. Lisa und Viktor waren zu Hause geblieben, doch Robert, der sich mit der Situation nicht auskannte, war gekommen, um das Geschehen zu beobachten. Er drängte sich bis zum Tor vor. „Hier kommst du nicht durch!“, schrie ihn ein Gewerkschaftler mit roter Baseballmütze und dickem Bauch zu. Robert machte deutlich, dass er nicht vorhatte durchzubrechen, und der Mann beruhigte sich. Eine sichtlich aufgeregte Frau versuchte sich mit Argumenten Zutritt zu verschaffen. Sie sei alleinerziehend und dringend auf das Geld angewiesen, hielt sie einer Gewerkschaftlerin vor. „Sorry, das geht nicht“, mischte sich der Mann mit der roten Kappe ein. „Wenn der Streik heute misslingt, machen sie uns morgen alle platt.“ Die Frau schüttelte verzweifelt den Kopf und zog ab.
Kurz nach neun tauchten Hartman und Kleinknecht auf und gingen entschlossen auf das Tor zu. Als einige Streikposten versuchten, ihnen den Zutritt zum Betrieb zu verwehren, kam es zu einem kurzen Handgemenge, beim dem die beiden sich den Weg energisch freikämpften. Buhrufe hallten aus der Menge, doch die beiden setzten sich durch. Als sich nichts mehr tat, ging Robert Heim.
In den Abendnachrichten wurde kurz über den Streik berichtet. Die Gewerkschaften erklärten, dass der Warnstreik ein voller Erfolg gewesen sei, während die Arbeitgeberseite auf die geringe Beteiligung insbesondere in den bestreikten Industrieunternehmen hinwies. Erwartungsgemäß gab auch Pfaff einen kurzen Kommentar ab. Er betonte, dass der Streik der Wirtschaft schade und keine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme sei, denn er schrecke Investitionen ab und führe somit zu noch mehr Arbeitslosigkeit. Er bedankte sich bei den verantwortungsvollen und anständigen Arbeitnehmern, die den unbedachten Parolen der Gewerkschaft nicht gefolgt seien. Er kündigte auch an, überprüfen zu lassen, ob es rechtens sei, dass Streikposten Arbeitswillige daran hindern, ihre Arbeit aufzunehmen.
Kurz nach neun klingelte es an der Tür. Robert drückte den Türöffner. Zu seiner Verwunderung stand Sarah vor der Tür. „Darf ich kurz rein kommen?“, sagte sie bittend. Er guckte sie erstaunt an. „Bitte“, flehte sie eindringlich und machte ein bedrücktes Gesicht.
Er ließ sie herein, bot ihr an, Platz zu nehmen, und holte etwas zum Trinken in der Küche. Er legte Musik auf und setze sich. Sie trank den eingeschenkten Wein auf einmal leer, blickte ins leere Glas und seufzte tief. „Irgendwie sitze ich seit Wochen Abend für Abend allein zu Hause ... Mir fällt die Decke auf den Kopf ... Ich kenne hier niemand“, jammerte sie. Robert nickte ihr verständnisvoll zu. „Das letzte Wochenende habe ich im Bett verbracht“, stöhnte sie. „Ich hatte keinen Grund mehr aufzustehen ... Ich war es leid, mich alleine in Kneipen und auf Feten herumzutreiben. Irgendwie kommt nie etwas dabei heraus.“
„Du möchtest weg von hier ... lieber heimkehren, oder?“, warf er ein.
Sie dachte kurz nach, trank den Rest ihres Weines und seufzte. „Habe ich wirklich eine Wahl?“
Robert fand, dass sie Recht hatte, denn die Entscheidung herzukommen, war keine freie Entscheidung gewesen, sondern eine erzwungene. Die Wirtschaft verlangte Flexibilität, doch das Herum-Schupsen von Menschen quer über den Globus hatte seinen Preis und für Viele war dieser Preis zu hoch. Er hörte ihr zu und erkannte auch seine eigene Geschichte.
Er zog die Augenbrauen zusammen und schaute sie besorgt an. „Sarah... du musst wissen, was du eigentlich im Leben erreichen willst?“
Sie überlegte und ließ sich noch ein Wein nachschenken, den sie gleich trank. „Glücklich sein… einfach glücklich sein... doch das, was mir früher so selbstverständlich gelang, erscheint nun so schwierig.“ Sie erzählte von ihrer Heimat, ihrer Familie, ihrer Kindheit, ihrer Jugend, von glücklichen Zeiten und warum sie dort wegziehen musste. Und während sie redete, lebte sie auf und lächelte. Die CD war abgelaufen und Robert stand auf und legte einen neue ein. Eine wehmütige, gefühlvolle Frauenstimme begleitet von mehreren Gitarren klang gedämpft aus den Lautsprechern.
Sie spitzte die Ohren. „Was ist das für eine Musik?“
„Das ist portugiesische Musik … Fado.“
Sarah hörte eine Weile hin und seufzte tief. „Sie wirkt sehr wehmütig… ein bisschen so, wie ich mich jetzt fühle.“
Er schaute sie direkt an. „Du bist hier nicht glücklich, oder?“
Sie zuckte die Schultern. „Eigentlich nicht“, sagte sie und atmete tief durch. „Als ich hörte, dass ich auswandern konnte, war ich high… richtig gut drauf … Ich träumte von einem Job und von einem neuen Leben.“ Robert nickte mitfühlend. „Erst als ich mich von meinen Freunden verabschieden und meine Sachen packen musste, fing ich an zu zweifeln und ich hatte plötzlich Angst vor meiner eigenen Courage.“
„So ähnlich ging es mir auch“, gab er zu.
Sie nickte. „Komisch, als ich dann hier war, sah ich zunächst nur das Positive … Alles war besser ... Alles war schöner als zu Hause.“ Sie stand auf und stellte ihr Glas auf den Tisch vor der Couch und setzte sich daraufhin direkt neben ihn. „Doch nun bin ich ein tiefes Loch gefallen… und ich weiß nicht, wie ich da noch heraus komme.“ Sie lehnte sich an ihm und blickte kurz auf. „Ich brauche jemand, der mich festnimmt, mich spüren lässt, dass ich noch existiere.“ Robert empfand tiefes Mitleid und legte seinen Arm über ihre Schulter. Er klopfte ihr kumpelhaft auf die Schulter, strich ihr über den Oberarm und drückte sie. Sie legte ihren Kopf gegen seine Schulter. Er spürte ihre Wärme und fuhr mit der Hand über ihre Haare. Sie genoss es, denn sie schloss die Augen, ein entspanntes Lächeln erschien in ihrem Gesicht und eine ruhige, tiefe Atmung setzte ein. Seine Blicke glitten entlang ihrer langen Oberschenkel, folgten die Rundung ihrer Hüfte, überflogen die Wölbungen ihrer Brüste, verschwanden kurz in den V-Ausschnitt ihres Pullovers, streiften ihren weißen Hals und die glatte Haut ihres Gesichtes und verloren sich in die Strähnen ihrer dunkeln Haaren, die von ihrem Ohr zurückgehalten wurden. Die Gefühle, die sich beim Betrachten ihres schönen Körpers in ihm regten, überraschten ihn. Plötzlich kamen Schuldgefühle auf und er zog seinen Arm zurück. Sie öffnete die Augen, schaute ihn verlegen an und seufzte tief. „Robert… ich kann nicht mehr.“ Die Tränen standen ihr in den Augen. Er küsste sie tröstend auf die Stirn und stand auf. Er schenkte sich Wein ein und setzte sich in den Sessel gegenüber. Sie blieb den ganzen Abend und sie erzählten. Irgendwann stand sie auf und meinte, dass sie gehen wollte. Sie blieb vor der Musikanlage stehen und horchte hin.
„Wie heißt die Sängerin?“
Er nahm die Hülle der CD und zeigte diese. „Ana Moura.“
Sie schaute die junge Frau auf dem Cover an, die sie so selbstbewusst anstarrte, und zog die Augenbrauen hoch. „Ana Moura“, murmelte sie. „Was singt sie?“
„Nasci p´ra ser ignorante ... Ich bin geboren, um ignorant zu sein ... Sie singt, dass sie am Anfang ihres Lebens nicht viel wusste, danach zwar auf Wunsch ihrer Eltern viel studierte, aber dabei verlernte, was die Natur uns sagt ... Verstehst du, was sie meint?“
Sie runzelte die Stirn. „Wo hast du das her?“
„Lisa hat mir die CD kopiert. Willst du sie mitnehmen?“
Sie lächelte kurz, nickte erfreut und steckte die CD in ihre Jackentasche. Vor der Tür küsste sie Robert auf die Wangen, umarmte ihn kurz, atmete auf und ging. „Tschüss, Robert, wir sehen uns noch“, rief sie von der Treppe aus.
***
Die Abende waren bereits deutlich kühler geworden und mit Ausnahme der Platanen hatten die meisten Bäume in den Straßen und Parks ihr Laub abgeworfen.
Lisa hatte Robert zu ihrem Lieblingsfilm eingeladen, der im Spätabendprogramm eines Kinos lief. Mit den Worten „Das musst du unbedingt sehen“ hatte sie hohe Erwartungen bei ihm geweckt. Sie kannte den Film fast auswendig, weil sie ihn schon so oft gesehen hatte. Sie hatte sich trotzdem wieder von seiner Stimmung verführen lassen und kleine Details entdeckt, die ihr bei früheren Vorstellungen nicht aufgefallen waren. Hin und wieder hatte sie einen flüchtigen Blick auf Robert geworfen, um auszuloten, was er von dem Film hielt. Er war nicht eingenickt und hatte auch nicht gelangweilt gegähnt, wie manche ihrer früheren Freunde getan hatten, sondern er hatte die ganze Zeit gespannt zugeschaut. Am Ende des Films waren sie sogar sitzen geblieben, hatten der wunderschönen Musik gelauscht und die Stimmung etwas auf sich nachwirken lassen, bis alle Menschen den Saal verlassen hatten. Als sie draußen auf der Straße waren, wollte Lisa es unbedingt wissen.
„Und?“, fragte sie.
„Was, und?“
„Ja, wie findest du den Film?“
Er blieb stehen und legte seine Hände auf ihre Schultern. „Glaubst du wirklich, dass ich nicht merke, wie du die ganze Zeit auf heißen Kohlen sitzt und wissen willst, was ich von dem Film halte?“
Sie fühlte sich ertappt, lächelte und gab ihm einen Kuss. Sie liefen weiter und Robert fing an zu schwärmen über die wunderschön gespielte Rolle der Hauptdarstellerin, über die Rot-Töne, die den ganzen Film prägen, über die ergreifende Filmmusik, welche die Atmosphäre so dramatisch untermalt und über das Verfließen von Zufall und Schicksal.
„Du meinst, dass Julie als Fotomodell und später als Gerettete mit nassen Haaren in der gleichen Pose vor dem gleichen roten Hintergrund steht?“, fragte sie.
Er nickte.
Sie war ihrerseits von der rührenden Beziehung angetan, die sich zwischen Julie und dem pensionierten Richter entwickelt und beide Menschen verändert. Auch das subtile Auflösen der Beziehung zwischen Julie und ihrem Freund ging ihr jedes Mal sehr nah. Sie schlug vor, die beiden anderen Filme dieser Trilogie anzuschauen. Die drei Filme sind jeweils einer der drei Farben der französischen Trikolore gewidmet und thematisieren die Ideale der französischen Revolution. Sie diskutierten, welches wohl das Thema des heutigen Films war, doch sie konnten sich nicht einigen, ob es Freiheit, Gleichheit oder Brüderlichkeit war. Während sie ihre Gedanken über den Film austauschten, liefen sie an der Finisterrae-Kirche vorbei. Lisa bemerkte, dass ein flackerndes Licht durch die Fenster drang und sie wunderte sich, was zu dieser späten Zeit noch in der Kirche vorging. Die Geschichte mit den Wunschzetteln hatte sie stutzig gemacht.
„Wir schauen einfach rein“, schlug Robert vor und er ging zum Hauptportal. Er drückte fest an die Tür und zuckte die Schultern, denn sie war fest verschlossen. „Geschlossene Gesellschaft“, rief er ihr zu.
Misstrauisch schaute sie ihn an. „Wer veranstaltet hier eine nächtliche Privatmesse?“
„Egal“, meinte er und sie bogen in die Querstraße ein, die seitlich der Kirche zur Hauptstraße führte.
Am vorletzten Haus auf der linken Straßenseite schlich eine Gestalt im Business-Anzug aus einer Tür und verschwand eilig um die Ecke auf der Hauptstraße. Als sie die Tür erreichten, fiel ihnen auf, dass Licht durch die Glaseinsätze der Tür schimmerte.
Lisa zog Robert am Ärmel seiner Jacke und blieb stehen. „Das Haus gehört auch zur Finisterrae-Kirche“, sagte sie.
Robert griff vorsichtig an die Tür und stieß sie auf.
„Du kannst dort nicht einfach hineingehen“, rief sie erschreckt aus, doch er stand schon im Flur, in dem kleine Teelichter offensichtlich als Wegweiser auf dem Boden standen. Behutsam ging er die Stufen herunter, die weiter in den Flur führten.
„Komm!“, rief er ihr zu. „Wir werden schon erwartet.“
Unsicher schaute sie sich um, ob jemand sie von der Straße aus beobachtete und folgte ihm aufgeregt. Im Halbdunkel schlichen sie vorsichtig durch den Flur, schritten durch eine erste Tür, die weit offen stand, und stießen gleich danach auf eine zweiflügelige Tür mit großen Glaseinsätzen. Im flimmerenden Kerzenlicht erkannten sie hinter der Tür einen Gang aus Glas und Eisenverstrebungen. Robert öffnete die Tür, die nur angelehnt war, und sie traten in den Gang hinein, der quer durch einen kleinen Innenhof zum gegenüberliegenden Gebäude führte. Im Innenhof, gleich vor dem gegenüberliegenden Gebäude, schimmerte eine Mensch große Maria-Statue im Kerzenlicht. Robert blieb stehen und nahm die fast unwirkliche Atmosphäre auf. „Sie ist die Türsteherin“, flüsterte er Lisa ins Ohr, doch sie war viel zu aufgeregt, um damit lachen zu können. Voller Spannung blickten sie nun durch die offene Tür in den Raum am Ende des Ganges. Auf dem Boden standen Kerzenlichter, die zum Weitergehen einluden. Sie traten in das Zimmer hinein. Oben an den hellen Wänden hingen dunkle Gemälde und auf einem Schrank vor dem Glasfenster direkt links von ihnen zeichnete sich ein Kreuzbild ab. Lisa glaubte im Halbdunkel das weiße Gewand des Pfarrers zu erkennen, das über einen Ständer hing. „Das muss die Sakristei sein“, flüsterte sie. Aus einer Tür links von ihnen klangen sehr leise Stimmen und Gesang. „Der Gesang kommt aus der Kirche“, sagte er leise. Sie nickte und stutzte als er weiter ging. „Willst du wirklich noch weiter gehen?“ Er legte den Finger auf den Mund, nahm ihr bei der Hand und beide schlichen sie vorsichtig durch die Tür, die nach rechts in einen längeren Flur mündete. Sie schritten die Kerzenreihe am Boden ab und blieben vor einer Tür stehen. Die Stimmen waren nun deutlich zu hören und sie konnten fast einzeln Worte verstehen. Lisas Herz schlug heftig und sie stellte sich vor, die Tür würde plötzlich aufgerissen werden. Robert nahm die Klinke in die Hand und drückte diese ganz vorsichtig nach unten, öffnete die Tür und linste vorsichtig durch den Türspalt. „Wir können hinein“, flüsterte er ihr zu. Sie blickten beide in die Kirche und stellten fest, dass sie sich in einer kleinen Kapelle vorne im rechten Seitenschiff der Kirche befanden. Rechts vor ihnen erkannten sie eine kleine Madonna-Statue in einem weißen Schrein, der auf einem Altar in weißem Marmor stand. Wie die Madonna des Guten Glücks, trug auch diese Madonna das Jesuskind auf dem Arm und ein Schwert in der Hand. Mutter und Kind hatten eine große Krone auf dem Kopf. Lisa zeigte auf eine Inschrift links und rechts unterhalb der Statue. „Das ist die Madonna von Finisterrae ... Hier steht es“, flüsterte sie. Sie huschten durch die Kapelle, duckten sich hinter einer Säule und blickten in die Kirche. Vor ihnen im gegenüberliegenden Seitenschiff vollzog sich eine fremdartige Zeremonie. An die zwanzig Gestalten standen in einem breiten Kreis um den Beichtstuhl. Sie trugen weiße Mönchskutten und spitze Kapuzen mit Löchern für die Augen und hielten brennende Fackeln in den Händen. Sie stammelten unverständliche Worte und gaben langgezogene Laute von sich, die offensichtlich keine Bedeutung hatten. Sie schaukelten und wiegten sich im monotonen Rhythmus und hin und wieder stampften sie alle zusammen mit einem Fuß kräftig auf dem Boden. Wenige Meter vor dem Beichtstuhl stand ein Messingkelch, aus dem Weihrauch empor stieg, der sich im flackernden Licht der Fackeln in der Kirche verbreitete. Vor dem Kelch kniete ein Mann im Business-Anzug und neben ihm stand eine Gestalt in Mönchkutte, die eine rote Kapuze trug. Plötzlich streckte diese Gestalt einen großen Stab hoch und stieß einen lauten Schrei aus, der durch die Kirche hallte. Das Gemurmel verstummte augenblicklich und eine mysteriöse Stille kehrte in die Kirche ein. Der Mann im Business-Anzug verneigte sich und sprach mit gedämpfter Stimme in einem ehrfürchtigen Ton: „Heilige, wie wird sich der Markt entwickeln?“ Er verharrte in dieser Position und wartete auf Antwort. Aus dem vergitterten Sprechloch des Beichtstuhles stieg weißer Rauch hervor und es ertönte ein unverständliches Gemurmel und ein Lallen, das in ein tiefes Brummen umschlug und schließlich in ein langgezogenes Summen überging. Die rote Kapuze schritt langsam zum Beichtstuhl und legte ihr Ohr an das Sprechloch. Ein unverständliches Geflüster erklang und sie nickte wiederholt. Es folgten noch etwas Rauch, ein unterdrücktes Husten, ein verärgertes Zischeln und ein rätselhaftes Gemurmel. Dann trat die rote Kapuze langsam rückwärts zurück, verbeugte sich mehrfach ehrfürchtig und blieb vor dem Banker stehen. Sie hob ihren Stab und verkündete eine kryptische Botschaft: „Das heilige Orakel sieht ein großes Reich untergehen und eine Mauer fallen. Nur jene, die dem Kreis der Sterne folgen, werden gerettet“.
Der Banker stand auf, verbeugte sich mehrfach, legte zahlreiche Geldscheine neben den Kelch, schritt langsam zurück, bis er aus dem Lichtkegel der Fackel getreten war und entfernte sich schnell in Richtung Sakristei. Robert und Lisa duckten sich hinter dem dunklen Holzgeländer, das die Kapelle abgrenzte, hielten den Atem an und beobachteten angespannt, wie der Banker hastig an ihnen vorbeizog. Ohne sich umzuschauen, öffnete er die Tür zur Sakristei, verschwand in den dunklen Flur und ließ die Tür hinter sich laut zuknallen.
Robert spürte, wie Lisas Herz raste, und legte seine Hand beruhigend auf ihren Rücken. „Wir müssen hier weg, bevor die Kerle mit ihrer Zeremonie fertig sind“, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie standen auf, huschten auf die Zehnspitzen durch die Kapelle, öffneten vorsichtig die Tür und schlichen sich leise davon. Mit schnellen Schritten gingen sie den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren, erreichten ungesehen die Straße und atmeten erleichtert auf.
„Ich kann´s nicht fassen… ich kann´s nicht fassen“, wiederholte Lisa aufgeregt.
„Unglaublich!“, rief Robert aus. „Die Typen sind doch nicht ganz dicht.“
Aufgewühlt liefen sie entlang der Hauptstraße, ohne eigentliches Ziel.
Lisa blieb stehen und hielt Robert an. „Lass uns Viktor anrufen. Er muss dies erfahren.“
Robert nahm sein Mobiltelefon und rief an. Eine kurze Schilderung ihrer Erlebnisse reichte aus, um Viktor zur späten Stunde aus dem Haus zu locken.
Eine halbe Stunde später saßen sie zusammen im Café A La Mort Subite. Robert und Lisa schilderten ausführlich ihre Beobachtungen und Viktor kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Hä… aber warum veranstalten diese Kerle abends so einen Hokuspokus in einer offiziellen Kirche? So etwas kann doch nicht einfach ohne Zustimmung des Pfarrers geschehen.“
Diese Frage hatten sich Lisa und Robert auch schon gestellt. Sie waren sich aber nicht schlüssig und befürchteten, dass weit mehr hinter der Sache steckte, als sie dachten.
Robert versuchte, das Geschehen zu deuten. „Das, was wir gesehen haben, ist nichts anderes als eine Orakelbefragung, so wie bei den alten Griechen.“
Lisa nickte bekräftigend. „Ja, ja... Du meinst Orakel wie in Delphi oder Klaros.“
„Ja, genau das meine ich“, bestätigte Robert.
Viktor, der wenig von der Antike wusste, runzelte die Stirn. „Und was wollten die alten Griechen von ihren Orakeln?“
„Rat… einfach Rat“, sagte Robert. „Häufig schickten die Städte eine Delegation, um dem Orakel eine bestimmte Frage zu stellen.“
„Egal was?“, staunte Viktor.
„Oh, es waren meistens Fragen zur Religion oder Politik“, erläuterte Robert. „Sie wollten wissen, wie sie sich verhalten sollten.“
„Ach so… Und was war dieser Rat wert?“
Robert zuckte mit den Achseln. „Naja... anscheinend hatten die Orakel überall ihre Informanten und dadurch gaben sie oftmals wertvolle Ratschläge ... Manchmal waren die Sprüche zweideutig formuliert und der Interpretation des Ratsuchenden überlassen.“
Lisa kratzte sich am Kopf und überlegte. „Hm, wie ist denn unser Orakelspruch zu interpretieren?“
Robert spitzte den Mund und wackelte mit dem Kopf. „Hm... ich glaube, dass es ein billiger Abklatsch eines berühmten Orakelspruches aus der Antike ist.“
Lisa ging ein Licht auf. „Ja, ja… ich erinnere mich vage daran ... War es nicht ein griechischer König, der das Orakel von Delphi befragte, bevor er in den Krieg gegen die Perser zog?“
Robert nickte. „Ja, der König von Lydien ... Er wollte wissen, wie der Feldzug ausgehen würde.“
Lisa fiel die Geschichte wieder ein. „Genau… so war es… Und die Antwort lautete, dass er ein großes Reich zerstören würde, wenn er den Grenzfluss überschreitet.“
Robert musste schmunzeln. „Ja… leider hat er nicht bedacht, dass er durch den Angriff nicht das Perserreich, sondern sein eigenes Reich zerstören würde.“
„Was meint ihr? Welches große Reich soll untergehen?“, warf Viktor ein.
„Das ist doch klar“, rief Lisa aus. „In Verbindung mit der Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung der Märkte, ist China gemeint ... Die Mauer, die fallen soll, ist die große chinesische Mauer.“
„Hm… das klingt plausibel“, gab Robert zu, „aber man kann den Spruch auch anders deuten: Das große Reich sind die USA und die Mauer ist die Wallstreet.“
„Hä“, stutzte Viktor, „die Wallstreet ist doch eine Straße.“
„Ja, ja… natürlich, aber der Name geht auf die Mauer zurück, die New York zu Anfang umringte.“
Lisa fasste sich nachdenklich am Kinn. „Tatsächlich... den Spruch kann man so oder so interpretieren.“
Viktor rätselte bereits über der Bedeutung des restlichen Orakelspruches. „Nur die, die dem Kreis der Sterne folgen, werden gerettet ... Was sollen wir um Himmelswillen damit anfangen?“
Robert fiel das Gespräch mit Frank wieder ein. „Oh... anscheinend drohen Milliarden Dollar, die China in Form von Staatsanleihen an die USA geliehen hat, sich in Luft aufzulösen … Ein Spekulant sollte schon wissen, auf welche Karte er setzt.“
Viktor schaute ihn skeptisch an. „Das mag sein, aber damit ist noch nicht geklärt, was mit den Sternen gemeint ist.“
„Nur die, die dem Kreis der Sterne folgen, werden gerettet“, murmelte Robert ratlos und kratzte sich am Kopf.
Lisa schärfte ihren Blick und spitzte den Mund. „Hm ... vielleicht beschäftigen sich diese Typen mit Astrologie oder Esoterik...“
„Oh ja, vielleicht sind bestimmte Sternen- oder Planetenkonstellationen oder Tierkreiszeichen zu beachten“, setzte Robert noch eins drauf.
Viktor zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sind einfach die Sterne der amerikanischen Flagge gemeint?“
„Pfff, die chinesische Fahne hat auch Sterne“, spielte Robert die Idee herunter.
Nach einer langen Denkpause hatte Lisa plötzlich einen Einfall. „Ich habe es!“, rief sie euphorisch aus. „Die Europäische Fahne hat Sterne und die sind in einem Kreis angeordnet.“
Robert und Viktor schauten einander verblüfft an und nickten zustimmend.
Robert schaute Lisa ins leere Glas. „Hm… was hast du getrunken? Das bestelle ich auch.“ Auf sein Winken eilte die Bedienung herbei. „Bringen Sie mir bitte das gleiche, was die junge Dame gerade getrunken hat.“ „Für mich auch! Aber bitte aus genau dem gleichen Fass“, fügte Viktor hinzu. „Für mich noch einen Trappist, aber einen Trippel“, betonte Lisa.
Das schwere Bier war ihnen in den Kopf gestiegen. Manche Menschen machte es furchtbar müde, andere blühten geistig auf. Während Robert und Viktor ihren schweren Kopf mit der Hand stützen, sprudelte Lisa vor neuen Ideen. „Wir beobachten einfach die Kirche nachts am Wochenende. Wir werden im Wechsel Wache schieben.“
„Hast du gehört, Robert, sie will spionieren gehen?“, murmelte Viktor.
Robert nickte. „Ja, nachts am Wochenende…“
„Ja… und sie will, dass wir spionieren gehen“, fügte Viktor hinzu.
„Ja… nachts am Wochenende“, knurrte Robert.
Lisa griff einen Bierdeckel und machte einen Plan. „Morgen Nacht, Viktor; Am nächsten Freitag, Robert und ich; Am nächsten….“ Robert und Viktor mimten die Eingeschlafenen. „Rrrrrrrr, ich bin nicht da“, schnarchte Viktor. „Rrrrrrr“, imitierte ihn Robert. „Ich bin auch nicht da.“ Lisa musste lachen und versuchte die beiden zu wecken. Bei Robert half vorsichtiges Kitzeln hinter seinem Ohr.
***
Sie kamen gut zwei Stunden vor Schließungszeit, trödelten Interesse vortäuschend durch die Kirche, schauten sich um und setzten sich schließlich im rechten Seitenschiff zwischen der aus dunklem Holz geschnitzten Kanzel und der Tür, die zur Seitenkapelle der Madonna des Guten Glücks führte. Die letzten Besucher verließen die Kirche und nur noch eine alte Frau betete vorne vor der Kapelle der Madonna von Finisterrae.
Robert schupste Lisa mit dem Ellenbogen an. „Die Frau ist eingeschlafen.“
„Ja… sie sitzt schon eine Stunde dort.“
„Es ist sonst niemand mehr in der Kirche ... Tun wir es?“
Sie nickte entschlossen und schnell sprangen sie beide auf, tauchten unter die Kordel, die die Treppe zur Kanzel absperrte, und schlichen leise die Stufen hoch, die zur Kanzel führten. Oben öffnete Robert das Türchen, sie gingen hinein und duckten sich hinter der Brüstung. Niemand hatte etwas bemerkt. „Wow... geschafft!“, seufzte Robert. Sie packten ihre Decken aus dem Rucksack und machten es sich bequem in ihrem zentralen Beobachtungsposten. Über ihren Köpfen breitete sich ein holzgeschnitzter Schleier aus, der den Himmel darstellte. In den Wolken waren mehrere Engel und auch eine Taube zu erkennen. Langsam wurde es dunkel und geduldig warteten sie, bis die Kirche schloss. Plötzlich hallte eine Stimme durch den Kirchenraum. „Wir schließen … Was machen sie dort?“ Es war die Stimme des Mannes, der sie am ersten Abend bis zur Tür begleitet hatte. Robert duckte sich hinter Lisa und nahm sie fest in seinen Armen. Sie hielt vor Aufregung den Atem an. „Ruhig Lisa, er meint nicht uns“, flüsterte er ihr ins Ohr. Die Dame vor der Kapelle der Madonna von Finisterrae wachte auf und verließ etwas konfus die Kirche. Das Licht ging aus und sie atmeten erleichtert auf. Nur wenig Licht von der Straße streute durch die bunten Kirchenfenster und es dauerte ewig, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Lärm eines Krankenwagens schallte kurz durch den Kirchenraum und klang wieder ab. Etwas später drangen die lauten Stimmen und das Gelächter einer größeren Gesellschaft durch die Fensterscheiben und verloren sich wieder in die Nacht.
Plötzlich krachte eine Tür und der Lärm schalte durch das gesamte Gebäude. Sie richteten sich auf und spähten vorsichtig über die Brüstung der Kanzel. Flackerndes Licht erhellte die Kapelle der Madonna von Finisterrae. Angeführt von der roten Kapuze traten etwa zwanzig weiße Kapuzenmänner mit einer Fackel in der Hand durch die Tür, die zur Sakristei führte. Die rote Kapuze trug einen Käfig, in dem ein weißer Hahn verstört um sich blickte. Langsam schritten die Männer in Prozession an ihnen vorbei und blickten dabei demütig zu Boden. Sie schwenkten in die Seitenkapelle der Madonna des Guten Glücks ein und blieben vor der Statue stehen. Die rote Kapuze stellte den Käfig mit dem Hahn vor dem kleinen, weißen Altar ab. Die weißen Kapuzenmänner scharten sich im Halbkreis um den Käfig vor der Madonna-Statue und stimmten einen Gesang an. Anschließend folgte eine Zeremonie, bei der sich die eine Kapuzengestalt nach der anderen vor der Madonna-Statue verneigte, eine Kerze zündete, diese vor dem Altar abstellte und eine unverständliche Formel murmelte. Unterdessen setzten die Kapuzenmänner, die im Halbkreis standen, unermüdlich ihren monotonen Gesang fort. Als alle weißen Kapuzenmänner das Ritual vollzogen hatten, trat die rote Kapuze in den Halbkreis. Er griff den Käfig und der Hahn schlug wild mit dem Flügeln um sich. Er öffnete das Türchen des Käfigs, streckte die Hand hinein und versuchte den gackernden Hahn zu fassen. Der Vogel pickte nach der Hand, trat mit den Beinen und verlor viele Federn, die weit durch die Luft flogen. Schließlich zog die rote Kapuze den Hahn aus dem Käfig und hielt ihn bei den Beinen. Der Vogel flatterte heftig und krächzte laut, bis ihn die rote Kapuze fest unter seinen Arm klemmte. Das Tier gackerte immer wieder, aber hielt erstarrt vor Schreck still. Die rote Kapuze ging mit dem Hahn zum weißen Marmor-Altar unter der Madonna-Statue und streckte ihn mit beiden Händen hoch. Er sprach eine Formel, die die weißen Kapuzenmänner im Chor wiederholten. Dann schnappte er sich ein Messer, kniete vor dem Altar, drückte den Hahn mit einer Hand auf den Boden und hackte ihm den Kopf ab.
Lisa erschrak und drückte ihr Gesicht an Roberts Brust. „Das ist so ekelhaft…. Robert“, jammerte sie.
"Die Typen sind krank", flüsterte er.
Während die weißen Kapuzenmänner sangen, hielt die rote Kapuze den flatternden Hahn bei den Füßen. Das Blut pulsierte aus dem Hals des Tieres und spritzte auf den Altar. Als das Tier verendet war, legte die rote Kapuze es vor dem Altar ab und trat einige Schritte zurück. Der Gesang hatte aufgehört und die Kapuzenmänner verharrten noch eine Weile vor der Madonna-Statue. Lisa war entsetzt und starrte fassungslos auf die weißen Gestalten, die nun in einer Prozession davonzogen und die Kirche durch die Tür zur Sakristei verließen.
Sie verharrten noch eine Weile auf der Kanzel, bis sie sich sicher glaubten, dass die Kapuzenmänner nicht wiederkommen würden. Leise gingen sie hinunter und schlichen an der Tür der Seitenkapelle vorbei. Robert blickte kurz in den dunklen Raum hinein, der von schwachem Kerzenlicht beleuchtet wurde, und schauderte beim Anblick. Blutspritzer liefen den weißen Marmor herunter und der kopflose Hahn lag inmitten einer dunkelroten Blutlache. Sie liefen eilig an der Madonna von Finisterrae vorbei, verschwanden schnell durch die Seitentür, tasteten sich durch den vollständig dunkeln Flur, kreuzten die Sakristei, in der sie die hellen Möbel schemenhaft erkannten und durchquerten den Gang, in dem etwas Licht hereinfiel. Als sie vor der Außentür standen, hielt Robert den Atem an und nahm vorsichtig die Türklinke in die Hand und drückte diese nach unten. Als er merkte, dass die Tür offen war, atmete er erleichtert auf. „Glück gehabt“, murmelte er. Vorsichtig gingen sie nach draußen und entfernten sich schnell in Richtung Hauptstraße, auf der nur noch wenige Menschen unterwegs waren. Am Hotel Métropole warteten einige Taxis. Sie stiegen in das erste Taxi ein und ließen sich Heim fahren.
Am nächsten Abend hatte Lisa zum Essen eingeladen. Nach dem Essen schauten sie zusammen fern.
Kurz vor den Nachrichten erschien die hübsche Dame im Bild, die den Börsenbericht präsentierte.
Viktor blickte irritiert auf den Bildschirm: „Oh nein, die schon wieder?“.
Robert schüttelte demonstrativ den Kopf. „Welches Märchen wird sie uns heute erzählen?“
Lisa seufzte. „Sie ist das moderne Sandmännchen ... Sie streut den Menschen Sand in die Augen.“ "Robert Couch und
Sie ärgerten sich über den täglichen Börsenbericht, den Pfaff nach seiner Wahl zum Präsidenten der Börse eingeführt hatte. Pfaff wollte offensichtlich damit die Bevölkerung zum Kauf von Wertpapieren animieren. Der Börsenbericht hörte sich immer wie ein Wetterbericht an. Die Kurse stiegen wie die Temperaturen an oder sie stürzten über Nacht in den Keller. Der Markt war überhitzt oder unterkühlt und wurde von einem stabilen Hoch oder einem stürmischen Tief beherrscht. Die Börse genoss einen starken Rückenwind oder litt unter einer dauerhaften Flaute. Ein Tsunami überspülte den Markt, ließ stabile Werte einbrechen oder fegte diese vollständig vom Markt. Heftige Turbulenzen störten wochenlang den Markt und ein reinigendes Gewitter brachte die Kurse wieder ins Lot. Durch diese bildhaften Darstellungen empfanden die Menschen, die in solchen Gewittern ihr Geld verloren, den Verlust zunehmend als eine Naturkatastrophe, für die niemand zuständig war.
„Warum serviert man uns eigentlich täglich einen Börsenbericht?“, warf Viktor ein.
„Ja... wem betrifft es eigentlich? ... Wie viele Leute handeln überhaupt mit Wertpapieren?“, regte sich Lisa auf.
Robert zuckte mit den Schultern. „Oh, ich glaube, dass sie uns alle zu kleinen Aktionären machen wollen“.
Viktor runzelte die Stirn. „Warum?“
„Naja… weil sie das Geld von Leuten anzapfen wollen, die sich wenig mit dem Geschäft auskennen und leicht zu manipulieren sind.“
„Also um ihre Spekulationsgewinne zu steigern“, sagte Viktor.
„Ja, ja... aber sie wollen damit auch erreichen, dass die Leute sich mit den Interessen der Finanzkonzerne identifizieren und das ist fatal.“
Viktor stutzte. „Fatal?“
„Ja, fatal... denn plötzlich würden die Leute nur noch ihr kleines Aktienpaket im Blick haben. Die Kleinanleger, die in der Regel einfache Arbeitnehmer sind, würden vergessen, welche ihre wirklichen Interessen sind, und würden Maßnahmen unterstützen, die nur den Spekulationsgeschäften der Vermögenden nützen.“
Lisa nickte. „Du meinst steuerliche Vorteile auf Gewinne aus Spekulationsgeschäften?“
„Ja natürlich, aber auch die Rettung der in Not geratenen Banken durch die Staaten.“
Sie hörten sich den Börsenbericht etwas genauer an. Die Börsendame verkündete, dass im Augenblick heftige Turbulenzen den Markt beherrschen würden, dass aber der asiatische Markt immer noch satte Gewinne verspreche und die US-Wirtschaft schon wieder kräftig anziehe. Deshalb sollte man jetzt einsteigen, bevor die Kurse wieder Rekordhöhen erreichen würden. Der Finanzexperte einer großen internationalen Bank erschien im Bild und wurde nach seinem Urteil gefragt. „Kaufen, kaufen, kaufen… Einsteigen, einsteigen, einsteigen… Nur hinein in die amerikanischen Wertpapiere“, ermutigte er die Zuschauer. „Wer jetzt nicht zuschlägt, verschenkt große Chancen“, bekräftigte er die Ansicht der Börsendame. „Es winken Renditen von durchschnittlich zwanzig Prozent.“
Die Börsendame legte verwundert beide Hände auf den Mund. „Wow… zwanzig Prozent“, rief sie entzückt aus.
„Ja sicher“, bekräftigte der Finanzexperte, „es lohnt sich sogar dafür Kredite aufzunehmen… bei den niedrigen Zinsen.“
Die Börsendame dankte ihm für seine Expertenmeinung und schloss die Sendung mit einigen hoffnungsvollen Worten ab.
Lisa und Robert zogen erstaunt die Augenbrauen hoch und Viktor musste vor Lachen prusten.
„Komisch, dass die Empfehlungen des Orakels und die des Börsenberichtes so gar nicht zusammen passen“, bemerkte er.
„So ein Quatsch!“, ärgerte sich Robert über die Sendung. „Sie wollen die Leute zu Spekulationsgeschäften verführen.“
Lisa fasst sich am Kinn und überlegte kurz. „Was ist wohl die Funktion des Orakels?“
Robert zuckte mit den Achseln. „Vielleicht holen sich die Spekulanten eine Expertenmeinung ein, weil sie selber den Überblick verloren haben?“
Lisa überlegte kurz. „Also, eine Art Insiderinformation, wofür sie viel Geld zahlen.“
Robert nickte zustimmend. „Das ist gut möglich, aber vielleicht berufen die Fondmanager und Investmentbanker sich gern auf das Orakel, damit sie die Verantwortung für ihre Fehlberatung auf andere abschieben können ... In der Antike war das ein Grund, ein Orakel zu befragen.“
Lisa nickte entschieden. „Ja, ja... heute erfüllen die Ratingagenturen eine ähnliche Funktion“.
„Ja, genau“, stimmte ihr Robert zu. „Investmentbanker berufen sich gern auf die Ratingagenturen, doch diese haften nicht für ihre Ratings.“
Viktor machte einen skeptischen Blick. „Das kann sein… aber warum wird eine gegensätzliche Empfehlung im Fernsehen abgegeben?“
„Das ist ganz einfach“, erklärte Robert. „Die Spekulanten treiben den Wert der Wertpapiere in die Höhe, die sie selbst besitzen. Sie kaufen sich gegenseitig Teile ihrer Aktienpakete ab, wodurch die Kurse steigen ... Ein wenig Werbung im Fernsehen heizt diese Entwicklung an und tausende Computer, die bei einem bestimmten Kurs auf Kaufen programmiert sind, schlagen zu ... So entsteht eine richtige Spekulationsblase, die sich selbst befeuert.“
Viktor schüttelte verwirrt den Kopf. „Und was bringt ihnen das.“
„Ha... das liegt auf der Hand … Kurz bevor die Spekulationsblase platzt und die Kurse einbrechen, steigen die Spekulanten aus und nehmen ihre Gewinne mit. Die ahnungslosen Laien bleiben auf ihren Verlusten sitzen.“
Lisa verzog das Gesicht. „Das ist aber fies“, rief sie aus. „Glaubst du wirklich, dass die Menschen regelrecht zu falschen Aktienkäufe verleitet werden?“
„Aber sicher!“, bestätigte Robert, „das ist doch gerade der Skandal … Das ist eine moderne Form der Umverteilung zu Gunsten der Wohlhabenden. Dazu kommt, dass die Menschen ihre Wut nicht an den Politikern auslassen können, sondern sich selbst die Schuld geben, weil sie sich verspekuliert haben.“
Lisa und Viktor schauten ihn skeptisch an und dachten darüber nach.
Am nächsten Freitagabend schoben Robert und Viktor Wache in der Seitenstraße zwischen der Haupt- und Neue Straße. Viktor langweilte sich, denn es passierte nichts. Zudem waren alle Türen der Finisterrae-Kirche fest verschlossen. Als sie schon gehen wollten, schimmerte plötzlich Licht durch die Verglasung der Seitentür. Robert und Viktor duckten sich blitzschnell in die Einfahrt der Tiefgarage, die Mitte in der Straße verlief. Die Tür öffnete sich, ein Mann streckte den Kopf durch den Türspalt, schaute behutsam um sich und ging nach draußen. Er blieb vor dem Gebäude stehen, tastete seine Taschen ab, kramte sein Feuerzeug heraus und zündete eine Zigarette. Er hatte eine weiße Kutte über dem Arm geschlagen. Es folgten weitere Männer, die ebenfalls eine weiße Kutte dabei hatten. Der letzte Mann, der eine rote Kapuze über die Schulter gelegt hatte, schloss die Tür ab. Er drehte sich um und folgte mit schnellen Schritten den anderen, die in die Hauptstraße abgebogen waren.
„Komm!“, zischelte Viktor, „wir folgen ihnen.“ Robert nickte und sie gingen den Männern nach. Schweigend liefen diese mit raschen Schritten in Richtung Börse. Der mit der roten Kapuze hatte die anderen bald eingeholt. Vor der Börse bogen sie links in die Seitenstraße ein und verschwanden am Ende der Straße in einer Seitentür des Börsengebäudes.
***
Lisa hatte Koudenberg um ein Gespräch gebeten. Als sie erklärte, dass sie gern über die Geschehnisse in Kaschmir mit ihm reden wollte, war dieser sofort darauf eingegangen. Koudenberg empfing sie in seinem Büro und sie setzen sich in die Sessel vor dem großen Fenster. Es regnete in Strömen und der Wind peitschte den Regen gegen die Fensterscheiben. Die Wassertropfen wurden mal nach unten, mal nach oben geweht und vereinigten sich zu größeren Tropfen, die nach unten abflossen. Der Wind heulte um die Ecke des Gebäudes und trieb schwere, graue Wolken über die Stadt, welche die sanften Hügel in der Ferne eintrübten.
Koudenberg fing das Gespräch an: „Lisa, uns verbindet ein schreckliches Erlebnis. Sie wollten darüber mit mir reden.“ Sie nickte und schilderte ihm, wie die Idee der Indienreise entstanden war, wie sie durch Nordindien gereist und zum Schluss nach Srinagar gekommen waren. Schließlich griff sie das Thema auf, das ihr so schwer viel anzusprechen.
„Herr Koudenberg… wie Sie wissen war Jonas mein Freund.“
Koudenberg nickte und seufzte tief. „Ja... aber wir haben noch nie den Mut gehabt, darüber zu reden.“ Mit wankender Stimme fuhr er fort: „Ich habe mich immer gefragt, wie Jonas die letzten Tage seines Lebens verbracht hat, aber ich hatte Angst vor der Wahrheit“.
Lisa runzelte die Stirn. „Die letzten Tage seines Lebens?“, wiederholte sie. „Glauben Sie nicht, dass er… lebt?“
Koudenberg schaute vor sich hin, überlegte, zuckte mit den Achseln und wich die Frage aus. „Es freut mich, dass er glücklich mit dir war.“
Lisa griff ihre Geschichte wieder auf und erzählte Tag für Tag, Stunde für Stunde, wie die verhängnisvolle Trekkingtour verlaufen war. Er hörte zu und nickte zwischendurch, um sie zu ermutigen, weiter zu erzählen. Er stellte immer wieder Fragen und ließ sich einzelne Vorgänge im Detail erklären. Sie holte ein Bild aus ihrer Tasche und reichte es ihm. Er schaute sich das Bild an, das zwei junge Menschen zeigte, die ein Zelt aufbauten. Beide lächelten in die Kamera. Er berührte das Gesicht seines Sohnes mit dem Zeigefinger und Tränen füllten seine Augen.
Sie blickte in sein trauriges Gesicht. „Das Bild wurde geschossen, als wir am Nachmittag seines Verschwindens das Lager aufbauten ... Es ist das letzte Bild von ihm.“
Koudenberg war tief bewegt und blickte zu ihr auf. „Kann ich… das… behalten?“, stammelte er.
Sie nickte. Sie besprachen, wie sie die Tage in Kaschmir nach dem Drama erlebt hatten. Er bot ihr das Du an, weil er dies sowieso schon die ganze Zeit tat, und sie nahm dies gern an. Sie lud ihn zu sich nach Hause ein, denn sie wollten ihre Fotos zusammen anschauen. Draußen war es dunkel geworden und es regnete weiter. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den nassen Straßen. Sie schauten beide auf die Stadt, doch ihre Gedanken schweiften in eine ferne Welt ab.
***
Es herrschte eine aufgeregte Stimmung im Aquarium. Kleinknecht hatte die gesamte Auftau-Prozedur vorbereitet und alle Einzelheiten mehrfach überprüft. Er hatte die Nacht kaum geschlafen, war schon um 6 Uhr zur Arbeit erschienen und wirkte sehr nervös. Heute sollte die eingefrorene Leiche von John Miller aus dem Keller geholt, aufgetaut und wiederbelebt werden. John war vor rund 40 Jahren an einer unheilbaren Krankheit gestorben und hatte sich unmittelbar nach dem Eintreten des Todes einfrieren lassen. Er hatte immer fest daran geglaubt, dass er irgendwann aufgetaut, wiederbelebt und von seiner Krankheit geheilt werden würde. Nun war der Augenblick seiner Auferstehung gekommen. Jenny, eine entfernte Verwandte von ihm, hatte Johns eingefrorene Leiche zusammen mit seinem kargen Grundstück in der Nähe des texanischen San Angelo, seinem verfallenen Holzhaus und seiner nutzlosen Militärabzeichen geerbt. Sie hatte nun nach langem Prozessieren erwirkt, dass John vorzeitig aus dem Stahltank mit flüssigem Stickstoff befreit werden durfte. Doch nicht die Sehnsucht nach John oder die Neugier, einen Menschen aus einer ganz anderen Zeit kennenzulernen, hatten sie dazu getrieben. Sie hatte John nie gekannt und sie kannte auch niemand, der John noch gekannt hatte und die Zeit, in der John gelebt hatte, lag ohnehin jenseits ihrer Vorstellungskraft. Der Grund für ihr Streben waren vielmehr die finanziellen Sorgen, die ihr Leben plagten, und die pure Angst um ihrer bescheidenen Existenz. Als sie sich schließlich zwischen der dauerhaften Einfrierung von John und dem Studium ihrer Tochter entscheiden musste, entschied sie sich für das letztere.
Ein Arbeiter ließ den flüssigen Stickstoff aus dem Stahltank abfließen und öffnete den Deckel. Eine Wolke aus gasförmigem Stickstoff entwich aus dem Container. Mit einem kleinen Gabelstapler, an dessen Hebearm ein Haken befestigt war, hob der Arbeiter John aus dem Stahltank. John hing kopfüber am Haken und war in einem blauen Kunststoffsack verpackt. Vorsichtig ließen die Arbeiter ihn horizontal in eine Art Wanne herunter, in der das Auftauen automatisch gesteuert werden konnte. Kleinknecht hatte alles anhand der amerikanischen Vorgaben ausgetüftelt. Nervös sprang er herum, gab seine Anweisungen, warnte vor möglichen Fehlern beim Herunterlassen des Körpers in die Wanne. Es war wichtig, dass die Außenseite von Johns Körper nicht sehr viel früher als die inneren Organe auftaute, denn sonst bestände die Gefahr, dass bereits aufgetaute Zellen zu faulen beginnen, bevor überhaupt die wichtigsten Körperfunktionen hätten einsetzen können. Als die Arbeiter John aus der Folie holten, erschien sein Körper unversehrt. Er hatte die lange Lagerung offensichtlich gut überstanden. Er wirkte zwar ein bisschen blass, aber auch unter den Lebenden war dieser Teint nicht ungewöhnlich. Kleinknecht überprüfte persönlich, ob die Messgeräte, welche die Hirn- und Herzaktivität registrierten, korrekt angelegt waren. Die Auftau-Prozedur würde einige Stunden dauern. Erst danach würde man das Frostschutzmittel abpumpen und durch Blutkonserven ersetzen können. Robert und Lisa schauten sich das befremdende Schauspiel aus der dritten Reihe an. Sie verließen den Raum nach einer Weile, doch Kleinknecht wich John nicht von der Seite. Als sie nach dem Mittagessen nochmals vorbeischauten, lag John immer noch in der Wanne und sein Körper war durch eine Glasscheibe zu sehen.
„Die inneren Organe sind nun aufgetaut“, berichtete Kleinknecht. „Wir haben Sauerstoff und eine Nährflüssigkeit einfließen lassen, damit die Zellen nicht ersticken.“
„Toll!“, bemerkte Robert zynisch. „Und sein Hirn?“
Kleinknecht gab sich optimistisch und hob den Daumen. „Kein Problem … Wir haben alle Vorgaben eingehalten und liegen beim Auftauen des Hirns voll im Zeitschema.“
Um 14:53 Uhr geschah plötzlich das Unerwartete: Die am Schädel fixierten Messinstrumente meldeten einen Hirnstrom. „Er denkt!“, rief Kleinknecht euphorisch aus. „Er denkt!“ Alle strömten zur Wanne und beobachteten das Geschehen. Die Hirnaktivität nahm noch zu, flaute allmählich ab und fiel nach fünf Minuten wieder auf null. Kleinknecht war ganz außer sich, begann schon mit John zu reden. „John, hörst du mich! Gib uns ein Zeichen!", rief er aufgeregt. Doch John gab kein Zeichen und zeigte in den nachfolgenden Stunden auch keine Hirnaktivität mehr. Auch Johns Herz regte sich nicht, auch nicht als der eilig herbeigeholte Notarzt mit wiederholten Elektroschocks versuchte, die Herzaktivität in Gang zu setzen. Um 19:14 Uhr wurde John für tot erklärt.
Am nächsten Tag griffen die Medien den Vorfall eifrig auf. Die größte Tageszeitung widmete dem Geschehen unter dem Titel Weltsensation - Hirn nach 40 Jahren wiederbelebt die gesamte Titelseite des Blattes. Eine Boulevardzeitung spekulierte unter dem halbseitigen Übertitel Wem galten Johns letzte Gedanken? über die genaueren Umstände von Johns Aufleben. In den Fernsehnachrichten gaben Hartman und Kleinknecht ausführliche Interviews. Kleinknecht erklärte, wie er die sehr komplizierte Auftau-Prozedur geplant und durchgeführt habe und Hartman betonte, dass die Firma K&K nun weltweit führend auf dem Gebiet der Kryokonservierung sei.
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Drei Tage später fand Johns Beerdigung statt. Da John durch seine kurze Auferstehung weltberühmt geworden war, säumten zahlreiche Fernsehübertragungswagen aus ganz Europa die Straßen um die Finisterrae-Kirche, in der die Gedenkfeier stattfand. Tausende Menschen strömten in die Stadt, um John auf seinem letzten Weg zu begleiten. Vor der vollen Kirche verfolgten viele Menschen die Trauerfeier auf einer riesigen Leinwand. Dort übermittelte Jenny, Johns entfernte Urgroßnichte, ein paar bewegende Worte des Dankes aus dem fernen texanischen San Angelo. Zu Tränen gerührt stand sie vor der Kamera und rief die Worte „John, America is so proud of you. We all love you“ ins Mikrofon. Inzwischen fing die Messe in der Kirche an. In der ersten Reihe, gleich hinter Johns Sarg, saßen Pfaff, Hartman, Kleinknecht sowie die wichtigsten Politiker und Würdenträger. Hartman sprach sein Mitgefühl für Johns Familie und Verwandtschaft aus und bedauerte, dass er John nicht für längere Zeit ins Leben zurückgeholt habe. Er habe Johns Hand gehalten, als dieser nach seinem kurzen Aufwachen definitiv aus dem Leben schied, und habe gespürt, dass John glücklich gestorben sei. Pfaff sprach sein Lob für die mutigen Forscher aus, die den Fortschritt ermöglichten und die Wirtschaft aufblühen ließen. Er verglich den Forschungserfolg mit dem Stern von Bethlehem, dem es nun zu folgen galt. Die Kryokonservierung werde die Welt verändern und ähnlich wie die Dampfkraft, die Elektrizität und die Computertechnologie eine neue technische Revolution einleiten. Mit den Worten „John ist nicht um sonst gestorben, sondern für die Zukunft der Menschheit“ beendete er seine Rede. Nach der Messe wurde Johns Sarg von sechs Kapuzenmännern aus der Kirche getragen und in einen Leichenwagen gestellt. Ein langer Autozug folgte dem Leichenwagen zu Johns letzter Ruhestätte auf dem städtischen Friedhof.
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Am Abend hatte Lisa Koudenberg und Robert zum Essen eingeladen. Vor dem Essen schauten sie sich kurz den Fernsehbericht über Johns Beerdigung an.
Koudenberg schüttelte den Kopf und staunte über die Unverfrorenheit, die Hartman und Kleinknecht an den Tag legten. Er sagte nichts, doch er wirkte bedrückt.
„Geschieht das alles mit deiner Zustimmung“, fragte Robert vorsichtig.
Koudenberg zuckte die Schultern und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Pfaff und Hartman versuchen die Aktionäre auf ihre Seite zu ziehen ... Deshalb veranstalten sie dieses Spektakel.“
„Wie? Wollen sie dich wirklich aus deiner Position verdrängen?“, staunte Lisa.
„Ja... das versuchen sie schon lange, doch im Moment sind sie noch nicht stark genug. Es sind immer noch viele der Aktien in Familienbesitz und die übrigen Papiere sind verstreut über zahlreiche Kleinaktionäre.“
Nach dem Essen entdeckte Koudenberg Lisas Bilder. Als er erfuhr, dass noch viele Gemälde im Souterrain lagerten, verschwand er mit ihr ins Atelier. Koudenberg war begeistert von ihren ersten Malversuchen und lobte die raschen Fortschritte, welche die späteren Werke in Öl aufwiesen. Mit scharfem Blick inspizierte er die Strukturen, welche die Pinselstriche hinterlassen hatten, spitzte den Mund begutachtend und nickte anerkennend. „Du hast wirklich Talent.“ Lisa war sehr erfreut und erklärte, was sie mit bestimmten Bildern ausdrücken wollte. Als sie wieder oben im Wohnzimmer zurückgekehrt waren, zeigte sie ihre Fotos aus Indien. Es war eine Mischung von aussagekräftigen Snapshots, stimmungsvollen Farbfotos sowie kunstvollen schwarz-weiß Abdrucken. Koudenberg wunderte sich über die Fotos der Tempelwächter im Golden Temple von Amritsar, die mit Speeren, Krummsäbeln und alten Musketen bewaffnet waren und riesige Turbane und lange Bärte trugen.
„Die sehen ja richtig gefährlich aus“, murmelte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein... die waren harmlos. Wir haben uns länger mit ihnen unterhalten und sie wollten, dass wir ihnen ein Foto zuschicken.“
Lisa holte eine detaillierte Wanderkarte von der Region, in der sie das Trekking unternommen hatten. Koudenberg studierte diese Karte sehr aufmerksam und ließ sich die Tour in allen Details erklären.
Robert brachte nun eine Idee ein, die bei ihm schon vor längere Zeit gereift war: „Und wie wäre es, wenn wir zusammen diese Tour noch einmal machen?“.
Lisa und Koudenberg schauten ihn verwundert an.
„Nach Kaschmir… wir zu Dritt?“, fragte Lisa.
Robert nickte. „Ich glaube, dass ihr beide in Kaschmir dasselbe verloren habt und dass ihr nur dort mit dem Verlust wirklich Frieden schließen könnt.“
Lisa hatte verstanden, dass Robert mit der Reise ein ganz bestimmtes Ziel verfolgte. Auch Koudenberg dämmerte es, was auf ihn zukam. Sie sprachen den restlichen Abend über Roberts Plan und nahmen sich schließlich vor, die Reise im nächsten Herbst anzutreten.