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Epilog - Das Jüngste Gericht

„Niemand wird jemals verstehen, was wirklich geschehen ist“, sagte Robert zum Schnauzer, der unten an der Treppe stand.

Der Schnauzer klopfte ihm ermutigend auf die Schulter. „Aber Robert... die Untersuchungskommission ist gerade dabei, die volle Tragweite der Katastrophe zu erfassen“, sagte er voller Zuversicht. "Du wirst sehen... jetzt räumen wir weltweit mit den Kryonisten auf."

Robert machte ein besorgtes Gesicht. „Ja schon, aber was ist mit meiner Rolle?“

Der Schnauzer winkte ab. „Das sehe ich ganz gelassen ... Sollte die Untersuchungskommission jemals deine Integrität in Frage stellen, werde ich das klären ... Das verspreche ich dir.“

Robert warf ihm einen skeptischen Blick zu und zeigte auf seine Uhr. „Ich bin gleich dran ... Ich muss jetzt hoch.“

Mit schnellen Schritten stieg er die Treppe hoch, die zum Gotischen Saal des Brüsseler Rathauses führte. Dort tagte die UN-Untersuchungskommission, die in der Sache ermittelte. Vor der Tür des Saales stand eine Polizistin, die seinen Ausweis aufmerksam kontrollierte und ihn herein winkte. Als er den Saal betrat, wurde es plötzlich still und - wie von einem Magneten angezogen - richteten sich alle Blicke auf ihn. Er blieb stehen und schaute sich um. Rechts von ihm saßen die zwölf Mitglieder der Untersuchungskommission an einem Tisch, der frontal zum Publikum stand. Die Polizistin schloss die Tür, begleitete ihn zum Zeugenstand und bat ihn, Platz zu nehmen. Robert setzte sich an den kleinen Tisch, der mit einem Mikrofon und mit Kopfhörern ausgestattet war, und ließ seine Blicke über die Kommissionsmitglieder schweifen. Die Damen und Herren wühlten in ihren Unterlagen, als wollten sie sich vor der Befragung die wichtigsten Fakten noch einmal ins Gedächtnis rufen. Roberts Herz schlug kräftig in seiner Brust und tausende Dinge gingen ihm durch den Kopf.

Der Vorsitzende schlug mit dem Holzhammer auf den Tisch und wartete bis Ruhe eingekehrt war. Er nahm die Halbbrille ab und wandte sich in einem Englisch mit eindeutig spanischem Akzent an Robert.

„Herr Dr. Ravenstein…1 Sie sind ein wichtiger Zeuge… der uns wichtige Dinge über den inneren Kreis der früheren Machthaber erzählen kann. Sie müssen die Wahrheit sagen, dürfen aber solche Fakten verschweigen, die Sie selbst belasten könnten ... Sind Sie bereit auszusagen?“.

Robert nickte entschieden und rückte näher ans Mikrofon. „Ja, ja... das bin ich.“

Die Kommissionsmitglieder schauten einander erleichtert an und ein zustimmendes Gemurmel ging durch den Saal.

Der Vorsitzende ergriff erneut das Wort: „Herr Dr. Ravenstein, können Sie kurz erläutern, welche Tätigkeit Sie genau bei K&K ausübten?“

Robert nickte kurz. „Ich war Arzt... Betriebsarzt.“

Der Vorsitzende zog die Augenbrauen hoch. „Aha... Betriebsarzt“, wunderte er sich und tippte mit dem Finger auf die Akte, die vor ihm lag. „Hier steht aber, dass Sie der persönliche Referent von Herrn Pfaff waren... quasi dessen rechten Hand ... Sie hatten doch Einfluss“. Er schüttelte verwirrt den Kopf. „Das verstehe ich nicht ... Waren Sie etwa nicht für Herrn Pfaff tätig?“

Robert nickte. „Ja, ja... schon, aber diese Tätigkeit habe ich im Auftrag des Nachrichtendienstes übernommen ... Ich sollte Pfaff beobachten.“

Der Vorsitzende schaute ihn ungläubig an. „Aha... Pfaff beobachten ... im Auftrag des Nachrichtendienstes“, murmelte er. „Das klingt ja recht abenteuerlich...“

Robert verzog empört das Gesicht. „Aber Herr Vorsitzender... das müssen Sie mir glauben“, rief er aufgeregt ins Mikrofon. „Das kann Ihnen der Ministerpräsident der vorläufigen Regierung bestätigen ... Er hat mich damals rekrutiert.“

Der Vorsitzende blickte überrascht auf. „Oh... der Ministerpräsident persönlich.“ Er schaute die Kommissionsmitglieder links und rechts von ihm fragend an. „Da diese Aussage sich sehr einfach bestätigen lässt, schlage ich vor, dass wir uns nun auf die Fakten konzentrieren ... Oder sehen Sie das anders?“

Die Mitglieder der Untersuchungskommission schüttelten den Kopf.

„Muy bien“, sagte er und wandte sich wieder Robert zu: „Herr Dr. Ravenstein... können Sie uns bitte schildern, wie es aus Ihrer Sicht zu der schrecklichen Katastrophe kommen konnte?“

Robert seufzte tief. „Herr Vorsitzender, alles fing so hoffnungsvoll an...“

Der Vorsitzende runzelte die Stirn. „Hoffnungsvoll?“, rief er verwundert aus. „Es sind mehr als sechshunderttausend Tote zu beklagen ... Das ist Völkermord ... ein Verbrechen an der Menschheit...“

„Ja, ja...“, fiel ihm Robert ins Wort, “aber ich meine ganz zu Anfang ... für mich persönlich ... als ich meine jetzige Lebenspartnerin kennen lernte.“

Der Vorsitzende nickte und machte Zeichen fortzufahren.

„Die meisten Menschen haben die Katastrophe nicht erkannt, weil sie einfach an die Kryokonservierung glaubten“, erklärte Robert. „Es war kaum möglich, die Wahrheit zu erkennen, denn die Kryonisten beherrschten die Medien und manipulierten alles. Noch nicht einmal mir war klar, welche Leute hinter den zwölf Sternen der Apokalypse steckten und welche Ziele sie mit ihrer Inszenierung der Apokalypse verfolgten.“

„Ja, ja… das wissen wir inzwischen“, unterbrach ihn der Vorsitzende, „und deshalb würden wir gern von Ihnen erfahren, wie das alles abgelaufen ist: Wer hatte die Verantwortung? ... Wer hat was wann entschieden? ... Sehen sie, wir wollen verstehen, wie das passieren konnte.“

Robert nickte nachdenklich, schaute in die Ferne an den Kommissionstisch vorbei und versuchte, sich die Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Er dachte an jenen heißen Sommerabend zurück, an dem alles angefangen hatte.

An dem Abend zog es ihm nach draußen in die unbekannte Stadt, denn es war ein fremdes Gefühl, den Abend allein in einer kahlen Wohnung zu verbringen. Er ließ die Koffer und die vielen Umzugskartons stehen und ging auf die Straße. Bald stieß er auf den Königsplatz und zog von dort in die Innenstadt, die weiter unten lag. Zahlreiche Federwolken leuchteten orange am Himmel und der grazile Turm des alten Rathauses strahlte im hellen Licht zahlreicher Scheinwerfer. Unten am Großen Markt schlenderte er ziellos durch die schmalen Gassen, in denen viele Touristen bummelten oder an den Tischen speisten, die vor den kleinen Restaurants auf der Straße standen. An den Terrassen der Cafés genossen die Menschen den warmen Sommerabend bei einem kühlen Bier. Er traf auf die Börse, die mit ihren korinthischen Säulen einem griechischen Tempel glich, und folgte dem langen Boulevard, der die Innenstadt von Nord nach Süd durchquerte. Fast am Ende der Hauptstraße wunderte er sich über das laute nächtliche Gebimmel eines unscheinbaren Kirchturms, der sich hinter einer weißen Mauer und den umgebenden Gebäuden verbarg. Ein dunkelgrünes Metalltor, über dem in goldenen Buchstaben die Inschrift N.D du Finistère – O.L.V ter Finisterrae stand, führte in den Hinterhof der Kirche. Am Ende der Hauptstraße folgte er dem kleinen Stadtring bis zur Brücke über den Kanal und glaubte am Ufer die Silhouette des K&K-Gebäudes zu erkennen, in dem er sich am nächsten Morgen beim Firmenchef vorstellen sollte. Auf dem Rückweg fiel ihm eine größere Gruppe von Männern in Business-Anzügen auf, die durch das grüne Metalltor der Finisterrae-Kirche heraustraten und mit schnellen Schritten schweigend vor ihm her liefen. An der Börse schlugen sie links eine Seitenstraße ein und verschwanden in der Menschenmenge.

Er erzählte dem Vorsitzenden von diesen Männern, weil es ihm wichtig erschien.

„Was waren das für Männer?“, unterbrach ihn der Vorsitzende.

Robert fasste sich am Kinn und überlegte kurz. „Ich weiß es nicht ... Ich habe mir damals keine Gedanken gemacht. Ich wusste nicht, welche finstere Rolle sie später noch spielen würden ... Sie sind mir nur aufgefallen, weil sie so lange schweigsam vor mir her liefen und alle eine weiße Kutte über dem Arm hängen hatten.“

Der Vorsitzende nickte verständnisvoll. „Gut, erzählen sie weiter.“

Robert versuchte, den Faden seiner Gedanken wieder aufzugreifen. Die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse lebten auf und es kam ihm vor, als wäre alles erst gestern geschehen.

Fußnoten zum Kapitel

1In Brüssel tragen eine Straße und eine Einkaufsgallerie den Namen Ravenstein. Der Name geht wohl auf Philipp Eberhard von Kleve, Herr zu Ravenstein (1456 -1528) zurück, der ein niederländisch-burgundischer Adeliger war.

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