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Einige Wochen später

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Als Robert das Besprechungszimmer im Aquarium betrat, testete Kleinknecht seine Präsentation. Die Technik schien nicht zu funktionieren und er fluchte verärgert. „So ein Scheißding!“ Er schaltete seinen Laptop mehrmals an und aus, steckte die Kabel in andere Steckplätze und pustete nervös.

Robert beobachtete, wie Kleinknecht langsam die Geduld verlor. „Versuch es mal mit der ALT und F5-Taste“, regte er an.

Kleinknecht blickte ihn mit feuerrotem Kopf an und befolgte den Rat. Das erste Bild erschien. „Danke, danke“, sagte er flüchtig und setzte sich an seinen Platz.

Lisa tauchte auf und setzte sich an den Tisch neben Robert. Schließlich erschienen Hartman und einige seiner engsten Mitarbeiter. Die Besprechung konnte beginnen.

"Herr Ravenstein... fangen Sie an", forderte ihn Hartman auf.

Robert nickte und ergriff das Wort: "Wie wir alle wissen, gibt es bei der Einfrierung von Zellen einige Probleme, die immer noch nicht gelöst sind", sagte er. "Ein großes Problem ist, dass sich beim Abkühlen scharfkantige Eiskristalle in den Zellen bilden. Sie wachsen langsam, erreichen die Zellwand und beschädigen diese. Die Zelle wird von innen heraus zerstört und stirbt. Ein anderes Problem ist die Anwendung von Kryoprotektoren ... Diese sollen verhindern, dass das Wasser in den Zellen gefriert. Die Kryoprotektoren entziehen den Zellen zunächst das Wasser. Hierdurch erhöht sich die Viskosität der intrazellulären Flüssigkeit. Wenn die Zellen nun schnell eingefroren werden, bleibt die Kristallisation aus. Das Problem ist, dass nach dem Auftauen die Kryoprotektoren das Gewebe wieder verlassen müssen, weil sie toxisch sind.“

Lisa nickte wiederholt, weil sie das Problem zur Genüge kannte. Hartman hörte sich den Beitrag etwas gelangweilt an, spielte mit seinem Füller und schüttelte hin und wieder den Kopf, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass man die genannten Probleme nicht in den Griff bekommen könnte.

Robert ließ sich dadurch nicht beeindrucken und fuhr fort: „Beim Einfrieren und Wiederbeleben eines gesamten Körpers potenzieren sich die Probleme … Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass wir diese massiven Probleme jemals lösen werden. Der Mensch ist halt keine Maschine“.

Kleinknecht setzte sich aufrecht auf der Kante seines Stuhles und stützte beide Hände auf dem Tisch, als wolle er aufspringen. „Aber… so kann ich das nicht stehen lassen … Ich … Ich habe…“, stotterte er.

Hartman blickte ihn an. „Herr Kleinknecht, offensichtlich sind Sie damit nicht einverstanden“, warf er ein.

„Aber nein, natürlich nicht … Ich habe neuere Studien gelesen… in einer amerikanischer Zeitschrift.“

„Aha“, tat Hartman überrascht, „dann bin ich gespannt, was sie zu berichten haben … Kommen Sie nach vorn und schießen Sie los!“

Kleinknecht schritt hastig mit seinen Unterlagen ans Tischende, schaltete den Beamer an und warf das erste Bild seiner Präsentation an die Leinwand. „Ich glaube, dass es für jedes Problem eine technische Lösung gibt … Stellen Sie sich vor, wie wir noch vor hundert Jahren gelebt haben“, gab er sich philosophisch. „Ja, hätte jemand vor hundert Jahren behauptet, dass wir einmal ein Herz, eine Niere… oder sogar eine Leber transplantieren würden, hätten die meisten Wissenschaftler gelacht. Heute wissen wir, dass dies recht alltägliche Eingriffe sind. Deshalb glaube ich, dass wir für die Probleme der Kryokonservierung bald eine Lösung finden werden. Und ich glaube auch, dass wir in absehbarer Zeit Menschen einfrieren und wiederbeleben werden.“

Hartman nickte und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Richtig Herr Kleinknecht, das ist echter Pioniergeist und den brauchen wir in unserem Team“, ermutigte er ihn.

Lisa und Robert warfen sich fragende Blicke zu und ärgerten sich darüber, wie Kleinknecht sich aufspielte. Kleinknecht fühlte sich bestätigt und setzte noch eins drauf. Er faselte über den wahren Erfindergeist, über die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und über das visionäre Bekenntnis von Kennedy zum ersten Mondflug.

Hartman schien richtig aufzuleben und seine Augen funkelten. „So reden Männer mit … äh … ich meine Männer, die Geschichte schreiben“, rief er voller Bewunderung aus.

Nun gänzlich entfesselt verriet Kleinknecht die neusten Blitze seines scharfen Geistes. „Eigentlich ist die Lösung des Problems bereits gefunden“, erklärte er theatralisch. „Wir müssen sie nur erkennen wollen, denn die Natur zeigt uns den Weg“.

Alle blickten ihn erwartungsvoll an, als würde gleich ein Wunder geschehen.

„Stellen wir uns vor, was passiert, wenn ein Regentropfen vom Himmel fällt und eine kalte bodennahe Luftschicht durchquert“, warf er in die Runde und folgte mit dem Zeigefinger einen imaginären Regentropfen, der vom Himmel fiel. „Ja…, dieser Wassertropfen kühlt blitzschnell ab, erreicht Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, aber gefriert nicht! ... Unterkühltes Wasser heißt das.“ Kleinknecht ließ seine Worte wirken und schaute dabei gezielt Robert und Lisa an. Alle nickten, denn von dem Phänomen hatten sie schon gehört. „Und genau das werden wir mit dem Menschen tun“, rief er triumphierend aus. „Wir werden ihn blitzschnell abkühlen, sodass sich auch bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt keine Eiskristalle in den Zellen bilden. Das Verfahren heißt Vitrifizierung.“

Ein Mitarbeiter streckte die Hand und schnipste mit den Fingern. „Wie schnell läuft der Einfrierungsprozess?“

Kleinknecht überlegte und versuchte sich die neueren Studien in Erinnerung zu rufen. „Ja… erst werden die Patienten in einer Kühlbox bis auf minus 90°C abgekühlt, glaube ich… Dann erfolgt ein sogenannter freier Fall herunter auf minus 196°C, in dem der Körper in einen Stahltank mit flüssigen Stickstoff überführt wird.“

„Ach so“, wunderte sich der Mitarbeiter, „dann verzichten Sie ganz auf Kryoprotektoren.“

„Nein, nein“, korrigierte sich Kleinknecht, „natürlich wird erst das Blut entnommen und über die Aorta wird eine Perfusion mit einer Speziallösung auf Basis von Glycerin vorgenommen, damit die Zellen einen Teil des Wassers verlieren.“

„Haben wir überhaupt Erfahrung damit?“, warf ein anderer Mitarbeiter ein.

Kleinknecht blickte ihn von oben herab an. „Aber natürlich... wir arbeiten derzeit eng mit dem renommierten Institut für Kryologie in Chicago zusammen und übernehmen einen Teil der Forschung.“

Lisa und Robert schauten sich verwundert an und dachten das Gleiche. Robert fragte vorsichtig, wie weit denn die Forschung fortgeschritten sei. Kleinknecht meinte, dass die Testreihen mit Nieren in den USA so vielversprechend verliefen, dass es im Moment nur noch darum ginge, als erster eine zuverlässig Methode zu entwickeln, um ganze Körper einzufrieren. Hartman unterbrach die wieder auflebende Diskussion. Er erklärte, welche Forschungsreihen er gern im eigenen Betrieb durchführen möchte und bat Lisa, bis Ende des Monats einen Forschungsplan an Mäusen aufzustellen. Als die Sitzung eigentlich schon abgelaufen war, warf er noch ein Thema in die Runde. „Oh ja, da ist noch etwas!“ Er erklärte, dass einige Verträge der im Keller eingefrorenen Menschen bald ablaufen würden. Außerdem hätten Angehörige die Beendigung der Zahlungen vor Gericht erstritten. Auf Grund der Verträge sollte die Firma einen Versuch zur Wiederbelebung unternehmen. „Überprüfen Sie bitte Herr Kleinknecht, was erforderlich ist, damit wir unsere Verpflichtungen erfüllen. Wie Sie wissen, klagen Amerikaner gern gegen alles Mögliche.“ Kleinknecht nickte und notierte einen Vermerk für das Protokoll.

***

Die Straßenbahn führte Robert entlang eines prächtigen Boulevards im Süden der Stadt, der von großen Platanen gesäumt war. Er stieg aus und lief die kurze Strecke durch das Viertel, das zwischen 1860 und 1910 gebaut wurde. Lisa wohnte in einem zweistöckigen Jugendstilhaus mit Souterrain. Er klingelte und der Türöffner summte. Er ging hinein und betrat das Treppenhaus. Ein paar breite Marmorstufen führten zur Hochparterre und von dort ging eine Holztreppe hoch zu den oberen Stockwerken. Lisa stand oberhalb der Stufen, schaute ihn lächelnd an und empfing ihn mit drei dezenten Küsschen. Er gab ihr den Blumenstrauß, den er persönlich ausgesucht und binden lassen hatte. Sie strahlte. „Oh, rote Rosen!“, rief sie erfreut aus. „Rosen sind meine Lieblingsblumen… und rot mag ich.“ Er folgte ihr durch einen dunkeln Flur in die Küche. Sie suchte eine Vase, füllte diese mit Wasser und tat den Blumenstrauß hinein. Es duftete nach Essen, aber Robert konnte den Geruch nicht zuordnen.

Er schnupperte in die Luft und schaute sie neugierig an. „Was hast du gekocht?“

„Überraschung!“, tat sie geheimnisvoll, nahm ihn bei den Schultern und führte ihn vor sich hin aus der Küche heraus. „Du kannst den Wein schon aufmachen und dich umschauen. Du bist bestimmt neugierig, was bei mir herumsteht.“ Sie stellte die Rosen auf den Tisch und verschwand wieder in die Küche.

Er stand in einem Zimmer, das Ausblick in einen schönen Garten gab und als Esszimmer genutzt wurde. Eine doppelte Flügeltür führte auf eine Terrasse mit dem Garten dahinter. Hinter dem ersten Zimmer lag ein fensterloses Zimmer, das zusammen mit dem dritten Zimmer an der Straßenseite als Wohn- und Arbeitszimmer genutzt wurde. Zwei große, weiße, vierflügelige Türen mit vielen Glaseinsätzen und einem bunt verglasten Oberlicht trennten die drei Räume. Die Wände waren mit Holzvertäfelungen in unterschiedlichen Weißtönen verziert und prächtiger Stuck schmückte die Decke. Jedes Zimmer hatte einen Kamin in weißlichem Marmor. Auf dem Buffetschrank im Esszimmer entdeckte Robert ein Gipfelbild von vier Bergsteigern im Schnee. Sie trugen schwere Rucksäcke, hatte dicke Bergjacken an und streckten siegesbewusst ihren Eispickel hoch. Die zweite Person von rechts war Lisa. An der Wand hingen drei schwarz-weiß Porträtaufnahmen von Kindern. Neben der Fenstertür hatte eine große Palme einen Platz gefunden. In einer Ecke stand eine Standuhr mit einem Zifferblatt in Messing und mit einer Glastür, durch die man die Gewichte und das Pendel sehen konnte.

Lisa hatte den Tisch bereits gedeckt. Robert nahm die Flasche Wein, die sie auf den Tisch gestellt hatte, und schaute auf das Etikett. Es war ein Rioja, ein Gran Reserva. Er öffnete die Flasche und stellte sie auf den Tisch zurück. Er ging ins Wohnzimmer, in dem eine alte Couch und zwei Sessel, die mit dunkelrotem Ribbelstoff bezogenen waren, sich gegenüberstanden. Über den Kamin hing ein riesiger Spiegel mit einem breiten, geschwungenen Holzrahmen. Die Wand daneben schmückte ein größeres Aquarell, das einen Sandstrand darstellte, der ihm irgendwie bekannt vorkam. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Holzregal, in dem Lisa ihre Bücher und CD-Sammlung untergebracht hatte. Aus den Lautsprechern im Regal erklang eine himmlisch hohe Frauenstimme, die von einem melancholischen, träumerischen Akkordeon, von Gitarren und einem Kontrabass begleitet wurde. Die Musik ging Robert unter die Haut und er warf einen kritischen Blick auf Lisas Musiksammlung. Lisa hatte viel Fado, Tango und Weltmusik von Interpreten, die er gar nicht kannte.

„Komm, wir können essen“, hörte er Lisa aus dem Nachbarraum rufen. Sie stellte eine große, flache, schwarze Pfanne auf den Tisch, schenkte den Wein ein, schaute ihn lächelnd an und wartete offensichtlich auf seine Kommentare.

„Paella!“, stellte Robert begeistert fest.

„Ja, mein Lieblingsgericht“, verriet sie ihm.

Sie fing an ihn die verschiedenen Zutaten auf den Teller zu legen und stieß anschließend mit ihrem Weinglas mit ihm an. Die Paella schmeckte vorzüglich und Robert ließ sich im Detail erklären, wie sie das Gericht hingezaubert hatte. Nach dem Essen räumten sie beide den Tisch ab und stellten das Geschirr in die Spülmaschine. „Die Töpfe spülen wir morgen ab“, sagte sie, als er anfing, heißes Spülwasser einfließen zu lassen. Sie gingen ins Wohnzimmer. Er setzte sich auf die Couch und sie legte Musik auf und setzte sich zu ihm.

„Das Bild auf den Berg dort auf dem Schrank … Wo ist das?“, fragte er.

„Oh… wir haben das Bishorn bestiegen, einen Viertausender im Wallis. Ich war dort zusammen mit Jonas und seinen beiden Freunden, du weißt, jene die in Kaschmir ermordet wurden.“

Sie stand auf und holte das Bild. „Schau!“, sagte sie und zeigte auf die erste Person rechts. „Das ist Jonas, vielleicht drei Monate bevor er verschwunden ist.“

Robert betrachte das Bild genauer: Neben Lisa stand ein lebensfroher, junger Mann, der sie strahlend anhimmelte.

„Der Berg ist fast 4200 Meter hoch. Der letzte Abschnitt läuft man als Seilschaft über einen Gletscher.“

„Wow… schaffst du das?“, staunte er.

Sie legte den Kopf zur Seite und lächelte ihn herausfordernd an. „Und wie! Ich bin zäh wie eine Bergziege."

Er lächelte, zog sie zu sich hin und legte den Arm über ihre Schulter. Sie hörten sich die Musik an und ließen ihre Gedanken schweifen.

„Ich habe noch einen Nachtisch!“, fiel ihr plötzlich ein. Sie verschwand in die Küche und es schepperte im Ofen. Er stand auf und schaute sich das Aquarell genauer an. Es zeigte einen menschenleeren Sandstrand, auf dem vorne Grasbüschel wuchsen. Wellen brachen sich in der Brandung. Im Hintergrund am Ende der Bucht erkannte er eine Felsenküste, die im Meer endete und an deren Spitze ein breiter, weißer Leuchtturm stand. Ganz rechts am Ende des Strandes waren Häuser zu erkennen. Das Bild war mit Lisa signiert.

„Das ist Conil de la Frontera“, hörte er von hinten sagen. Lisa stand mit zwei tönernen Schälchen in den Händen hinter ihm. „Dort kommt meine Mutter her und dort leben meine Großeltern heute noch.“

„Oh… da war ich schon so oft“, rief er verblüfft aus. „Früher, als ich noch Urlaub mit meinen Eltern machte.“

Sie blickte ihn erfreut an. „Oh… so ein Zufall.“

Er nickte. „Ja… das ist Zufall.“

„Das ist eines meiner ersten Bilder“, sagte sie etwas verlegen. „Da hatte ich gerade erst angefangen zu malen, kurz nachdem Jonas verschollen war.“

Er setzte einen Kennerblick auf, betrachtete das Bild genauer, spitzte die Lippen und nickte anerkennend. „Das Bild ist dir aber gut gelungen ... Du hast Talent“

Sie war geschmeichelt, zauberte ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht und reichte ihm eines der beiden Schälchen.

Er bedanke sich und schnupperte am Nachtisch. „Hmm“, summte er, „Crema Catalana.“

Sie nickte erfreut, weil er den Nachtisch kannte und sie setzten sich in die Couch. Sie ließen sich die Creme auf der Zunge zergehen und unterhielten sich lebhaft über ihre Kind- und Jugenderlebnisse an der Costa de la Luz. Lisa war Feuer und Flamme und es erschien ihm, als wäre ihr spanisches Temperament entflammt. Sie kratzten die letzten Reste vom Nachtisch aus ihren Schälchen und stellten diese beiseite. Sie schenkte einen Sherry ein, legte neue Musik auf und ließ sich in die Couch sinken. Er zog sie zu sich hinüber, legte ihren Kopf auf seinen Schoss und streichelte ihre Stirn. Sie zog die Beine hoch und schaute ihn mit einem schüchternen Lächeln an. Zusammen lauschten sie der Musik. Zwei Gitarren entwickelten ein ruhiges Spiel und eine warme Frauenstimme stimmte ein. Sie schwebte durch den Raum, schlang sich um ihre Körper, betörte ihre Ohren, verführte ihre Sinne, drang tief in ihre Seelen ein und ließ ihre Herzen schneller schlagen.

Robert spitzte die Ohren. „Wessen Stimme ist das“, flüsterte er.

Sie fuhr mit ihrer Hand durch seine Haare, die ihm über die Stirn hingen, und ließ diese durch ihre Finger gleiten. „Ana Moura“, sagte sie leise.

Er küsste sie kurz auf dem Mund. „Es klingt so wehmütig... so gefühlvoll. Verstehst du, was sie singt?“

Sie glitt mit dem Zeigefinger über seine Lippen. „Por minha conta ... das ist portugiesisch … das musst du nicht verstehen ... Robert … die Musik musst du spüren.“

Er schaute tief in die weiten Pupillen ihrer dunklen Augen. „Ja… ich spüre sie“, flüsterte er und küsste nochmals ihre Lippen.

Sie schloss die Augen und seine Blicke wanderten über die sanften Züge ihres Gesichtes und blieben an ihren Lippen kleben. „Die Musik spricht meine Seele an“, klang es sanft aus ihnen.

„Meine auch“, hauchte er.

„Unsere Seelen sind sich sehr ähnlich … Weißt du das?“, flüsterte ihre warme Stimme. Er krabbelte mit dem Finger an ihrem Ohrläppchen. Sie öffnete die Augen, lächelte und berührte seine Stirn. „Du… das habe ich gleich am ersten Tag gespürt“, gestand sie ihm und machte ein glückliches Gesicht. Seine Fingerkuppen berührten ihre Lippen und glitten über ihre Wange und ihre Schläfe und querten ihre Stirn. Sie streiften die Augenbraue auf der anderen Gesichtshälfte, folgten dem Rand ihres Ohrs und erreichten ihren blanken Hals. Vorsichtig glitten sie weiter herunter, trafen auf ihr Schlüsselbein und hielten dort inne. Sie lächelte ihn an und seine Finger fuhren etwas zügiger den gleichen Weg zurück.

„Charmeur“, sagte sie leise und schmunzelte.

Er runzelte kurz die Stirn. „Wieso? ... Magst du das nicht?“

Sie lächelte ihre weißen Zähne frei. „Doch, doch... ich finde das gerade schön.“

„Du bist schön ... Du hast schöne Augen... schöne Wange... schöne Ohren… schöne Lippen... ein schönes Gesicht“, flüsterte er, während er behutsam diese Körperteile antippte. Er berührte ihre Lippen vorsichtig mit den seinigen, sie öffnete den Mund und sie küssten einander und umarmten sich. Sie kamen sich nah, erzählten, was sie fühlten und liebten und die Stunden gingen schnell vorbei… Um halb zwei wollte Robert Heim gehen und er stand auf.

„Bleib doch hier“, schlug sie vor, „du wirst doch nicht den ganzen Weg nach Hause laufen … Es fährt ohnehin keine Straßenbahn mehr um diese Zeit.“

Weil er ihr Problem kannte, wusste er nicht, was sie wollte, und schaute sie etwas verwirrt an.

Sie zeigte auf die Couch. „Du kannst hier schlafen… auf der Couch.“

Er überlegte und war hin und her gerissen. „Gut ich bleibe“, beschloss er.

Sie stand auf und verschwand im ersten Stock, kam die Treppe herunter und reichte ihn ein Handtuch und eine Zahnbürste. „Geh schon hoch ins Bad. Ich mache das Bett.“

Er ging die Treppe hoch ins Badezimmer. Als er wieder herunterkam, lag die Bettwäsche auf der Couch. Sie kam im ärmellosen Nachthemd aus der Küche. „Willst du nicht doch lieber oben im großen Bett schlafen?“ Sie leicht abgesenktem Kopf schaute sie ihn mit großen Augen erwartungsvoll an. Er legte seine Arme um ihre Hüfte und küsste sie.

„Ich komme sofort“, sagte sie, entzog sich seiner Umklammerung und verzog sich ins Bad.

Robert ging die Treppe hoch, zog die Oberbekleidung aus und legte sich ins große Bett. Er hörte, wie die Badezimmertür zuschlug. Lisa tauchte im Schlafzimmer auf und schaute ihn verlegen an. Sie stieg ins Bett, rückte an ihn heran und legte ihren Arm über seinen Rücken. Er spürte, wie ihre Füße seine Beine suchten und die glatte Haut ihrer Beine ihn berührte. Er drehte sich zu ihr und wollte sie küssen, doch sie glitt mit ihren Fingern über seine Lippen. „Gute Nacht“, flüsterte sie.

Am nächsten Morgen wurde Lisa durch das laute Gezwitscher der Spatzen geweckt. Ein Lichtstrahl, der durch die Gardinen drang, traf sie ins Gesicht. Als sie merkte, dass Robert schon wach war, drehte sie sich zu ihm. Sie strahlte wie ein Kind, fuhr mit ihrer Hand über seine Brust. „Es war eine wundervolle Nacht … Ich habe geträumt ... Erstmals seit Jahren“, sagte sie. Sie legte sich wieder auf ihre Bettseite und schaute die Decke an. Nach einer Weile wurde sie ungeduldig. „Willst du nicht wissen was?“

Er schaute zu ihr rüber. „Wenn es ein schöner Traum war schon.“

Sie verschränkte die Armen unter dem Kopf und erzählte. „Ich habe eine Szene geträumt, in der wir beide vorkamen … Ich stand vor einem Fenster in einem großen, hellen Zimmer und ich schaute in einen weiten Garten in dem Leute spielten. Es war Sommer, sehr heiß und die Sonne schien. Plötzlich klingelte das Telefon … Ein kleines Mädchen mit langen dunklen Haaren nahm den Hörer ab und meldete sich mit Julia. Sie hörte zu, was der Anrufer von ihr wollte und schrie laut durch die Wohnung: Papi... da ist ein wichtiger Mann für dich! Sie sagte, dass der Papa sofort komme und dann kamst du und sie reichte dir den Hörer.“

Robert musste schmunzeln. „Glaubst du wirklich, dass Träume sich erfüllen?“

Sie überlegte kurz. „Ich weiß nicht… doch dieser Traum war so ganz anders.“

„Wieso?“

„Er war so… konkret… als würde ich in die Zukunft blicken.“

„Hm“, summte er. „Vielleicht hast du auch nur deine Wünsche gesehen… deine Sehnsucht?“

Er zog sie an sich heran und sie schmiegte sich an ihn.

Am Nachmittag legten sie sich in die bequemen Gartensessel im Garten und schlürften starken Espresso-Kaffee. Lisa strickte einen Pullover für den Winter. Robert blätterte die Tageszeitung durch und überflog die Auslandsseiten. Einen langen Beitrag über die wachsende Unzufriedenheit der armen Landbevölkerung im Westen Chinas, weckte sein Interesse.

„Hör mal“, sagte Robert halblaut. „In Xiangyun gehen Bauern schon wochenlang auf die Straße. Nun hat ein von der Regierung entsandter Regierungsfunktionär die friedlichen Demonstrationen brutal zusammenschlagen lassen.“

Sie zählte die Maschen ihrer Strickarbeit, hörte mit einem Ohr zu und runzelte die Stirn. „Neunundzwanzig, dreißig…“, murmelte sie.

„Hörst du überhaupt zu?“

Sie nickte und strickte weiter. „Ja, ja… das von den Bauern in Xiangyun?“

„Der Regierungsfunktionär heißt Li Peng und ist der gleiche Mann, der die Demonstranten auf dem Tiananmen-Platz niederknüppeln lassen hat.“, erläuterte Robert.

Sie blickte kurz auf und verzog den Mund. „Hm... das geht bestimmt nicht gut aus“, murmelte sie und strickte weiter.

Er nickte und blätterte die Seite um. Er runzelte die Stirn und überflog einen Artikel. Stell dir vor!“, sagte er, „die Bewohner des Inselstaates Tuvalu befürchten, dass ihre Insel durch den Anstieg des Meeresspiegels bald überflutet wird.“

Sie schaute auf und überlegte kurz. „Tuvalu… das liegt doch im Pazifik.“

Er nickte.

„Saufen die Inseln etwa wegen der Klimaerwärmung ab?“

„Ja, ja... die Überschwemmungen scheinen sich zu häufen.“

Er goss noch etwas Kaffee aus dem Kännchen nach und versenkte zwei Zuckerwürfel in die kleine Espressotasse. Als die Würfel zerbröckelt waren, rührte er kräftig und nippte anschließend an der Tasse.

Er fasste sich nachdenklich am Kinn. „Hmm… kannst du dir das vorstellen? Bei den Vorwahlen in den USA hat sich dieser religiöse Spinner durchgesetzt.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Du meinst den komischen Typ von den Republikanern?“

„Ja, ja… dieser christliche Fundamentalist mit seinen ultra-neo-liberalen Ideen… Das wird heiter.“

Sie zuckte die Achseln. „Pfff… der hat doch überhaupt keine Chance, die Wahl zu gewinnen.“

„Ich hoffe nicht ... Das wäre eine absolute Katastrophe… eine echte Zumutung im Vergleich zu dem, was die Amerikaner der Menschheit bisher geboten haben.“

Robert las einen kurzen Bericht über den Iran. „Glaubst du, dass die Iraner eine Atombombe bauen können?“

Sie wackelte leicht mit dem Kopf und verzog den Mund. „Können“, murmelte sie, „können schon, denn die Pakistani haben es doch auch geschafft … Aber wollen sie dies wirklich?“

Robert nickte und las weiter. Sie blickte irritiert auf die Frontseite der Zeitung. „Gib mir mal die erste Seite! Da steht etwas über Pfaff.“ Er reichte ihr die Seite und sie las den Abschnitt. „Pfaff ist Präsident der Börse geworden!“

„Wie? Unser Pfaff?“, staunte er.

Sie zeigte ihm das Bild in der Zeitung. „Ja, ja... unser Pfaff.“

Er lächelte. „Dann kann er dort seine wirren Ideen verbreiten.“

„Ich habe keine Aktien“, stellte sie fest, „von daher bin ich nicht betroffen.“

Robert machte ein nachdenkliches Gesicht. „Ja… das stimmt… aber vielleicht nutzt er seine Position, um seinen Einfluss bei Koudenberg auszubauen.“

Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht… vielleicht auch nicht.“

„Wie ist eigentlich Koudenbergs Position im Betrieb?", hakte er nach.

„Das weiß ich nicht so genau. Auf jeden Fall steht er unter Druck der Aktionäre. Seitdem der Betrieb eine Aktiengesellschaft ist, hat er nicht mehr die starke Position, die einst sein Vater und Großvater hatten.“

Er blickte auf. „Und wann wurde die Aktiengesellschaft gegründet?“

„Oh, das war kurz nachdem Jonas verschwunden war.“

Robert machte eine ernste Miene. „Ich glaube, du musst mit ihm reden. Ihr beide habt ein ähnliches Problem."

Sie runzelte die Stirn und dachte über das Gesagte nach.

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