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1.Einführung in die Theaterpädagogik

von Roger Lille


1.1 ANNÄHERUNG AN DEN BEGRIFF

Die Geschichte der Theaterpädagogik lässt sich auf unterschiedliche Art erzählen. Je nach Sichtweise ist Theaterpädagogik schon einige hundert Jahre alt oder aber erst vor noch nicht allzu langer Zeit mündig geworden. Versteht man darunter schwergewichtig das Theaterspiel in der Schule, so kann man auf eine rund 500-jährige Geschichte des Schulspiels oder Schultheaters zurückblicken mit grossartigen Inszenierungen, mit Weihnachts- und Osterspielen und Klassikerinszenierungen, und – etwas kritisch angemerkt der Nachahmung des grossen, vorbildhaften professionellen Theaters mit seinen Stars und Musterschülern. Theatrale Glanzlichter der Kulturgeschichte also, auch auf der Bühne der Schulaula. Öffentliche Visitenkarten für deutliche Sprache und laute Stimme, früher da und dort auch für Zucht und Ordnung, immer aber auch für Zusammenspiel und Gemeinschaftswerk.

Allerdings gibt es den Begriff ‹Theaterpädagogik› noch keine 50 Jahre, und noch Ende der 1990er-Jahre musste manch ein Theaterpädagoge seine Arbeit – und deren Sinn – ausführlich erklären.

Heute hat sich der Begriff durchgesetzt und ist mehrheitlich etabliert, auch wenn die konkreten Vorstellungen, was mit ihm gemeint ist, noch immer diffus sind und auseinandergehen – und dies selbst bei Theaterpädagoginnen und -pädagogen.

Einigkeit herrscht immerhin darin, dass unter Theaterpädagogik die Theaterarbeit mit nicht ausgebildeten Schauspielenden verstanden wird, allerdings im ganzen Spektrum von Regie bis zu Spielleitung, von der Stückerarbeitung bis zur gruppendynamischen Spielstunde oder dem Rollenspiel im Dienste der Krisenintervention.

Die Schwierigkeit einer Definition liegt nicht nur darin, dass es unterschiedliche Ursprünge gibt, sondern vielmehr darin, dass es nicht nur um eine reine terminologische Klärung geht, sondern gleichzeitig auch um eine Sache und deren Auslegung und Interpretation.

Die heutige Theaterpädagogik zeichnet sich denn auch durch eine Vielfalt von Ansätzen und Zugängen, von Methoden und Einsatzgebieten aus.

Theaterpädagogik findet sich sowohl im Umfeld von Theaterhäusern und freien Gruppen als auch im pädagogisch-schulischen Kontext, in der Theaterarbeit mit Amateuren, in der Erwachsenenbildung als Verhaltenstraining, als Managementschulung und Unternehmenstheater und im sozialen Umfeld in der Arbeit mit Randgruppen, Aussenseitern, sozialen Minderheiten etc.

Es gibt Theater mit Kindern und es gibt Jugendclubs, Theater mit Senioren und Arbeitslosen, mit Gefängnisinsassen, Lehrlingen und Lehrern; theaterpädagogische Ansätze gibt es in therapeutischen Settings (z. B. Psychodrama) und in Berufstrainings, es gibt Bibliodrama und Wissenschaftstheater bis hin zu Formen der Animation in der Tourismusbranche oder dem Theatersport.

Im engeren, auf Theater fokussierten Bereich, lassen sich zwei Grundrichtungen theaterpädagogischer Arbeitsfelder definieren:

–Etliche Theaterpädagogen und -pädagoginnen arbeiten an Theaterhäusern oder sind im Bereich der freien professionellen Kinder- und Jugendtheaterszene engagiert. Hier geht es schwergewichtig um die Begleitung von Aufführungen. Theaterpädagogen entwickeln dabei zuhanden der Lehrpersonen Materialien oder Formate (z. B. Spielstunden) für die Vor- und Nachbereitung von Aufführungsbesuchen von Kindern und Jugendlichen. Oder sie arbeiten mit theaterpädagogischen Methoden selber mit Klassen hinführend und einleitend auf den Aufführungsbesuch hin bzw. nachbereitend, nach demselben. Nicht selten steht dabei die Arbeit auch unter dem Druck von Zuschauerakquirierung. Theaterpädagogischer Erfolg wird dann an den Besucherzahlen oder verkauften Vorstellungen gemessen.

Im Zentrum dieses Arbeitsfeldes steht also eine Inszenierung mit professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern, und die Arbeit liesse sich auch mit dem Begriff der ‹Theatervermittlung› umschreiben. Diese Vermittlung kann – muss aber nicht – mit theatralen Mitteln, also theaterpädagogisch, erfolgen.

–Im Zentrum der zweiten Grundrichtung steht die direkte Theaterarbeit mit einer Zielgruppe ohne vorgegebenen Bezug zu einer Inszenierung, einem Thema oder Ähnlichem. Die Arbeit kann, muss aber nicht, auf ein soziales, kommunikatives Ziel ausgerichtet sein.

Diese Form ist meist mit der pädagogisch-schulischen Arbeit verbunden und im schulischen Umfeld angesiedelt. Das theatrale Spiel ist hier einerseits Methode der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Inhalten (oder Sozialisationsformen) und andererseits auch Ausdrucksform und künstlerischer Gestaltungswille: Klassen erarbeiten Stücke, präsentieren diese einer Öffentlichkeit, nehmen an Schultheatertreffen teil etc. Je nach Gewichtung werden dabei mehr der Prozess und die mit ihm verbundenen Chancen des Spiels in den Vordergrund gerückt – also soziale Kompetenzen wie Integration, Kommunikation, persönlicher Ausdruck, Selbst- und Fremdwahrnehmung – oder es geht mehr um das Produkt und die Auseinandersetzung mit künstlerisch-kreativen Ausdrucksformen, dem persönlichen Wachsen bezüglich der (bühnenwirksamen) Auftrittskompetenz und mit dem übergeordneten Ziel der Bildung eines ästhetischen Bewusstseins und der Hinführung zum Theater als Kunstform.

Theaterpädagogische Formen brauchen also nicht zwingend zur Aufführung und zu ‹Theater› zu führen. Nicht selten sind es spielerische Methoden der Auseinandersetzung der Spielenden mit sich, ihrer Selbstwahrnehmung, ihres Auftretens oder der Kommunikation und Interaktion auf der Ebene des Miteinanders.

Theaterpädagogik im schulischen Bereich – mit mehr pädagogischer oder aber mehr ästhetisch/künstlerischer Ausrichtung – hat in den vergangenen 40 Jahren in Lehrplänen Einzug gehalten und ist mancherorts zu einem Wahlpflicht- oder gar Pflichtfach geworden. Pädagogische Hochschulen bieten Lehrgänge im Ausbildungsbereich sowie Nachdiplomstudien und Masterstudiengänge an, in denen sich Lehrpersonen fundiertes Können zur Spielleitung holen können.

Nicht unwesentlich zu dieser Entwicklung beigetragen hat auch die Professionalisierung der Ausbildung zum Theaterpädagogen bzw. zur Theaterpädagogin an Kunsthochschulen (vormals Schauspielschulen). Ihnen ist sicher zu verdanken, dass sich ein gemeinsames Vokabular, eine verbesserte Kooperation der Theaterpädagogen untereinander und eine intensivere Kommunikation entwickelt haben.


Parallel zu Ausbildungsgängen sind auch theaterpädagogische Beratungsstellen entstanden. Bereits zu Beginn der 1970er-Jahre wurden erste theaterpädagogische Zentren, meist auf Initiative freier Theatergruppen, gegründet. Sie hatten und haben zum Ziel, Theater näher an die Schule zu rücken, die Methode Spiel stärker in den Unterricht einzubringen.

Zu Beginn der 1980er-Jahre wuchs das Bedürfnis nach Austausch und Kooperation: 1986 trafen sich in Köln erstmals an Schulen und Theatern engagierte Theaterpädagogen und -pädagoginnen. Das Tagungsthema lautete ‹Theaterpädagogik zwischen Animation und Unterricht›. Doch schon die Einstiegsrunde zu den Tätigkeitsfeldern der Anwesenden machte deutlich, wie breit und unpräzise die Vorstellungen und Arbeitsansätze waren: Anwesend waren Öffentlichkeitsverantwortliche an Theatern, Dramaturgen, Schauspielausbildende, Theatertheoretiker und im kirchlichen und schulischen Umfeld Tätige. Alle nannten sich Theaterpädagogen. Der Grund der Vielfalt lag mitunter auch darin, dass im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmassnahmen in ganz Deutschland sogenannte ABM-Stellen an Theatern aufgebaut worden waren, deren Aufgabe sich insbesondere auf theaterpädagogische und theatervermittelnde Anliegen der Theaterhäuser bezog. Positive Folge dieser ersten Tagung war 1990 die Gründung des Berufsverbandes Theaterpädagogik BUT in Deutschland.

Auch in der Schweiz gibt es inzwischen – nachdem sich die SADS, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel (in der Schule) Ende der 1990er-Jahre aufgelöst hatte – einen Verband, der sich mit theaterpädagogischen Fragen auseinandersetzt und das theaterpädagogische Selbstverständnis kritisch hinterfragen will. Er lanciert Weiterbildung und Forschung und fördert so ein gemeinsames Berufsverständnis. Der tps – Fachverband Theaterpädagogik Schweiz – wurde 2005 gegründet und zählt heute über 300 Mitglieder aus dem professionellen und semiprofessionellen Feld. (Weitere Informationen zu Ausbildungsgängen und Verbänden siehe auch im Folgenden.)

ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste)

Das heutige Departement ‹Darstellende Künste› der Zürcher Hochschule der Künste geht auf das 1937 in Zürich gegründete Bühnenstudio zurück. Es war Ausbildungsstätte etlicher Schauspielergrössen.

1960 übernahm der damalige Leiter des Theaters am Neumarkt Zürich, Felix Rellstab, die Leitung und führte die Schule in einem umsichtigen organisatorischen und politischen Prozess in die Schauspiel-Akademie (SAZ) über, die von Stadt und Kanton Zürich mitgetragen wurde.

1966 bezog die SAZ die Villa Tobler, ein Jugendstilhaus an der Winkelwiese in der Zürcher Altstadt mit zum Spielen verführenden Räumen und einem inspirierenden Ambiente. Rund 20 Schauspielschülerinnen und -schüler studierten pro Jahrgangsklasse.

1971 gelang Rellstab die Gründung einer Regie-Abteilung, 1973 startete der erste Ausbildungsgang in Theaterpädagogik. Fortan arbeiteten die Studierenden der drei Abteilungen im ersten Ausbildungsjahr zusammen, ab dem zweiten Jahr kamen die fachspezifischen Aspekte und die Projekte hinzu.

Schon bald übergab Rellstab dem Regisseur Louis Naef die Leitung der Abteilung Theaterpädagogik. Naef hatte sich einen Namen mit Laieninszenierungen und gemischten Profi-/Laieninszenierungen gemacht und den Begriff ‹Landschaftstheater› geprägt. Seine Inszenierungen im Napfgebiet oder auf dem Ballenberg waren legendär. Er war es, der die Perspektive der Theaterpädagogik vom Fokus Kinder und Jugendliche aufs Volkstheater bzw. das Erwachsenen- und Laienspiel erweiterte. Insbesondere gab Naef auch der Mundart ihren gebührenden Stellenwert.

Mit dem Umzug in die Stallungen an der Gessnerallee 1991 übernahm Peter Danzeisen die Direktion der Schule und leitete den Fusionsprozess mit den andern Zürcher Kunsthochschulen ein: Auch die Schauspiel-Akademie musste Bologna-konform werden. Heute umfasst die Ausbildung Bachelor- und Masterstudiengänge in allen Schauspielbereichen inklusive Film, Bühnenbild oder Figurenspiel und verfügt auch über Weiterbildungsformate.

Seit 2007 steht das Departement ‹Darstellende Künste› unter der Leitung von Hartmut Wickert, der das mittlerweile grosse Gefährt durch politische Reform- und Finanzstürme steuert. Die ZHdK ist die Adresse in der Schweiz für die professionelle Bühnenausbildung, sei es in Regie, Spiel oder Theaterpädagogik.

www.zhdk.ch, vgl. Genossenschaft Schauspielakademie (SAZ) (1987), vgl. Nickel (2007), S. 42

UdK (Universität der Künste, Berlin)

Bereits in den 1970er-Jahren wurde an der PH Berlin ein Fach Schulspiel angeboten. Innerhalb von zehn Jahren wuchs die Zahl der Absolventen von 30 auf 300 pro Jahr. Zusammen mit einer erstarkenden Kinder- und Jugendtheaterszene – wie Grips oder Rote Grütze –, mit Spielwerkstätten und Lehrertheatergruppen wuchs ein starkes, engagiertes theaterpädagogisches Netz. Mit der Auflösung der PH Berlin 1980 wurde das Fach Schulspiel in die Hochschule der Künste (HdK) als eigenes Institut integriert, gleichzeitig aber auch Schulspiel als eigenes Ausbildungsangebot abgeschafft. Praxisangebote für Lehrpersonen blieben so auf Ferienkurse beschränkt.

Es war Wolfgang Nickel, der in den folgenden Jahren unermüdlich und schliesslich erfolgreich um Akzeptanz und einen eigenen Studiengang kämpfte: 1990 begann der erste Jahrgang mit dem ‹Zusatzstudium Spiel- und Theaterpädagogik›. Ausschlaggebend für den Erfolg war unter anderem der politische Umbruch in Deutschland, der grosses Interesse und neue Studierende brachte.

1993 übernahm Kristin Wardetzky, ehemalige Dramaturgin am Ostberliner ‹Theater der Freundschaft›, die Leitung des Studienganges. Sie brachte neue künstlerische Schwerpunkte wie das ‹Erzählen auf der Bühne› in die Ausbildung und regte erste Rezeptionsforschungen im Kindertheater an.

Seit der Jahrtausendwende leitet Ulrike Hentschel das Institut. Selber Abgängerin des Studiengangs, geht ihre wissenschaftliche und theatrale Suche in Richtung performative Ansätze. Ihre Publikationen sind in theaterpädagogischer Hinsicht profiliert und wegweisend. www.udk-berlin.de

sads (Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel)

Parallel zu den ersten Ausbildungsgängen in Theaterpädagogik an der SAZ kam es zur Gründung der SADS, der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für das Darstellende Spiel (einstmals noch mit dem Zusatz: ‹in der Schule›). Es war der erste lockere Zusammenschluss von Theaterpädagoginnen und Theaterpädagogen und an Schulspiel interessierten Lehrpersonen. Es wurden, zusammen mit der SAZ, Symposien und Weiterbildungen durchgeführt und 1981 erschien die erste ‹Spielpost›, die Wissenswertes, Tipps für den Unterricht, neue Strömungen thematisierte und sich für die Verbreitung theaterpädagogischen Arbeitens stark machte.

Nach Felix Rellstab als Gründungspräsident übernahm schon bald Marcel Gubler, damals Leiter der Beratungsstelle Theaterpädagogik am Pestalozzianum in Zürich, das Präsidium. Er engagierte sich für die Sache auf politischem Terrain, machte sich stark für das Theaterspiel in der Schule, vernetzte spielende Klassen und baute erste internationale Kontakte auf. Zu den Mitgliedern gehörten aber nicht nur Theaterpädagogen, sondern auch Schultheater-Grössen wie Josef Elias, der neue Formen und ästhetische Ansätze ins Schultheater einbrachte, oder Max Huwyler, bekannt für seine witzig-skurrilen sprachspielerischen Minidialoge.

Die SADS lancierte auch thematische Publikationen wie ‹Kleider-Klamotten-Kostüme› oder ‹Musik.Theater. Musik›. Für viele Theaterpädagogen und -pädagoginnen war die SADS erstes und lange Zeit einziges Gefäss des Austauschs, der Weiterentwicklung und der beruflichen Lobbyarbeit.

2004 erschien die letzte Nummer der ‹Spielpost› und die Arbeitsgemeinschaft löste sich auf, u. a. wegen mangelnder finanzieller Unterstützung durch den Bund, sicher aber auch infolge sich verändernder Arbeitsfelder, neuer Strukturen und einem höheren Anspruch an eine berufspolitische Ausrichtung: Gefragt war ein Berufsverband.

assitej (Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche)

Vor der Gründung des tps war die assitej, der Verband der professionellen Kinder- und Jugendtheaterschaffenden der Schweiz, für viele Theaterpädagoginnen und -pädagogen die berufliche Heimat, denn etliche arbeiteten sowohl als Schauspieler im Kinder- und Jugendtheaterbereich als auch als Theaterpädagogen.

Die assitej organisiert alle zwei Jahre das Theaterfestival ‹Spot›, dient als Job-Plattform und Austausch-Netz, lanciert Aktionen zum Tag des Kindes am 20. November und ist eine bewährte Anlaufstelle für gutes, altersadäquates, professionelles Theater für Kinder und Jugendliche. Mehr über ihre Aktivitäten unter: www.assitej.ch


1.2 ZIELE THEATERPÄDAGOGISCHER ARBEIT

Nicht nur die übergeordneten Zielsetzungen sind unterschiedlich und machen wohl auch die Unverwechselbarkeit jedes einzelnen Theaterpädagogen/jeder einzelnen Theaterpädagogin aus. Genauso unterschiedlich sind die ästhetischen Ansätze und theatralen Formen, die zum Tragen kommen. So vielfältig die inszenatorischen Zugänge auf der Profi-Bühne sind, so vielfältig sind sie auch im theaterpädagogischen Bereich: Vom Klassiker zum Zeitstück, von der selbstentwickelten Geschichte zur szenischen Collage, vom Stationenspiel über theatrale Installationen bis zu performativen Formen ist alles zu finden und erlaubt.

Theaterpädagoginnen und -pädagogen arbeiten in einem breiten Segment, mit einer breit gestreuten Klientel und mit unterschiedlichen Ziel- und Prioritätensetzungen. Grundsätzlich ist man sich aber einig, dass theaterpädagogische Arbeit aus pädagogischen und theatralen/künstlerischen Dimensionen besteht, wobei die Gewichtung der beiden Pole recht unterschiedlich sein kann und auch immer wieder Anlass zu Diskussionen und Abgrenzungen gibt. Es sind denn auch meist Behauptungen oder ‹Weltanschauungen›, die aufeinander prallen, denn auf fundiertes ‹Beweismaterial› ist kaum zurückzugreifen. Dazu trägt bei, dass Theaterpädagogik eine junge Disziplin ist, wenn es um Empirie und Forschungsresultate geht. Es gibt erst wenige Untersuchungen etwa zur Nachhaltigkeit oder Wirkung des Spielprozesses. Theaterpädagogik ist noch kaum wissenschaftlich aufbereitet und untersucht.

So basieren die ‹Erfolgsmeldungen› über die ‹Chance Theaterspiel› denn in der Regel auch auf Erfahrungen einzelner Macherinnen und Macher, auf mündlichen Rückmeldungen von Klassen und Lehrpersonen, auf Interviews und Kurzevaluationen mit Beteiligten.

Was Theaterspielen in der Schule bringt:

Auch wenn empirisch nicht belegt, ist sich die ‹Szene› trotzdem einig, dass Theaterpädagogik

–das soziale Gefüge einer Klasse oder Gruppe positiv beeinflussen kann;

–die Chance bietet, sich mit anderem und anderen, mit Fremdem und Fremden, auseinanderzusetzen;

–die Selbst- und Fremdwahrnehmung fördert;

–die Wahrnehmung sensibilisiert und Wachheit und Aufnahmebereitschaft unterstützt;

–teamfähiger macht;

–die Fantasie und die Kreativität anregt;

–Vertrauen in eigene Ideen geben kann und Selbstvertrauen fördert;

–die Auftrittskompetenz und die stimmliche und körperliche Präsenz stärkt;

–die Chance, sich von einer andern Seite zu zeigen, eröffnet;

–Gelegenheit ist, über sich selbst hinaus zu wachsen und Neues zu wagen;

–die Kritikfähigkeit – im Geben und im Nehmen – fördert;

–den sprachlichen Ausdruck schult;

–Empathie ermöglicht;

–Wege der Erprobung von Leben eröffnet;

–immer Spiel bleibt;

–Selbsterfahrung ermöglicht und die Chance birgt, sich auszuprobieren;

–das ästhetische Bewusstsein fördert;

–eine intensive Auseinandersetzung mit sich und der Welt, die einen umgibt, sein kann;

–Menschen an die Kunstform ‹Theater› heranführen kann;

–offener macht, sich dem Leben zu stellen und Courage zu beweisen;

–zu Standpunkten und zum Stellung beziehen herausfordert;

–dazu führt, sich – aktiv und passiv – mit zeitgenössischen Theaterformen auseinander zu setzen. Selbstverständlich soll dieser bunt gemischte Katalog nicht den Eindruck erwecken, als kämen alle aufgeführten Dimensionen der Wirkung stets gleichwertig und im selben Masse zum Tragen.

Die Gewichtung der unterschiedlichen Chancen, die sich mit der Theaterpädagogik verbinden, war und ist von der theaterpädagogischen ‹Epoche› und dem theaterpädagogischen Mainstream bzw. der Entwicklung abhängig. Ziele und Absichten haben sich in den vierzig Jahren, seit Theaterpädagogik ein Beruf ist, verändert und sind ein Stück weit auch Spiegelbild der Entwicklung von Pädagogik und Theater gemeinhin.

Dabei waren die Texte von Hartmut von Hentig für die Theaterpädagogik wichtig – und so sehr seine Thesen nach den Vorkommnissen in der Odenwaldschule heute kritisch reflektiert und wahrgenommen werden müssen, waren sie für die Entwicklung des theaterpädagogischen (Selbst-)Verständnisses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wegleitend. In diesem historischen Kontext sollen sie hier Erwähnung finden.

Hartmut von Hentig hat in seinem Aufsatz zur Bedeutung von Spiel und Theater in der Erziehung die Chancen des Spiels umfassend beschrieben. Deutlich werden die vielfachen Wirkungsmöglichkeiten von Spiel im ‹Verstehenden› und im ‹Gestaltenden› und das Umfassende von Theater, wenn von Hentig von ‹Aneignung der Welt› spricht: «Ich traue mir die Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule zu, in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und Science. Es sind die beiden Grundformen, in denen der Mensch sich die Welt aneignet: subjektive Anverwandlung und objektivierende Feststellung.» (von Hentig (2004), S. 118)

Theater

Das geläufigste Mittel zur Aneignung der Welt ist die Benennung, ist Sprache. Das wirksamste ist es nicht, es ist nicht einmal das ursprünglichste. Ich habe einmal einen Film über Kinder und Kunst gedreht. Ein kleiner Abschnitt davon war einem Experiment gewidmet: Ich habe ein halbes Dutzend Kinder zwischen vier und fünf, im Vorschulalter also, in einen Raum eines Museums gelassen, in dem grosse Renaissance-Bilder mit Darstellungen von mythologischen Begebenheiten, höfischen Szenen und dramatischen Schlachten hingen. Die Kinder wurden gleichsam mit «versteckter Kamera» beobachtet – und allein gelassen. Sie verstreuten sich sofort über den ganzen Raum, betrachteten hin- und hergehend das eine und das andere Bild, und dann, plötzlich, ging dieses Kind auf vier Beinen, reckte sich jenes zum Riesen, zog ein drittes eine schreckliche Grimasse. Wenn man genau hinsah, erkannte man, dass sie ein Tier oder einen Menschen auf dem Bild nachahmten. Ich habe das als ihre Art, sich mit dem Bild bekanntzumachen, als ihre Aneignung des Gegenstandes verstanden, da, wo wir Erwachsenen Zuweisungen vornehmen, Namen und Erklärungen geben.

Das ist ein Feld, von dem ich nicht viel verstehe. Aber vom Theaterspielen verstehe ich etwas und behaupte, dass, wenn ein Mensch einen anderen darzustellen sich bemüht und nicht nur den Schauspieler nachmacht, der diesen spielt, er einen ungeheuren Schritt zur Erweiterung und Vermenschlichung seiner selbst tut. Ja, ich behaupte darum, dass das Theaterspiel eines der machtvollsten Bildungsmittel ist, die wir haben: ein Mittel der Erkundung von Menschen und Schicksalen und ein Mittel der Gestaltung der so gewonnenen Einsicht.

Es ist gut, dass in unseren Bildungsanstalten immer häufiger Theater gespielt wird, wenn auch oft nur, um ein Schulfest mit einem präsentablen Ereignis zu versehen oder um dem von der modernen Didaktik gebotenen sogenannten «Projektansatz» zu genügen. Es müsste umgekehrt sein: Weil Theater wichtig ist, richten wir Projektwochen und zu seiner Aufführung ein Schulfest ein. Dass die Aufführung eines Stückes die Forderung der Ganzheitlichkeit und der Vielseitigkeit der Betätigungen erfüllt, sichert ihr einen wichtigen Platz in der modernen Schule; dass sie die eigentliche Probe auf die Interpretation eines Stückes ist, hätte ihr einen ebensolchen Platz in der alten Schule sichern können; dass sie «bildet» und grosses Vergnügen bereitet, sichert ihr einen festen Platz in unserem Leben und diesen hier auf meiner Liste. Ich traue mir die Einrichtung einer alle Bildungsansprüche befriedigenden Schule zu, in der es nur zwei Sparten von Tätigkeiten gibt: Theater und science. Es sind die beiden Grundformen, in denen der Mensch sich die Welt aneignet: subjektive Anverwandlung und objektivierende Feststellung. So, wie sich das eine auf alle Verhältnisse erstreckt, die sich versachlichen lassen, so das andere auf alles, was sich vermenschlichen lässt. Beide zusammen können alles umfassen, was Menschen erfahren und wollen, können und wissen. Beide haben eine (je andere) versichernde Wirkung und können dadurch zu einer Falle werden – hier die der Verdinglichung aller Verhältnisse, dort die Illusion –, wenn es das jeweils andere nicht gibt. Und beides wird es wohl immer geben. An der einen Gewissheit: dass sich die Menschen weiterhin die Dinge verfügbar zu machen suchen, indem sie Gesetze herausfinden, ist nicht zu zweifeln. Der anderen muss man hingegen nachhelfen: dass es den Menschen gut tut, wo immer sie gesellig vereint sind auch Theater zu spielen, weil es Lust bereitet, frei zu sein, wandelbar, unbelangbar, unberechenbar, Schöpfer seiner selbst und einer eigenen Welt – in eben dem Mass, in dem die gesellschaftliche Entwicklung sie auf Berechenbarkeit festzulegen sucht und in dem das professionelle Theater das Spiel durch Konstruktionen ersetzt. (von Hentig (2004), S. 116 ff.)

Nicht erst die Reformpädagogen des 20. Jahrhunderts, schon Pestalozzi hatte eine Bildung nicht nur für den Kopf, sondern genauso für Hand und Herz gefordert: Spiel braucht sowohl den Körper als ‹sprachlichen› Ausdruck und alle Sinne der Wahrnehmung, Spiel spielt immer auch aus dem ‹Herz›, ist also Emotion, Empfindung, Empathie und Interaktion. Der Begründer der ‹schweizerischen› Theaterpädagogik, Felix Rellstab sowohl auf das ‹Schweizerische› als auch auf die Gründerperson wird zurückzukommen sein – verstand die Theaterpädagogik und das Spiel als Lebens- und Theaterprinzip: Das Leben ein Spiel. Im Zentrum der Theaterpädagogik stehe der einzelne Mensch – im Zusammenleben mit andern. Dieser einzelne Mensch sei ein spielender Mensch. Und jede und jeder könne spielen. (Rellstab (2000), S. 193)

1.3 THEATERPÄDAGOGIK IM SCHULISCHEN UMFELD

Im Folgenden soll die Gesamtbreite theaterpädagogischen Tuns etwas in den Hintergrund gerückt werden zugunsten der schulischen Ausrichtung der Theaterpädagogik; es soll also schwergewichtig um jene Bereiche gehen, die als Möglichkeit im schulischen Alltag Platz finden. Dieser theaterpädagogische Ansatz will Lehrpersonen helfen, theaterpädagogische Formen in den Unterricht einzubringen und die Theaterpädagogik auch als eine Herangehensweise, als ein spielerisch-forschendes Tun und als kreative Möglichkeit zu integrieren: Theaterpädagogik als grundsätzliche Schule der Wahrnehmung.

Es wird mithin schwergewichtig um jene Ansätze gehen, die in den vergangenen Jahren unter Begriffen wie ‹Darstellendes Spiel›, ‹Schulspiel›, ‹Schultheater›, ‹Spiel- und Interaktionspädagogik›, ‹Darstellen und Gestalten› bekannt wurden, ebenso aber auch um neuere schulische Angebote wie ‹Förderung der persönlichen Auftrittskompetenz› und damit um Kompetenzen der Spielleitung bzw. des Spielleiters/der Spielleiterin.

Dabei soll, wenn sinnvoll, auch immer wieder der Bezug zum Theaterschauen, zur Reflexion über Gesehenes, hergestellt werden, denn ‹Wer spielt, schaut anders Theater, wer Theater schaut, spielt anders.› (Lille (2009), S. 14)

Während noch zu Beginn des neuen Jahrtausends die einen (meist engagierte Lehrpersonen oder sozial- und schulinteressierte Theaterpädagogen) in den Schulen Schul-theater machten und die andern (meist Schauspieler oder Theaterpädagogen mit Regieinteresse oder Schauspielambitionen) Theater von und mit Kindern und Jugendlichen machten, die einen also mehr Pädagogik, die andern mehr Kunst im Kopf hatten, so haben sich die Gräben etwas eingeebnet, die Berührungsängste sind abgebaut, der gegenseitige Respekt und auch die Durchlässigkeit sind gewachsen.

Während sich lange Zeit das Kinder- und Jugendtheater von jedweder theaterpädagogischen schulischen Arbeit abgrenzte und den Beruf der Theaterpädagogen und -pädagoginnen kaum – oder nur im Sinne einer Vermittlung von Kunst – wahrnehmen wollte, so haben hier in den letzten zehn Jahren starke Veränderungen stattgefunden.

Das Produzieren bzw. Rezipieren geschieht nicht mehr in zwei Welten, sondern wird nun oftmals verknüpft und befruchtet sich gegenseitig. Auch dies darf wohl als Entwicklungsschritt der letzten 40 Jahre angesehen werden: Dass sich Pädagogik und Theater angenähert und ihre Berührungsängste abgebaut haben. Dass also eine einstmals auf erzieherische Absichten, auf Gruppenprozesse und Persönlichkeitsentwicklung angelegte Theaterpädagogik sich der Ästhetik der Kunst angenähert hat. Umgekehrt sind Schulen und Kinder und Jugendliche ein ernstzunehmendes und spannendes Publikum geworden, das durchaus etwas zu sagen hat und fähig ist, auch mit komplexeren Inhalten umzugehen und selbst imstande ist, theatrale Produkte zu kreieren, die inspiriert und ästhetisch ansprechend sind.


Dabei hat sich der Begriff der Theaterpädagogik nicht nur gefestigt, er hat sich auch verändert: Während zu Beginn als Folge der 68er-Jahre der emanzipatorische Gedanke im Zentrum stand, so geht es heute, nach einer Phase der Fokussierung auf die Persönlichkeitsentwicklung, auf das biografisch Einmalige und Unverwechselbare, mehr um die ästhetische Bildung und die Auftrittskompetenz.

In diesem Sinne liesse sich also sagen: Die heutige Theaterpädagogik sucht in der Formensprache und der Formenvielfalt des zeitgenössischen Theaters. Sie will Theater als offene Form der Darstellung schaffen, ist sich aber der Prozesshaftigkeit bewusst. Sie sucht deshalb auch auf dem Weg der Produktentwicklung die Auseinandersetzung der Beteiligten mit sich selbst, mit den andern und mit der Welt, in der sie alle leben. Persönliche und soziale Prozesse sind zwar nicht mehr zentrales Anliegen, aber als ‹positive Nebenwirkung› und Erfahrung durchaus willkommen. Die heutige Theaterpädagogik geht damit um und darauf ein. Theater ist Mittel und Thematik, ist Form und Sache.

In der Verknüpfung von Rezeption und eigenem Spiel, von Spielprozessen und Theaterprodukten, im Umfassenden von Theater überhaupt geht es letztlich um die Förderung der Wahrnehmung: Theater ist wohl eines der besten Mittel, sich mit Gehörtem, Gefühltem, Empfundenem und Gesehenem auseinanderzusetzen, sei es als Zuschauer/Zuschauerin oder als Spieler/Spielerin. Immer ist es die Auseinandersetzung mit dem konkreten Beispiel, das auffordert, mit allen Sinnen wahrzunehmen und Stellung zu beziehen gegenüber jener Welt, in der man lebt.

1.4 ZUR ENTWICKLUNG DER THEATERPÄDAGOGIK SEIT DEN 1970ER-JAHREN

Wie oben ausgeführt ist die Geschichte der Theaterpädagogik keine linear verlaufende. Es gibt etliche Fäden, aus denen sich jenes Gebilde entwickelt hat, das heute unter dem Begriff Theaterpädagogik existiert.

Der Begriff selbst kam Ende der 1960er/Anfang der 1970er-Jahre im deutschsprachigen Raum auf und ist auch heute noch ein sprachliches Unikat geblieben: Während im französischen Sprachraum von ‹Jeux dramatique› und in Italien von ‹Teatro Educazione› gesprochen wird, heisst es in England ‹Theatre for Developement›, ‹Theatre in Education› oder ‹Drama in Education›. Entsprechend schwierig ist auch die Übersetzung des Berufes: Der Theaterpädagoge ist im englischsprachigen Raum ein ‹Drama-Teacher› und in Frankreich ein ‹Animateur›, was aber die Sache nur ungenau trifft und auch deutlich macht, dass die Berufsvorstellungen je nach kulturellem Hintergrund unterschiedlich sind (Streisand (2010), S. 5).

Die eine Wurzel ist also eine relativ junge und hat ihren Ursprung im deutschsprachigen Raum. Als Folge der 1968er-Jahre, des damit verbundenen ‹Dursts› nach Freiheit und Unabhängigkeit und der Abkehr von allem Bürgerlich-Verknorztem verliessen etliche Schauspielerinnen und Schauspieler die damals verkrusteten und erstarrten Stadtund Staatstheater, schlossen sich in freien Gruppen zusammen oder gründeten die ersten professionellen Kinder- und Jugendtheatergruppen. Diesen ging es mit ihren Stücken für Kinder und Jugendliche in erster Linie um die Emanzipation der nachwachsenden Generation, um politische Bildung also. Es sollte aufgeklärt werden mit dem Ziel, sich von der Fuchtel der konservativen Obrigkeit zu befreien. Es ging um erzieherische Freiheit, um sexuelle Befreiung, um Absage an Kapitalismus und Biederkeit, es ging um die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Strukturen, und dieser ‹Kampf› konnte nicht früh genug beginnen. Der Versuch also, die Macht im Staate zu untergraben, das starre Gefüge zu unterhöhlen, Menschen – und auch Kinder – zu selbstständig denkenden und unabhängig handelnden Personen zu emanzipieren. Der Traum einer freien Gesellschaft: ‹Das hälste ja im Kopf nicht aus›, ‹Was heisst hier Liebe?›, ‹Mensch ich lieb dich doch›, ‹Darüber spricht man nicht›, ‹Stifte haben Köpfe› u. a. waren Klassiker dieses emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters. Da und dort kam es zu Tumulten und erbosten Elternreaktionen nach Schulaufführungen oder gar zu Aufführungsverboten an Schulen.

«Aus den Städten, in die Dörfer!»

Als Folge der 1968er-Jahre verliessen viele Schauspielerinnen und Schauspieler die etablierten Theater. Theater sollte gesellschaftlich und politisch relevanter sein, näher beim Volk. Mit diesem Anspruch wurden auch in der Schweiz die ersten Freien Gruppen gebildet, in den Dörfern und Kleinstädten wurden Keller geweisselt, Scheinwerfer montiert, es entstand ein Netz von Gastspielstätten und von Gruppen wie Claque! oder ‹Innerstadtbühne›. Auf dem Spielplan standen nebst Lehrstücken von Brecht zeitgenössische Autoren wie Kroetz, Handke, Strauss, Schneider, Mrozek u.v.a. Nicht mehr die grossen Helden waren Thema, vielmehr sollte die Situation des ‹Volkes›, der einfachen Leute, zur Sprache kommen. Das gesellschaftlich-soziale und das politische Umfeld standen im Fokus. Dabei wandelte sich auch die Sprache: Autoren schauten dem Volk auf Maul. Dialekte oder dialektal gefärbte Sprache hielt Einzug, die Sprachlosigkeit war Thema, das sprachliche Stolpern und Stottern, das Fluchen und Schweigen.

Parallel dazu forderten die Theaterschaffenden nicht nur Nähe zum Volk (Kunst für alle), gefordert wurde auch Nähe zu Schule und Schülern.

1973 fand so z. B. das 14. Aargauer Gespräch der Kultur-Stiftung Pro Argovia statt, «auf dem die grundlegend neue Bedeutung des Darstellenden Spiels an den Aargauer Schulen – aber nicht nur in diesem Kanton – mit Nachdruck ins Gespräch gebracht wurde. Der Präsident der Pro Argovia, Albert Hauser, formulierte damals die Aufgabe der Tagung so: «Der Imperativ dieser Tagung, das ist ein kategorischer Imperativ, der heisst, wann, wo, wie kann auch im Aargau Schultheater, gutes Schultheater, realisiert werden.» (Streisand u.a. (2007), S. 51 f.)

Aus dieser Tagung resultierte die Gründung einer Schultheaterkommission und einer Beratungsstelle, die noch heute aktiv ist. Theaterleute wie Jean Grädel und Peter Schweiger waren in dieser eigentlichen Geburtsstunde dabei und massgeblich an der Ausgestaltung der ersten Grundkonzepte für eine Theaterpädagogik in der Schule mitverantwortlich (vgl. Streisand (2007), S. 53). Umgekehrt beeinflussten theaterpädagogische Arbeitsansätze auch die Stadttheater: Regisseure wie Marthaler oder Häusermann hatten vor ihren ‹Stadttheaterkarrieren› oft mit Laienspielern oder Laien-Profi-Gruppen gearbeitet und dort Improvisationstechniken und kollektive Stückentwicklungen erforscht und erprobt. Auch Gruppen wie ‹Rimini-Protokoll› entwickeln ihre Konzepte mit theaterpädagogischem Hintergrund bzw. machen theaterpädagogische Arbeitsformen zu ihrem eigentlichen Markenzeichen.

Im Umfeld dieser Theaterarbeit wurde auch mit Jugendlichen und Kindern in Freizeitzentren und Quartieraktionen Theater erarbeitet und wurden Inszenierungen entwickelt, meist mit klar politisch-emanzipatorischer Absicht (Weintz (2008), S. 279 ff.). Es ging um neue, offenere Formen der Kommunikation, es ging um selbstgesteuertes Lernen, um Autonomie, um interaktives Geschehen, um Entwicklung im Kollektiv. «Neben der neuen freien Theaterszene, die sicherlich grossen Einfluss auf die Lust am Theater heute hat, ist aber das Bedürfnis von Pädagogen, Psychologen und andern in helfenden Berufen Tätigen nicht zu vergessen; ihr Ziel ist es, ganzheitliche Selbsterfahrung, kreative Gruppenarbeit und politische Bildung zu verknüpfen.» (Ehlert (1986), S. 11, vgl. auch Lenakakis (2004), S. 40 f. und Weintz (2008), S. 279)

Offener bzw. theaternäher formulierte es Rellstab in seinem kurz vor seinem Tod noch in Bearbeitung stehenden Band über Theaterpädagogik:

Ausrichtung

Im Zentrum der Theaterpädagogik steht der einzelne Mensch – im Zusammenleben mit anderen. Dieser einzelne Mensch ist ein spielender Mensch. Die Theaterpädagogik erkennt alle Menschen als Spieler. Jede und jeder kann Theater spielen.

Theaterspielende spielen mit sich – mit anderen – für andere. Diese dreifache Ausrichtung stellt der Theaterpädagogik eine dreifache Entwicklungsaufgabe:

1.der individuellen Gaben und Lebensäusserungen,

2.der Interaktion – des Zusammenspiels von Einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen – zwecks Integration ins gesellschaftliche Ganze und zur Erhöhung der sozialen Kompetenz,

3.der Ausdruckskraft von Körper, Stimme und Sprache und des zielgerichteten Handelns aufgrund von fiktiven Annahmen zur ausdrucksstarken Darstellung vor anderen.

Inhalte

Theaterpädagogik ist betont inhaltlich – nicht formal oder formell – ausgerichtet. Sie beschäftigt sich mit existenziellen Themen der Spielerinnen und Spieler: Geburt und Werden, Liebe und Tod, Macht und Ohnmacht – wie das Theater. Sie greift aktuelle soziale Themen auf: Desintegration der Randständigen und der kulturell und sprachlich Fremden, Arbeitslosigkeit, Suchtverhalten, Sektenwesen, Verunsicherung durch Virtualität, Passivität, Orientierungsverlust und Resignation. Theaterpädagogik entwickelt das Wahrnehmen mit allen Sinnen – aber auch der ‹verborgenen› Sinne für Bewegung und für Gefühle. Sie macht Erinnerungen zugänglich und schafft Zugänge zum unbekannten Ich.

Theaterpädagogik schafft vertraute Beziehung zu Menschen in der Nähe, zu einem Ort, zum Umfeld, zur eigenen Lage, schafft Verwurzelung und Übersicht.

Rellstab (2000), S. 193 ff.

Das Theaterspiel als Alternative zu Frontalunterricht und Einwegkommunikation schien jedenfalls zu funktionieren, Schüler und Schülerinnen sprachen auf das Medium genauso an wie Lehrpersonen. Es entwickelte sich ein Bedürfnis nach Aus- und Weiterbildung, Theater sollte in den Unterricht integriert werden. Spiel im Unterricht boomte, Interessierte schlossen sich zusammen, Pädagogen kämpften auf der bildungspolitischen Ebene für ein Fach ‹Darstellendes Spiel›. Nicht zufällig wurde der Begriff ‹Theater› eher ausgeklammert: Im Zentrum stand das Spiel an sich, der (soziale) Prozess.

Der Theaterpädagoge, der Spielprozesse interaktiv begleitete, statt Inszenierungen gestreng zu leiten oder selbstherrlich Regie zu führen, war der eigentliche Grundgedanke und die Zielsetzung der damaligen Theaterpädagogik. Dabei gerieten die Aufführungen selbst mehr und mehr in den Hintergrund, das Produkt wurde zweitrangig, der Prozess der kollektiven Entwicklung und des Miteinanders war wichtiger. Darin spiegeln sich die gesellschaftlichen Grundhaltungen und der emanzipatorische Ansatz.

Parallel zu den Veränderungen in pädagogischen Ansätzen, Ausrichtungen und Methoden entwickelte sich eine Spiel- und Theaterpädagogik, die Einzug in die Lehrerbildung und die Freizeitgestaltung hatte und in Deutschland schon bald auf Initiative und unter Leitung von Hans-Wolfgang Nickel zu einem Ausbildungszweig ‹Spiel-, Interaktions- und Theaterpädagogik› an der Hochschule der Künste in Berlin führte.

In der Schweiz wurde zu Beginn der 70er-Jahre an der Schauspielakademie Zürich eine neue Abteilung ‹Theaterpädagogik› gegründet. Dem damaligen Direktor, Felix Rellstab, kam dabei eine federführende und für das Berufsbild prägende Bedeutung zu. Sein Verdienst ist, dass die Theaterpädagogik nicht mehrheitlich oder gar allein pädagogisch motiviert und orientiert war, sondern sich insbesondere am Können des Schauspielers und Regisseurs orientierte. Rellstab proklamierte (und realisierte) eine spezifisch theaternahe theaterpädagogische Ausbildung: Theaterpädagogen und -pädagoginnen sollten spielen und Regie führen können, sie sollten selber spielende und zum Spiel animierende Menschen sein.

‹Gründerväter›

Wolfgang Nickel in Berlin und Felix Rellstab in Zürch waren die beiden wegweisenden Initiatoren, die mit der Lancierung einer professionellen Theaterpädagogik-Ausbildung viel zur Entwicklung beitrugen. Entsprechend ihrer Herkunft – Nickel aus der Pädagogik und der Kunstgeschichte, Rellstab aus dem Schauspiel – erhielten auch die Ausbildungsgänge unterschiedliche Gewichtungen und Prägungen. Während für Nickel das Forschende und Analytische im Vordergrund stand, war für Rellstab der Theaterpädagoge als spielender Mensch mit den entsprechenden schauspielerischen Fähig- und Fertigkeiten zentral.

Dr. phil. Wolfgang Nickel (1933) studierte Theaterwissenschaften, Pädagogik, Kulturgeschichte und Germanistik. Er war einige Jahre selber als Lehrer tätig, gründete 1959 die Berliner Lehrerbühne und war ab 1964 Dozent an der PH Berlin, wo er das Fach Schulspiel lancierte. Er baute das Institut für Spiel- und Theaterpädagogik an der Hochschule der Künste auf und leitete das Institut bis 1993. Heute ist der Lehrgang Theaterpädagogik der Universität der Künste angegliedert. Nickel war Wegbereiter des Faches ‹Darstellendes Spiel› und unermüdlicher wissenschaftlicher Erforscher des kindlichen (und theatralen) Spiels.

Felix Rellstab (1924 – 1999) war ausgebildeter Schauspieler und Regisseur. 1948 – 50 arbeitete er als Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, 1965 war er Mitbegründer des Theaters am Neumarkt, das er bis 1971 leitete. Bereits 1960 übernahm er die Leitung des Bühnenstudios und baute den Ausbildungsgang sukzessive zur Schauspiel-Akademie Zürich mit 3-jährigen Ausbildungsgängen in ‹Schauspiel› und ‹Regie› aus. 1973 startete auf seine Initiative der erste Ausbildungsgang in Theaterpädagogik. Seither haben jährlich rund vier Theaterpädagogen und -pädagoginnen die Ausbildung, heute an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), absolviert.

Rellstab blieb bis 1991 Direktor der Schauspiel-Akademie und war noch mit der Planung des neuen Standortes in den Stallungen der Gessnerallee betraut. Zu seinen Initiativen gehörte auch die Gründung des Kinder- und Jugendtheaters Zürich (kitz). Erfolgreich war er auch als Publizist mit seinen Schriften zu Schauspiel und Theater (Reihe schau-spiel).

Für Rellstab standen also ‹Theater› und ‹eigenes Spiel› im Vordergrund, während sich Nickel schwergewichtig für die spielpädagogischen Ansätze und die Interaktionsprozesse interessierte – Ersterer kam ja auch vom Schauspiel, der Letztere von der Pädagogik. So war bei Rellstab wenig erstaunlich, dass zur theaterpädagogischen Ausbildung weniger Pädagogik, dafür die Auseinandersetzung mit jenen ‹Lehrmeistern› gehörte, die sich mit schauspielerischen Prozessen befasst und die Funktion des Theaterspiels zum Thema ihrer Untersuchungen und Forschungen gemacht hatten.

1.5 DIE GROSSEN LEHRMEISTER

Als weitere Basis theaterpädagogischen Handelns sind also all jene Lehrmeister und Theaterreformer zu sehen, die sich mit der Schauspielkunst an sich auseinandersetzten, d.h. mit der Frage, wie Spiel funktioniert, was der Schauspieler können muss, wie ein Spielprozess zu entschlüsseln wäre, bis hin zur Frage, was zwischen Bühne und Zuschauer passiert, wie sich der Theaterbesucher mit Figuren und Handlungen identifiziert und wie diese Interaktion zu gestalten, zu bedienen oder zu brechen wäre.

Zu dieser Reihe von Schauspiel-Analytikern und meist auch Leitern von Schauspielschulen gehören insbesondere der Russe Konstantin S. Stanislavski (1863 – 1938), der Deutsche Bertolt Brecht (1898 –1956), der Pole Jerzy Grotowski 1933 – 1999) und der Brasilianer Augusto Boal (1931 – 2009) (vgl. Ehlert (1986), S. 9 ff.).

Konstantin Sergejewitsch Stanislawski

Stanislawski wurde 1863 geboren. Nach Theater- und Gesangsunterricht arbeitete er als Schauspieler und Regisseur und gründete 1898 das Moskauer Künstlertheater. Dort erreichte Stanislawski mit seinen naturalistischen Inszenierungen einen Grad an illusionistischer Perfektion, wie er bis dahin an keinem andern Theater je erreicht worden war. Zu diesem Eindruck trug vor allem die Geschlossenheit der Ensembleleistung (inklusive Bühnenbild, Lichttechnik, Musik etc.) bei. (Ehlert (1986), S. 13)

Für Stanislawski stand der Schauspieler im Zentrum. Stanislawski untersuchte die Spielprozesse und lotete den Zwischenraum zwischen ‹erleben› und ‹darstellen› aus. Von ihm stammen Begriffe wie ‹als ob› oder ‹Subtext›; er schrieb Abhandlungen darüber, wie der Schauspieler zur ‹Verkörperung› einer Rolle kam und entwickelte etliche Übungen, die es dem Schauspieler ermöglichen sollten, sich mit einer Figur zu identifizieren und emotionale Prozesse spielerisch umzusetzen und für die Intensität einer Rolle nutzbar zu machen. Stanislawski ist noch heute Basislektüre für Schauspielerinnen und -spieler und vermag Spielprozesse zu erhellen. Damit Handlungen und darunterliegende Gefühle nicht bloss dargestellt werden, braucht es seiner Ansicht nach emotionale, geistige und körperliche Trainings, um den gewünschten Effekt der Betroffenheit, der Glaubwürdigkeit zu erreichen. Stanislawski entwickelte so die Einstimmungsübungen und Schauspieltrainings für Geist, Psyche, Stimme und Körper, die immer noch Basis der Schauspielausbildung sind und zur Vorbereitung auf Vorstellungen genutzt werden. Stanislawski verstarb 1938.

Bertolt Brecht

Brecht wurde 1898 in Augsburg als Sohn eines Papierfabrikdirektors geboren. Schon als Student an der Philosophischen Fakultät in München verfasste er seine ersten Stücke, die ihn später weltberühmt machten. Vor Beginn des 2. Weltkrieges verliess er Deutschland und ging in die USA. 1948 kehrte er über die Schweiz zurück nach Ostberlin. Brecht war überzeugter Kommunist, seine Stücke befassen sich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie handeln von Macht und Ohnmacht, von Volk und Herrschern, von Arbeitgebern und Arbeitern. 1949 gründete er das ‹Berliner Ensemble› und reiste mit seinen Stücken rund um wie Welt. Brecht starb 1956 in Ostberlin.

Brecht verfasste aber nicht nur Stücke, er untersuchte auch das Schauspiel an sich: Theater sollte auf die Zuschauer wirken, sollte Denkprozesse auslösen, sollte Haltungen und Handlungen durchschaubar, nachvollziehbar machen. Seine Vorstellungen eines ‹epischen› Theaters lassen sich nach Ehlert so zusammenfassen (Ehlert (1986), S. 22 f.):

–Distanz zwischen Schauspieler und Rolle, Sichtbarmachen der zweifachen Existenz als Spieler und als Figur.

–Erzählen der Handlung (Episieren), Demonstrieren von Verhalten und von Beziehungen zwischen Personen von einem gesellschaftskritischen Standpunkt aus, Kommentieren und Beurteilen von Handlungen und Handlungsweisen.

–Deutliche Trennung der ästhetischen Ebenen (Darstellung, Kommentar, Lesung) Brechts Intention war also, dass der Zuschauer als denkender Mensch betrachtet wird, der die Dinge analysieren, durchschauen, begreifen kann. Der Zuschauer sollte nicht in Gefühlswelten einsinken, sondern sachlich den Gang der Welt verstehen und zum handelnden Subjekt werden. Es sollte eine suchend-kritische Distanz sowohl der Spielenden als auch der Zuschauenden vorherrschen. Hierzu diente Brecht der V-Effekt, der Verfremdungseffekt, der eine untersuchende Distanz zu den Figuren und ihren Handlungen herstellt.

Seine theoretischen Ansätze über das Theater hielt Brecht 1948 im «Kleinen Organon für das Theater» fest. Relevant für das theaterpädagogische Schaffen sind vor allem seine Lehrstücke und der Verfremdungseffekt:

–Brechts Lehrstücke zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine veränderbare Welt zeigen: «Theater konstituiert sich als experimenteller Ort, der zu eigenverantwortlichem Denken und Handeln aufruft und auf die Veränderung der sozialen Verhältnisse zielt» (Naumann (2003), S. 53). Das Lehrstück ist ein theaterpädagogischer Spieltyp mit Musik. Dabei wird die Trennung in Spieler und Zuschauer aufgehoben. Der Zuschauer ist Teil des Geschehens, bestimmt mit. «Das Lehrstück lehrt dadurch, dass es gespielt, nicht dadurch, dass es gesehen wird.» (Steinweg (1976), S. 181). Lehrstücke wurden denn auch oft in der Jugendarbeit eingesetzt: Über den eigenen Spielprozess werden gesellschaftliche Dynamiken erst richtig erkennbar und dadurch auch veränderbar. Es geht also um den Erwerb von Handlungskompetenz. Das Ziel ist immer ein pädagogisch-politisches, verbunden mit der Entwicklung eines Lernzusammenhangs von Erlebnis, Reflexion, Theorie und Praxis. Mittel zu dieser Erfahrung war und ist oft der Rollentausch: In der Übernahme anderer, unterschiedlicher Positionen und Perspektiven können eigene Standpunkte hinterfragt und weiter entwickelt werden.

–Reflexive Distanz zum eigenen Verhalten zu schaffen war für Brecht ein wichtiges Anliegen. In diesem Sinne ist auch der Verfremdungseffekt zu sehen: Distanz schaffen zur theatralen Situation mittels Heraustreten aus der Rolle, sich direkt an das Publikum wenden, Elemente der Erklärung (Aufklärung), sprechchorische Einlagen, Songs, die die Handlung kommentieren können, Abstraktion des Geschehens durch Überzeichnung.

Sowohl mit seinen theaterpädagogischen Überlegungen als auch mit Lehrstücken und dem ‹epischen Theater› hat Brecht mit seinem analytischen Ansatz zu einer differenzierteren Wahrnehmung von Spielprozessen und zum Weg aus einer diffusen Gefühligkeit zu durchschaubaren und nachvollziehbaren Handlungsabläufen beigetragen: Das Verhalten – nicht nur auf der Bühne – verändert den Prozess und dadurch die Handlung und deren Ausgang.

Jerzy Grotowski

In gewissem Sinne dem brechtschen Ansatz gänzlich entgegensetzt ist jener von Grotowski. Grotowski, 1933 in Polen geboren, übernahm nach Abschluss seiner Schauspielausbildung in Krakau 1959 das Theater ‹13 Reihen› und baute es in den folgenden Jahren zu seinem Theaterlaboratorium für experimentelles Theater aus. 1965 wird die Bühne unter dem Namen ‹Laboratorium der 13 Reihen› nach Wroclaw/Breslau verlegt.

Bis zu seinem Tod 1999 war Grotowski auf der ganzen Welt unterwegs und arbeitete in Workshops und Inszenierungen mit Schauspielern in seiner eigenen Weise. Grotowskis ‹armes Theater› wurde dabei insbesondere auch für in den 70ern und 80ern entstehende Freie Gruppen zum grossen Vorbild.

Grotowskis Definition des Theaters reduzierte das Bühnengeschehen auf das, was sich zwischen Schauspieler und Zuschauer abspielte. Alles andere seien Zusätze, die nicht unbedingt erforderlich seien. Unter Zusätzen verstand er Bühnenbild, Kostüme, Maske, Text, Licht, Musik (Ehlert (1986), S. 30). Er plädierte für ein Theater, in dem nur Schauspieler – in ihrer Strassenkleidung – und die Zuschauer da waren, für ein ‹asketisches Theater› also.

Auch in der Arbeitsweise mit seinen Schauspielern und Schauspielschülern war Grotowskis Ansatz radikal: Im Zentrum der Arbeit standen Stimm- und Sprecharbeit, Körpertraining und die Improvisation als Training der Fantasie und des Denkens. Grotowski suchte eine innere Leere, in der etwas Neues, Eigenes, Eigenständiges entstehen konnte. Am wichtigsten war ihm aber die Beziehung zu den einzelnen Spielenden und zur Gruppe. Es sollte die Individualität jedes Einzelnen hervorgehoben und diese zu seinem urtümlichen Werkzeug werden. Der Spieler sollte sich nicht hinter Tricks und Maskerade verstecken, vielmehr sollte es um ein sich Öffnen gehen, um das Zulassen von Emotion. «Der Spieler soll in einem [gleichzeitig] Schöpfer, Modell und Schöpfung sein» (Grotowski (1970), S. 239) und einen seelischen Vorgang nicht illustrieren, sondern ihn mit seinem Körper und seinem Wesen vollziehen: «Er muss sich hingeben, nicht zurückhalten, sich öffnen, sich nicht vor den andern verschliessen.» (Grotowski (1970), S. 123)

Wichtig war also, dass sich der Schauspieler nicht einen Zaubersack voller Tricks aneignete, sondern offen war für ein «inneres Reifen» (vgl. Grotowski (1970), S. 14). Grotowskis Arbeitsweise, die in den 1980er-Jahren Kult war, näherte sich im Laufe der Zeit auch therapeutischen Formen von Selbst- und Körpererfahrung an.

Auch die Beziehung zwischen Regisseur und Spieler sollte gezeichnet sein von gegenseitiger Offenheit, und zwar als Wechselbeziehung, von der beide Seiten profitieren, voneinander lernen und sich inspirieren lassen sollten, mit der Achtung vor der Autonomie des andern.

Grotowskis ‹Vermächtnis› für die Theaterpädagogik liegt vor allem im Verständnis, dass sich der Spieler/die Spielerin ganzheitlich, also mit Körper, Seele und Geist in das Spiel einbringt, um dadurch den Prozess des Theatermachens in Gang zu setzen. Weiter gab er auch der Spielleitung bzw. der Beziehung und der Interaktion zwischen Regie und Spieler ein neues Gewicht und eine entscheidendere, prägendere Bedeutung.

Die Impulse, die von Grotowski ausgingen, prägten auch Theaterschaffende wie Augusto Boal oder Peter Brook und viele andere Regisseure des zeitgenössischen Theaters, wenngleich seine Methoden heute nicht mehr in der ursprünglichen Radikalität eingefordert werden. «Die Substanz des Mediums Theater ist der Schauspieler, seine Aktionen und was er durch sie bewirken kann.» (Grotowski (1966), o.S., zit. nach Ehlert (1986), S. 31)



Augusto Boal

Augusto Boal wurde 1931 in Rio de Janeiro geboren. Nach Studien der Chemie und Theaterwissenschaft gründete der erst 25-Jährige ein eigenes Theater in Brasilien. Es war die Zeit der politischen Liberalisierung und vieler staatlicher und kirchlicher Alphabetisierungsprogramme.

Die zugleich als Politisierung verstandene Alphabetisierung stützte sich vor allem auf Ansätze des Pädagogen Paulo Freire: «Lernen ist nicht das Fressen fremden Wissens, sondern die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation als Problem und die Lösung dieses Problems in Reflexion und Aktion.» (Zit. nach Ehlert (1986), S. 34). Lernen wird also nicht als Eintrichtern, sondern als Problematisieren verstanden.

Boals ‹Teatro de Arena› arbeitete eng mit Alphabetisierungsgruppen zusammen, versuchte mit Stücken, die die Lage der Landbevölkerung thematisierten, Aufklärung zu betreiben und durch die Konfrontation der Bevölkerung mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Lage Fortschritt zu bewirken.

Bis zur politischen Trendwende 1964 multiplizierte sich Boals Idee: viele Gruppen waren in ganz Brasilien unterwegs. Theater sollten nicht Vergnügungstempel sein, sondern Orte der Reflexion und des Lernens, ganz im Sinne Brechts.

Die Zensur verbot in der Folge der politischen Umwälzungen nach den Jahren der ‹Kubaisierung› Boals bisherige Theaterarbeit; erlaubt waren nurmehr Klassikerinszenierungen ohne jeglichen politischen Gehalt. Boal suchte als Reaktion nach Formen der Vereinfachung von Bühnenbild und Kostümen, nach Möglichkeiten, ohne grossen Aufwand Spiele irgendwo zu etablieren und Fragen aufzugreifen. Er suchte nach Formen hoher aktiver Beteiligung des Publikums, das den Fortgang der Handlung mitbestimmen und in das Geschehen aktiv eingreifen konnte.

1971 wurde Boal von der brasilianischen Geheimpolizei verhaftet und verschleppt und erst auf internationalen Druck hin wieder frei gelassen. Boal verliess darauf das Land und lebte bis 1986 im Exil, zuerst in Argentinien, später in Portugal und schliesslich in Paris, wo er an der Sorbonne einen eigenen Lehrstuhl erhielt. 2009 starb er in Rio de Janeiro.

Boals ‹Theater der Unterdrückten› wie auch die später entwickelten Formen – vom ‹unsichtbaren Theater› oder ‹Statuentheater› bis hin zum ‹Forumtheater› – sind Antworten auf die repressive Politik in Lateinamerika. Boal wollte Bauern und Arbeiter aufklären, verändern und in ihren Autonomiebestrebungen unterstützen.

Die von Boal entwickelten Arbeitstechniken sind theaterpädagogisch relevant: Oft wird über das Bauen von Statuen gearbeitet; das ‹Freeze› – das Einfrieren und das Stellen von Gruppenbildern – zählt zu den häufigen Arbeitsformen und Techniken, um Wahrnehmung zu schulen, und zwar sowohl die Selbstwahrnehmung über Körperhaltungen als auch die Ausseninterpretation von Wirkungen und Situationen.

Insbesondere im Jugendtheaterbereich ist Forumtheater auch heute noch eine gängige Form: Eine Szene wird dem Publikum in einer ersten Variante vorgespielt; in der Regel endet sie in der grösstmöglichen Katastrophe. Nun lässt der Spielleiter die Szene wiederholen und fordert das Publikum auf, die Szene dort zu unterbrechen, wo eine Veränderung des Verhaltens des (bzw. eines) Protagonisten gewünscht wird. Der Zuschauer/die Zuschauerin klatscht an dieser Stelle und beeinflusst über Verhaltensbeschreibungen via Spielleiter den weiteren Verlauf der Szene. Mit der Zeit sollen die Zuschauenden auch selber die Rollen auf der Bühne übernehmen und so agieren, wie sie es sich vorstellen. Immer wieder kann so über Verhaltensveränderungen der Figuren der Verlauf, die Entwicklung einer Szene variiert und in ihrer Auswirkung überprüft werden. Forumtheater ist dabei nicht nur für die Zuschauenden eine gute Möglichkeit der Wahrnehmung und der ‹Regieführung›, sondern auch eine gute Übung für die Spielenden, Anweisungen spontan und präzise im Spiel umzusetzen.

Theaterpädagogisch relevant ist Boals Ansatz aber nicht nur hinsichtlich der relativ strikten Spielformen, sondern auch des gemeinsamen Entwickelns einer Handlung, der Überprüfung dieses Handlungsverlaufs im steten Dialog, in der Diskussion der möglichen Konsequenzen. Boals Haltung ist also auch eine pädagogische, demokratische und gemeinschaftsbildende Arbeitsweise.

Lee Strasberg

1901 in den USA geboren absolvierte Strasberg seine Schauspielausbildung am American Laboratory Theatre. Bis 1937 war er Coleiter und Mitglied des Group Theatre, dann zog er nach Hollywood. Ab 1951 war er Leiter des Actor›s Studio in New York. Später gründete er weitere Ausbildungsstätten in Los Angeles. Strasberg starb 1982.

Strasberg und sein Actors Studio waren für ganze Generationen von amerikanischen (Film-)Schauspielerinnen und Schauspielern prägend. Seine berühmte Methode – ‹The Method› – wurde zur Grundlage etlicher Schauspielschulen weltweit. Strasberg berief sich in seinem Ansatz stark auf Stanislawski: Die Gefühlswelt der Figur sollte sich eng mit dem Schauspieler verbinden. Mithilfe der Aktivierung des affektiven Gedächtnisses und ausgehend von persönlich Erlebtem entsteht Echtheit der Gefühle. Der Schauspieler nähert sich also über eigene Grundempfindungen, über Erlebtes und Erfahrenes einer Figur und füllt diese mit sich selber aus: Der Spieler ist nicht die Figur, aber er füllt sie mit sich. So gelingt ihm auch die notwendige innere Distanz zum Handeln der Figur und er behält die Distanz zur Reflexion seines Tuns.


Keith Johnstone

Mit seinen Improvisationstechniken und insbesondere auch mit seiner Arbeit mit Jugendlichen hat Johnstone viele Theaterpädagogen geprägt. Johnstone wurde 1933 geboren, war Theaterautor und Schauspiellehrer und von 1956 – 66 Leiter der Autorenwerkstatt am Royal Court Theater und damit Förderer vieler grosser Autoren wie Edward Bond oder Arnold Wesker. In späteren Jahren lehrte er an etlichen Schauspielschulen Europas, bevor er einen Lehrstuhl in Calgary, Kanada, übernahm.

Johnstone entwickelte neue Improvisationsformen wie ‹Theatersport› und machte sich stark für ein Theater, das die Kluft zwischen Bühne und Zuschauer überwinden sollte. Er kämpfte für eine Öffnung der Theater nach aussen, für grösseren Gesellschaftsbezug und eine stärkere Verknüpfung von Existenzfragen mit dem Schauspiel und damit für einen höheren Gegenwartsbezug und grösseres Realitätsbewusstsein. Vor allem ging es ihm auch um Spontaneität und das Zulassen der Fantasie: «Viele Schüler blockieren ihre Phantasie, weil sie Angst haben, nicht originell zu sein. Sie glauben genau zu wissen, was Originalität ist […].» (Johnstone (2000), S. 148) Dies ist der Kern von Johnstones Lehre: «Schalte den verneinenden Intellekt aus, und heisse das Unbewusste als Freund willkommen. Es wird dich an Orte führen, die du dir nicht hast träumen lassen und es wird Dinge hervorbringen, die origineller sind als alles, was du erreichen könntest, wenn du Originalität anstrebst.» (Wardle (2000) Johnstones Improvisationsbezug ging zudem stark vom ‹Spielmaterial› aus, das jeder Mensch mit sich trägt und einbringen kann: Eigene Geschichten und Erlebnisse, Alltägliches, Begegnungen aus dem Hier und Jetzt. Man soll also nicht weit hergeholte Figuren zu spielen suchen, sondern bleibe mit den Themen und Figuren nahe der eigenen Welt. Der Alltag ist voll von spannenden Geschichten und Begegnungen.

1.6 DRAMA IN EDUCATION ODER: VOM ENGLISCHEN SELBSTVERSTÄNDNIS

Neben den genannten Lehrmeistern, die vor allem schauspielerische Vorgänge untersuchten und dadurch viel für das Verständnis von Spielprozessen beitrugen, entwickelten sich auch neue Arbeitsfelder, in denen professionelle Theaterleute mit Kindern und Jugendlichen im schulischen oder ausserschulischen Bereich arbeiteten. Eine Vorreiterrolle übernahm England, wo sich bereits in den 1950er-Jahren das ‹Drama in Education› als methodisches Prinzip entwickelte und sich über Skandinavien und die Niederlande auch im deutschsprachigen Raum etablierte. ‹Drama in education› hat – im Gegensatz zu ‹drama education› – nichts mit der klassischen dramatischen Literatur und deren szenischer Umsetzung zu tun. Mit ‹Drama in Education› wird vielmehr ein Arbeitsprinzip umschrieben, das mittels eigenen Theaterspiels soziale Realitäten untersuchen, hinterfragen und über Spielprozesse auch beeinflussen will. Ursprünglich arbeiteten Theaterpädagogen – drama teacher – mit Schülerinnen und Schülern einer Klasse im Rahmen von ‹als-ob› -Situationen an der Bewusstwerdung der sozialen und gesellschaftlichen Rollen. Später weitete sich der Begriff aus; er umfasst heute interaktives Spiel auf allen Ebenen von Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung. Das Ziel ist aber immer noch der subjektive Erkenntnisgewinn. Es geht um Sozialkompetenz und Teamfähigkeit. Im Mittelpunkt steht das interaktive Spiel der Teilnehmenden an sich und nicht die Entwicklung einer Theateraufführung. In den vergangenen Jahren haben dabei auch immer breiter gefasste Themen Einzug gehalten, sodass unter dem Begriff nun die gesamte Theatralisierung von Lehr- und Lernprozessen subsummiert werden kann. ‹Drama in education› kann also in unterschiedlichen Fächern als Methode zum Einsatz kommen. Ziel ist aber stets die Bewusstwerdung und Reflexion von (Rollen-)Verhalten in bestimmten Situationen oder hinsichtlich bestimmter gesellschaftlicher Haltungen. Es geht um die Wahrnehmung zwischenmenschlichen Verhaltens und eventuell daraus folgende Verhaltensänderungen. Dabei beschäftigen sich die Teilnehmenden «[…] nicht nur mit dem Inhalt des Geschehens, sondern insbesondere mit körperlichen, gestischen und mimischen Interaktionen und dem emotionalen Verhalten in diesen Situationen. Somit werden Wahrnehmungen und Erfahrungen der beteiligten Subjekte nicht ignoriert, sondern bewusst aktiviert und konkret in den Erkenntnisprozess einbezogen. Über diesen Weg kann gelernt werden, den eigenen Standpunkt zu vertreten oder zu modifizieren und zu verstehen, wie ein soziales Miteinander aussehen und verbessert werden kann.» (Göhmann (2003), S. 81)

Die Problematik von ‹Drama in Education› liegt vermutlich darin, dass allzu deutliche Hinweise auf wünschenswerte Verhaltensänderungen Einzelner oder ganzer Gruppen auch zu Verweigerung und einer ‹jetzt-erst-recht› -Haltung führen und dadurch kontraproduktiv wirken können.

Neben ‹Drama in Education› existieren im englischsprachigen Raum auch noch die Begriffe ‹Theatre education›, was in etwa dem deutschsprachigen ‹Theaterpädagogik› entspricht und als Oberbegriff verstanden werden kann, sowie ‹Theatre in education›, womit Theateraufführungen von Profis im Schulhaus oder Klassenzimmer gemeint sind.

1.7 LAIENSPIEL UND SCHULSPIEL

Als für ein heutiges Verständnis wichtige Quelle der Theaterpädagogik lassen sich auch die Geschichte des Schulspiels und – ausserschulisch und mit dem Laienspiel verbunden – das religiöse Spiel als wesentliche Faktoren für die Entwicklung nennen: Kirchliche Feiern waren und sind oft verbunden mit Schauspielen und ritualisierten Formen von Aufführungen; angefangen bei (Oster-)Prozessionen über ‹Tableaux vivants› und weihnächtliche Stationenspiele bis hin zu Krippenspielen oder der Darstellung religiöser Zusammenhänge und Geschehnisse. Die theatrale Tradition im religiösen Kontext ist lang und oft ein erster Berührungspunkt von Kindern und Jugendlichen mit dem Medium Spiel.

Parallel dazu entwickelte sich seit dem Mittelalter auch ein Schulspiel mit öffentlichen Aufführungen und oft grossen Besetzungen: für Jubiläen und Feiern zeigte die Schule als Gemeinschaftsarbeit Sing- und Festspiele. Bereits 1925 wurden erste Forderungen nach curricularer Verankerung des Darstellenden Spiels als Fach ‹Schulbühne› laut. (Hesse (2008), S. 39)

Das Thema blieb im Gespräch, insbesondere auch im Rahmen der Reformbewegung und der Kunsterziehung. Einen Streitpunkt stellte dabei oft die Diskussion der Frage dar, ob ein eigentliches Fach geschaffen oder das Medium ‹Spiel› in den Kontext der umliegenden Fächer eingebunden werden sollte.

Immer wieder spielte Theater in den schulischen Alltag hinein, blieb aber letztlich doch Spezifikum, Sonderfall und Ausnahme: Theater für besondere Anlässe also, obwohl schon früh unbestritten war, dass gerade das theatrale Spiel zu den menschlichen Urbedürfnissen gehört und auch sein sozialer und kommunikativer Wert nie infrage gestellt wurde.

Dies änderte sich auch in den 1950er-Jahren nicht, als erneut Bestrebungen im Rahmen der musischen Erziehung aufkamen und ein Fach ‹Schulspiel› auch als Chance der ‹Gesittung› und Rückbesinnung zu den alten Grundwerten gefordert wurde. Diese weit gefasste Auslegung des Musischen schloss aus, dass Theater in der Schule bloss ein Fach sein konnte. Theater war Erziehungsprinzip. (Hesse (2008), S. 41)


Grundsätzlich drehte sich die Diskussion immer wieder um die Frage, ob Kunst und künstlerischer Ausdruck instrumentalisiert werden dürften, ob also Theater als Erziehungsmittel, zur Vermittlung von ‹Gesittung› und Werten benutzt (bzw. missbraucht) werden dürfe. Die Diskussion, ob Theaterpädagogik sozialen, pädagogischen und/oder ästhetischen Zielen dienen solle, ist auch heute noch nicht abgeschlossen.

Zur weiteren Vertiefung in das Thema der historischen Entwicklung des Schultheaters sei auf die – mehrheitlich auf Deutschland bezogene – Publikation ‹Zukunft Schultheater – Das Fach Theater in der Bildungsdebatte› (Jurke & Reiss (Hrsg.) (2008)) verwiesen.

Pädagogische Bedeutung

Aktives Theaterspielen hat aus fünf Gründen fundamentale pädagogische Bedeutung:

–Erstens eröffnet das Spiel mit den Fiktionen und den Möglichkeiten auf inszenatorischer, performativer und semiotischer Ebene höchst komplexe Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten, die nur im Theater und in keiner anderen Kunstform (und schon gar nicht in den Wissenschaften) gewonnen werden können.

–Zweitens eröffnet dieses Spiel auf einer Meta-Ebene Erfahrungen mit dem Bildungsprozess selbst, also die Erfahrung der Möglichkeit von Bildung als Bildung, und das heisst zugleich: der Möglichkeit der Gestaltung von Ich und Welt in ihrer gerade nicht kalkulierbaren, kontingenten und genau dadurch bildenden Wechselwirkung.

–Drittens integriert Theater als «unreine» Kunstform Sprache, Musik, bildende Kunst, Video, Medien, Sport, Tanz etc. Die damit verbundene inhaltliche und kulturelle Komplexität und genuine Interdisziplinarität bietet kein anderes Schulfach.

–Viertens erfordert die Kunstform Theater für ihr Gelingen eine strikte Aufgabenorientierung und damit eine Fülle unterschiedlichster Fähigkeiten und Fertigkeiten, die hier gleichsam nebenbei erworben werden und erworben werden müssen.

–Fünftens eröffnet die Kunstform Theater Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Spiel als einer anthropologisch und kulturell fundamentalen Dimension menschlicher Existenz. Damit kommt ihm zentrale Bedeutung für die Bildung insgesamt zu.

(Liebau (2008), S. 22)


1.8 TRENDS

Parallel zur Entwicklung und Veränderung pädagogischer Ansätze veränderte sich auch das Schulspiel. Während es bis in die 1950er-Jahre meist ein Vorzeigetheater war, nicht selten auch verbunden mit erzieherischen Absichten hinsichtlich Teamgeist und Konzentration, Sprachfertigkeit und Körperkontrolle, bis hin zur Verbindung auch mit Wertevermittlung und gesellschaftlichen Vorstellungen, sprengten auch da die 68er-Jahre die allzu gestrengen Ansätze und Musterschul-Vorstellungen eines wohl etwas steif verstandenen Schul-Theaters, eines da und dort vorherrschenden Verständnisses als Schön-Sprech-Guckkasten-Bühne nach grossem Vorbild.

Theaterpädagogik hat also einerseits Wurzeln bei den grossen Lehrmeistern und Schauspieltheoretikern, zum andern ist die Entwicklung aber auch Spiegel der politischen Verhältnisse und der damit einhergehenden pädagogischen Ausrichtungen.

Nachdem sich die anfängliche Euphorie eines aufklärerisch-emanzipatorischen Theaters gelegt hatte und deutlich geworden war, dass weder ein fundamentaler Wandel noch ein neues Menschsein die Folge waren, richtete sich der Fokus der späten 1980erund der 1990er-Jahre mehr auf das Individuum. Das Kollektiv, die neue politische Generation, hatte sich nicht zu etablieren vermocht. Viele gutgemeinte Ideen und Antworten auf das Weltgeschehen schienen gescheitert, die Antworten waren zu einfach, zu eindimensional und vermochten die Probleme nicht zu lösen. Der Mensch schien weniger einheitlich, die Gesellschaft heterogener, das Handeln individueller und biografisch geprägter, als dass es sich so einfach formen und beeinflussen liesse.

Dies wurde denn auch mehr und mehr der Fokus von Theater: Biografisches, Anekdotisch-Eigenes wurde auf die Bühne gestellt, im Zentrum standen nunmehr das Individuum in der Gesellschaft, die Suche nach der Persönlichkeit, nach der Unverwechselbarkeit. Geschichten standen im Mittelpunkt, die individuelle Erzählung, das subjektive Erleben und Empfinden, das Glücklich-Werden oder das Scheitern an und in der Welt – kurz: die Unverwechselbarkeit des Individuums, das, was es auszeichnet als anders, als eigen, als Unikat.

Das Erzähl-Theater war en vogue, und es war das Schweizer Kinder- und Jugendtheater, das europaweit als beispielhaft galt: Subjektive, märchenhaft-versponnene Geschichten, verschrobene Figuren, Einzelkämpfer und Träumer, Wortlose oder skurril Verspielte bevölkerten die Bühnen; zentrale Themen waren die Hilflosigkeit des Einzelnen im Getriebe der Welt, das Individuum im Kampf ums Überleben, das Fehlerhafte, das Unperfekte als Attribut des Persönlichen.

Entsprechend der Entwicklung im Theater für junges Publikum waren auch die Arbeiten im Bereich Schultheater: Man machte sich auf die Suche nach der eigenen Geschichte, der eigenen Herkunft, folgte dem Pfad der Eigen- und Besonderheiten, die Erzählung rückte ins Zentrum, Rolle und Figur traten in den Hintergrund. Geschichten wurden überhöht und verdichtet, wurden abstrahiert und anekdotisch, reale Figuren und ihre Erlebnisse waren im Fokus. Theater wollte Geschichten erzählen von Menschen ‹wie du und ich›. Spielen wurde zur Chance zu wachsen, sich selber kennenzulernen, sich auszudrücken, seine Fantasie und Kreativität zu entdecken und zu entwickeln, den Mut zu finden vorne zu stehen, selbstsicher, seiner selbst gewiss, mit all seinen Schwächen und Verletzbarkeiten, mit all seinen Mängeln und Borniertheiten. Theater als Ort der individuellen Stärkung, als Ort des wachsenden Selbstvertrauens. Oder, wie Weintz es umschreibt: «Ablehnung (übertriebener) pädagogischer Instrumentalisierung des Theaters und (Wieder-) Entdeckung seiner ästhetischen Qualitäten.» (Weintz (2004), S. 284)


In diesem Prozess verloren die Stücke ihren Appell-Charakter, es war das reale Leben, das die Geschichten schrieb und scheitern war genauso möglich wie reüssieren. Der Glaube an die einfachen Lösungen war obsolet geworden, das Leben wurde als komplexer und letztlich verworrener erkannt. Offene Enden von Stücken regten an, die Geschichten selber weiter zu denken; der Verzicht auf Wertung sollte Chance zur eigenen Entscheidung sein.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wandte sich das erzählerische Spiel mit Geschichten und Figuren noch stärker der aktuellen Ästhetik des Theaters zu. Technische Medien wie der Einsatz von stimmlicher Verstärkung oder Verzerrung und Projektionen von Bildern und Videos erweiterten das Bühnengeschehen. Die neue Ästhetik beeinflusste die Disziplin: Die Auflösung der traditionellen Inszenierung, die Versuche postmoderner Dramatik, die szenischen Realisierungen der neuen Regie-Generation der ‹Stücke-Zertrümmerer›, das Aufkommen performativer Formen, der Einbezug des Publikums in die szenische Handlung, die Entdeckung neuer Spielstätten – unterwegs, mitten in der Öffentlichkeit, im Quartier, in einer Villa, einer leerstehenden Fabrik, auf einer Brücke –, das Sprengen der Konventionen und Seh- und Hörgewohnheiten, die Vermischung von Fiktion und Realität. All diese Experimente und die experimentelle Verspieltheit beeinflussten auch die Theaterpädagogik – und umgekehrt: Leute wie Marthaler oder Häusermann, die über die Arbeit in der freien Szene zu den grossen Theatern gefunden und damit auch Formen des Laientheaters ins professionelle Theater eingebracht hatten, sprengten die gängigen Formen. Die Einflüsse wurden mehr und mehr wechselseitig, ebenso die Durchmischung von Profis und Laien, von Theater und Nicht-Theater, von Theater und Performance.

Mehr und mehr wurden denn auch Bereiche wie die schulische Theaterarbeit wieder unter den Fokus von Theater und Ästhetik gestellt, die Auseinandersetzung mit Formen und Darstellungsweisen wieder zentraler, die Aufführung wichtiger als der Gruppenprozess, die pädagogische Einflussnahme zweitrangig bis verpönt.

Theaterpädagogen und -pädagoginnen wollen also ästhetisch ansprechende, eigene, den Möglichkeiten der Mitspielenden entsprechende Wege beschreiten und eigene Formen einbringen. Wenn dabei auch Persönlichkeitsentwicklung und Gruppendynamik eine positive Einflussnahme haben, so wird dies als ‹Nebenprodukt› gerne in Kauf genommen. (Hentschel (2007), S. 5; vgl. auch Lenakakis (2004), S. 40 ff. und Weintz (2008), S. 284 ff.)

1.9 ZUSAMMENFASSUNG

Theaterpädagogik entspringt nicht stammbaumgleich einer Wurzel, aus der sie sich linear entwickelt hat. Vielmehr sind etliche Ursprünge auszumachen, die z. T. weit in die humanistische Schulspieltradition genauso wie in die religiös-christliche (Fest-)Spieltradition und das damit eng verknüpfte Laienspiel zurückreichen. In ihrer Begrifflichkeit eingeengt hat sich Theaterpädagogik zu Beginn des 20. Jh. im Rahmen reformpädagogischer Bestrebungen und der Nutzbarmachung des Spiels als moralische Instanz und Medium der Tradierung ‹höherer Werte›.

Bis in die 1960er-Jahre wurden Spiel und Theater als Chance und Teil einer musischen Bildung proklamiert – je nach Standpunkt mehr oder weniger stark im Sinne einer aktiv-gestalterischen Nachahmung der Kunstform oder als Eigenerfahrung mit kreativkünstlerischer Ausrichtung; in beiden Fällen aber doch mit der übergeordneten Tendenz, Theater als Kunstform und Kunst als Wertschöpfung im Sinne eines Traditionsaufbaus und einer Wertschätzung zu etablieren.

Nach Jahren einer Schulspieltradition, die sich stark an einem klassikerorientierten Theater ausgerichtet und für das Schulspiel die sterile Imitation von professionellen Produktionen zur Folge hatte, verselbstständigte sich die Theaterpädagogik gegen Ende der 1970er-Jahre: Im Zuge der Entwicklung des emanzipatorischen Kindertheaters etablierte sich eine Spiel- und Interaktionspädagogik, die sich vom Theater als Form abkehrte und sich mehr dem Spiel als politischem und persönlichem Bildungsmittel zuwandte und dabei den Prozess und die im Prozess gemachten Erfahrungen ins Zentrum stellte.

Erst in den 1980er-Jahren kam es wieder zu einer Hinwendung zu ästhetischen Fragen und formalen Aspekten auch des Schultheaters. Im Rahmen von szenischen Erzählungen, der Suche des Eigenen und der Unverwechselbarkeit, wurden zugleich die Darstellungsformen und die experimentellen Versuche vielfältiger; auch darin spiegelte sich die Entwicklung im Regietheater bzw. in der Suche nach eigenen Formen im Bereich der Freien Szene; dies u. a. auch mit der Auflösung von Grenzen bezüglich Aufführungsräumen oder der Vermischung von Aktion und Spiel, von Realität und szenischer Behauptung. Statt von Darstellendem Spiel wird nun von Theaterpädagogik gesprochen; das Theater rückt wieder verstärkt in den Fokus. Daran nicht unbeteiligt sind sicher auch die inzwischen entstandenen Ausbildungsstätten für theatervermittelnde Berufe.

Seit Beginn des neuen Jahrtausends steht eine grosse Vielfalt von Formen und Herangehensweisen nebeneinander. Mehr und mehr etabliert haben sich auch in der Theaterpädagogik performative Formen wie Installationen, partizipative Formen, Performing Acts etc. Neu wird also Bedeutung nicht über ein ‹als ob› erreicht, sondern durch den konkreten und unmittelbaren Vollzug von Handlungen und die damit verbundene Konstituierung von Bühnenwirklichkeit (vgl. Hentschel (2007), S. 5). Nach Schulspiel und musischer Bildung, nach emanzipatorischer Bildung und Darstellendem Spiel ist heute der Begriff der ‹ästhetischen Bildung› gebräuchlich.


Geblieben aber sind die drei Grundmotivationen theaterpädagogischer Arbeit, die mit unterschiedlicher Gewichtung in dieselbe einfliessen: «Entsprechend ihrem Begründungszusammenhang lassen sich drei Arten theoretischer Legitimation unterscheiden (vgl. Kaiser 1984), die in den diskutierten Ansätzen nicht immer isoliert, in «Reinform» und überschneidungsfrei auftreten. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, eine operationale Unterscheidung zu treffen:

1.Die anthropologische Begründung, die davon ausgeht, dass der Bereich Spiel und Theater wesensmässig zum Dasein des Menschen gehöre und damit als unverzichtbarer Bestandteil bzw. Inbegriff der menschlichen Bildung anzusehen sei.

2.Die kulturpädagogische Begründung, wobei der Begriff «kulturpädagogisch» hier im Sinne der geisteswissenschaftlichen Pädagogik als Weitergabe der in den Bildungsgütern bewahrten kulturellen Werte an die nächste Generation verstanden wird. Nach diesem Verständnis geht es um eine Erziehung zur Kunst, konkret zum Verständnis der dramatischen und theatralen Kunst.

3.Die sozialisationstheoretische Begründung, die das Subjekt des Bildungsprozesses und seine für zukünftiges gesellschaftliches Handeln notwendigen Qualifikationen in den Mittelpunkt stellt und theaterpädagogische Methoden als Mittel ansieht, den Menschen mit diesen Qualifikationen auszustatten. Diese Auffassung lässt sich auf die Formel der «Erziehung bzw. Bildung mittels Theater» bringen.»

(Hentschel (2010), S. 123)

LITERATUR

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Studienbuch Theaterpädagogik (E-Book, Neuausgabe)

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